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Der Wind des Geistes

Auf diesen wichtigen und bekannten Titel von Dr. Gottfried de Purucker haben viele gewartet. Wind des Geistes appelliert voller Kraft an den Menschen, seine eigene inspirierte Vision für sein Leben zu suchen. Dr. Gottfried de Purucker zeigt, wie die Winde der Veränderung durch das Bewusstsein der Welt fegen, erstarrtes Denken hinwegreißen und Raum schaffen für einen neuen Frühling des Wachstums. Indem er uns daran erinnert, dass wir nicht nur einen physischen Körper besitzen, sondern auch eine Psyche und vor allem eine spirituelle Natur, weitet er unsere Perspektive über das zeitalterlang heilige Wissen und bietet klare Anweisungen für eine sinnvolle Lebensführung. Vor allem fordert der Autor den Leser zu mehr Mitleid und gegenseitigem Verstehen auf, um so nicht nur das eigene Leben zu verändern, sondern – in fernen Zeiten – auch die Bestimmung von Nationen.

Der Wind des Geistes, stürmisch und kalt, ist erfüllt von Hoffnung, weil er das Bewusstsein unserer gemeinsamen Ziele als Menschheit in sich trägt. "Universale Bruderschaft – nicht als bloßer, vager Sentimentalismus verstanden, sondern im Sinne der Anerkennung der menschlichen Solidarität als Ausdruck der Gesetze der Natur – ist der Schlüsselton einer jeden wirklichen Zivilisation und ohne sie kann keine Zivilisation bestehen."

Wind des Geistes ist eine Sammlung von Aufsätzen, Ansprachen und Stellungnahmen zu den verschiedensten Themen. Dieses Buch kann auch als Nachschlagewerk für bestimmte Fragen des täglichen Lebens genutzt werden.

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Vollständige deutsche Übersetzung von „Wind of the Spirit“, Theosophical University Press, Pasadena, Kalifornien, zweite, überarbeitete Ausgabe, Copyright © 1984
Übersetzung: Theosophischer Verlag GmbH, 1995. © Theosophischer Verlag, Verlag der Theosophischen Gesellschaft Pasadena


Vorwort

„Der Wind des Geistes, der über die Erde weht, stürmisch, kalt und bissig, wie es uns empfindsamen Menschen scheint, ist nichtsdestoweniger der Wind des Geistes“ – dies war das Leitthema einer Ansprache, die Gottfried de Purucker im Jahre 1940 hielt. Die Überschrift des einleitenden Kapitels sowie der Titel des vorliegenden Buches beziehen sich darauf. Der Verfasser ermuntert uns, die Welt der äußeren Erscheinungsformen zu durchschauen und hinter den Zeiterscheinungen das Ewige zu sehen, denn in der gegenwärtigen Unruhe verkörpert sich „Kraft, spirituelle Kraft“.

Seit diese Worte vor einem halben Jahrhundert gesprochen wurden, wehten die Winde des Schicksals heftig, gelegentlich mit steifer Brise. Kaum eine Nation oder Rasse, kein Mensch, nicht einmal Mutter Erde selbst mit ihren vielfältigen Lebensbereichen blieben von karmischen Veränderungen verschont. Doch aus dem Leid und der Zerrissenheit rückt eine neue Weltsicht, eine neue und größere Vision von der Rolle der Menschheit im kosmischen Drama in den Mittelpunkt unseres Interesses. Trotz verbreiteter, subtiler, gelegentlich auch plumper Selbstsucht wächst die Ausübung des Altruismus als geistiger Gegenimpuls und gewinnt an Bedeutung.

Im Verlauf seiner Tätigkeit als Leiter der Theosophischen Gesellschaft (1929-1942) hielt Dr. de Purucker während vieler Jahre in Europa und in den Vereinigten Staaten eine Reihe von Vorträgen, welche die vielfältigen Aspekte der Theosophie zum Inhalt hatten. Sie bilden die Grundlage seiner umfangreichen Bücher. Das Buch Der Wind des Geistes unterscheidet sich davon. Aus der scheinbar zufälligen Zusammenstellung von Bemerkungen, die er öffentlich oder in privaten Zusammenkünften machte, aus Briefauszügen oder einzelnen Hinweisen, die er Schülern gab, geht erneut hervor, wie ungeheuer praktisch die Theosophie ist. Natürlich enthalten diese Hinweise viel Belehrung – wie könnte es auch anders sein; so profund war seine Kenntnis des spirituellen und literarischen Erbes der Welt. Der Wert des Buches liegt jedoch in der Fähigkeit de Puruckers, auf die menschliche Not eine klare und direkte Antwort zu geben. Obwohl sich der Autor den menschlichen Schwächen gegenüber immer mitleidsvoll zeigt, fordert er uns dennoch beständig auf, unseren inneren Seelenadel zu manifestieren. So war es verständlich, daß sich Der Wind des Geistes, im Jahre 1944 erstmalig publiziert, zwei Jahre nach dem Tod des Autors, der sofortigen Wertschätzung erfreute.

In der vorliegenden Ausgabe wurden die im Erstdruck enthaltenen, etwas formal erscheinenden acht Vorträge weggelassen, da die behandelten Themen vom Autor vielfach auch an anderen Stellen erörtert wurden. Abgesehen davon wurden nur kleine Überarbeitungen der Texte vorgenommen, um die Lebendigkeit des gesprochenen Wortes hervorzuheben. Als Hilfe für den Leser wurde ein Index und ein Glossar der philosophischen Ausdrücke angefügt. Beide wurden von Ingrid Van Mater erstellt.

Das Buch schließt mit der Rede, die Dr. de Purucker eine Woche vor seinem Tod hielt: „Aham Asmi Parabrahma“, d. h. „Ich bin Parabrahma, das Grenzenlose.“ Dies war das Alpha und Omega seines Lehrauftrages. Er erinnerte uns immer wieder daran, daß im Herzen jedes Menschen, in der Tat in jedem Atom im Kosmos, eine lebende Gottheit wohnt. „Denkt darüber nach, was es bedeuten würde, wenn jeder Mensch auf Erden von der Wirklichkeit dieser kosmischen Wahrheit vollkommen überzeugt wäre! Niemals mehr würde sich eine Hand des Menschen gegen einen Mitmenschen erheben. Immer wäre es die ausgestreckte Hand der Hilfeleistung und der Bruderschaft. Da ich mein Bruder bin – sind wir in unserem Innersten eins.“

GRACE F. KNOCHE

21. Juni 1984

Pasadena, California

Der Wind des Geistes

Eine Sache lernte ich bereits als Kind. Ich lernte sie gut, und sie wurde seitdem eine meiner besten Freunde: es ist die Einsicht, daß ich aus allem etwas lernen kann, und daß jeder Tag in meinem Leben verloren ist, den ich verstreichen lasse, ohne mich zu bemühen, meinen Weisheitsschatz zu vermehren und mein inneres Leben zu erweitern und zu vertiefen, wie klein der Ertrag auch sein mag. Zu viele von uns schlafen; wir schlafen und träumen. Wir träumen Träume, und allzuoft sind diese Träume schlechte Träume, weil sie aus unserem niederen persönlichen, leicht selbstzufriedenen Ego emporwallen. Andere von uns jedoch träumen Visionen unvergleichlicher Schönheit – und ich meine nicht nur solche von physischer Schönheit, sondern von Schönheit jeglicher Art: von spiritueller Schönheit, intellektueller Schönheit, ja selbst von Schönheit der uns umgebenden wunderbaren Natur. Und jede neue Vision eines solchen Wunders erweckt uns gleichermaßen. Oh, wie wir schlafen und vergessen haben, was wir sind und welcher Reichtum um uns ist, der uns gehört, wenn wir nur wollen! Denn dem steht nichts im Wege außer dem eigenen Ich. Niemand ist so blind wie jene, die sich weigern zu sehen; niemand ist so taub wie jene, die sich weigern zu hören. Andererseits ist niemand so weise wie derjenige, welcher jeder neuen Erfahrung im wunderbaren Abenteuer des Lebens mit dem Gefühl begegnet: hinter dieser Erfahrung steht ein Engel für mich bereit. Ich muß ihn entdecken, ich muß lernen, was der engelhafte Bote mir zu sagen versucht. Jede Erfahrung ist so.

Das Großartigste, was Theosophie für uns vollbringt, ist meiner Meinung nach, daß sie die Schleier von unseren Augen nimmt und unsere Ohren öffnet, so daß wir beim Sehen etwas mehr sehen und beim Hören etwas mehr hören; bis wir schließlich anfangen zu hören, was die Stille uns sagt – die Stimme der Stille, die für uns die bedeutendste, reichhaltigste und weisheitsträchtigste Stimme ist. Theosophie wäre nur eine Farce, nur ein Flitterwerk, wenn sie uns nicht aus uns selbst erwecken und uns zu mehr machen würde, als wir waren. Das ist ihr einziges Ziel; und das ist der wahre Grund, warum wir sie studieren: um immer erleuchteter, ein wenig größer und ein bißchen empfänglicher zu werden.

Gerade hier erkennen wir den Unterschied zwischen Tier und Mensch. Das Tier sieht und weiß nichts, begreift nichts. Der Mensch sieht und versteht ein wenig, und der Meister sieht und hört, und die Botschaft wird ihm in ihrer ganzen Tragweite bewußt. Und die Gottheit, der Schöpfer dessen, was wir sehen und hören, muß, wie alle Götter, ihr Licht aus noch erhabeneren Welten, Ebenen und Sphären des universalen Lebens empfangen.

Wenn wir uns vor Augen halten, was gegenwärtig in der Welt passiert, müssen wir erkennen, daß es sich um kein zufälliges Ereignis, um keine planlose oder willkürliche Begebenheit, nicht um blinde Schicksalsschläge handelt, sondern um die Entwicklung der kommenden Ereignisse. Wir müssen erkennen, daß hinter diesen Ereignissen eine Macht, eine spirituelle Macht, eine spirituelle Kraft steht. Sie wird alles zu einem bereits vorbestimmten und erhabenen Ende ausarbeiten. Denn trotz der Agonie und Niedergeschlagenheit, die wir in unserer Blindheit fühlen, ist es der Wind des Geistes, der über die Erde fegt, neuordnend, neuschaffend und neugestaltend. Die aufkommenden Ängste und Sorgen haben ihren Ursprung allein in uns selbst. Blind, wie wir sind, wollen wir nicht in den majestätischen Prozeß der Natur eintreten, um ihr zu helfen, sondern wir widersetzen uns ihr; und weil wir uns ihr widersetzen, leiden wir.

Man mag argumentieren: „Ach, wir wissen nicht, wie wir in Übereinstimmung mit den Naturgesetzen handeln können!“ Aber diese Behauptung ist nicht wahr. Sie ist eine Lüge, denn den Menschen wurde seit undenklicher Zeit gelehrt, daß Recht Recht ist, Gerechtigkeit Gerechtigkeit und Unrecht Unrecht. Können wir zwischen dem Recht und dem Unrecht wählen? Gerade hier beginnt die Schwierigkeit. Nicht, daß sie an sich vorhanden wäre, aber wir erzeugen sie. Es ist falsch, Gewalttätigkeit und Gewalt anzuwenden – das erste Gebot lautet: „Du sollst nicht töten.“ Wer dieses Gesetz verletzt, bringt sich selbst in Opposition zu den Abläufen der Natur. Sogar in alltäglichen Dingen erkennt das der menschliche Genius; und das zeigt sich heute schon in unseren Systemen der Rechtswissenschaft – wahrlich ein Fortschritt. Denn für jemanden, der sich für ein ihm zugefügtes Unrecht rächen möchte, erscheint es nicht länger logisch, seinen Feind ausfindig zu machen und ihn in ein tödliches Duell zu verwickeln. Wir machen Fortschritte, denn es gab einmal eine Zeit, in der man sich weigerte anzuerkennen, daß es so etwas wie menschliche Ehre gibt und Menschen einem schändlichen Scherbengericht aussetzte. Unsere Ideen haben sich erweitert. Würde heutzutage irgend jemand auf der Welt die Behauptung wagen, daß Gewalt der einzige Weg zur Beilegung von Konflikten ist, wenn das Unrecht zu triumphieren scheint?

Der Weg, Streitigkeiten beizulegen, besteht darin, Vernunft walten zu lassen und sich zu weigern, etwas anderes, weniger Bedeutsames als diese anzuwenden. Denn wer zum Schwert greift, wird, wie der Avatāra Jesus sagte, durch das Schwert umkommen. Vielleicht nicht unmittelbar, aber im Verlauf der Zeit. Streitigkeiten werden gerechterweise auf der Grundlage von Vernunft und Recht beigelegt, niemals mit harter Hand und Gewalt.

Wir fragen, weshalb wir leiden. Wir möchten wissen, warum gerade wir in diese Dinge verwickelt wurden. In Unkenntnis unseres Höheren Selbst und mangels eines unerschütterlichen Vertrauens in die ewigen Gesetze des kosmischen Lebens ergreifen und übernehmen wir selber die Pflichten des Rächers. Welcher Mensch weiß genug, um einen anderen Menschen zum Schafott verurteilen zu können? Diese Prinzipien sind so weit anerkannt, daß keine zivilisierte Nation heutzutage diese Strafe empfiehlt. Sie alle wollen Gerechtigkeit, sie alle wollen ihren Verstand gebrauchen. Warum wenden sie ihn dann nicht an? Und, falls sie ihn benützen, warum bleiben sie nicht dabei? Man muß sich mit den Tatsachen auseinandersetzen, wenn man die Ursachen des Leidens und der Seelenangst, des Schreckens und der entsetzlichen Entbehrungen, denen wir ausgesetzt sind, kennenlernen will. Es ist weder ein außer- noch ein innerkosmischer Gott, der uns, seinen blinden Kindern, diese schrecklichen Dinge auferlegt hat. Wir selbst sind es.

Ich predige keine Lehre des unlogischen Pazifismus in dem Sinn, daß man sich allem widerstandslos unterwerfen muß, denn die Gesellschaft muß sich selbst schützen. Aber sie sollte sich mit Mitteln schützen, die sich als nationale und internationale Gesetze bereits bewährt haben und die zu halten sich die größten und vor allem die zivilisiertesten Nationen auf Erden bereits vor Jahren ehrlich und getreulich verpflichtet haben. Wenn jedoch der Bewährungsfall eintritt, dann heißt es: „Oh nein, das ist eine Sache der nationalen Ehre. Wir werden es selbst in die Hand nehmen!“ Erst wenn die schweren Schicksalsschläge herniederprasseln, Glück und Ehre dahin geschwunden sind und Not und Elend durch unsere Straßen schleichen, dann schreien wir zum Himmel und fragen: „Was habe ich getan, daß dies alles auf mich hereinstürzt?“ Gäbe es keine Mittel für Sicherheit und die Durchsetzung des Rechts, dann läge der Fall anders. Aber es gibt Mittel, anerkannte und akzeptierte Mittel, die die Staatsmänner unserer Welt in Paktverträgen feierlich beschlossen haben.

Der Wind des Geistes, der über die Erde weht, stürmisch, kalt und scharf, wie es uns empfindsamen Menschen scheint, ist nichtsdestoweniger der Wind des Geistes, und er wird die Nebel und Illusionen zerstreuen. Die Menschen werden endlich wieder Frieden finden, himmlischen Frieden und Wohlstand und Selbstachtung.

Während unsere Herzen stöhnen – und wir wären unmenschlich, wenn unsere Herzen nicht über die Vorkommnisse, die unsere menschlichen Brüder überall erdulden müssen, aufschreien würden – ist es trotzdem gut, sich daran zu erinnern, daß hinter dem Leid ein Lernprozeß steht, und daß nach den gegenwärtigen Ereignissen ein neuer Morgen heraufdämmert. Laßt uns alle, nicht nur als Theosophen, unseren Teil dazu beitragen und mithelfen, dem neuen Tag zur Geburt zu verhelfen, damit wir erkennen, wie falsch es ist, Gewalt anzuwenden. Nur dann kann der Sieg der Gerechtigkeit und der Vernunft durchgesetzt werden, und echtes Mitgefühl wird unter uns und um uns sein. Wenn nicht, wird uns etwas noch viel Schlimmeres ereilen als das, was wir gerade durchzustehen haben. Und diesem Schlimmeren werden immer noch schlimmere Ereignisse folgen, bis zu den Ruinen unserer Zivilisation, und bis unsere zivilisierte Welt in Flammen und Blut verschwunden sein wird.

Jene unter uns, die empfänglich genug sind, die Handschrift an der Wand zu lesen, sollten besser erwachen.

MENE MENE TEKEL UPHARSIN!
Gewogen, gewogen, zu leicht befunden – die Perser!

Die Tragödie der Welt besteht darin, daß die Menschen ihr Vertrauen in eine immerwährende spirituelle Kraft in unserer Welt verloren haben und die Vernunft uns verlassen hat. Unser gesamtes Universum ist lediglich eine Erscheinung, eine äußere Schale, ein physischer Körper, in dem sich die gewaltigen Kräfte, die sich auf der anderen Seite des Schleiers der Natur befinden, manifestieren. Kein Mensch, kein Halbgott und kein Gott kann sich diesen Kräften widersetzen oder entgegenstellen, ohne dafür zu büßen. Die Welt wird durch Gesetz regiert, und früher oder später werden die Götter von ihren azurnen Sitzen herabsteigen. Wir werden es erleben, daß sie als Boten von Glück und Frieden zu uns kommen und nicht mit flammenden Schwertern, um die Vernichtung der Unschuldigen zu rächen.

Sie mögen mir antworten: „Sie predigen, nachdem es bereits passiert ist!“ Aber das ist nicht wahr, denn Schlimmeres wird kommen, ehe wir uns versehen. Diese Zusammenhänge wurden der Menschheit seit undenklichen Zeiten erläutert. Der Mann, der sagte: „Gott und ich bilden eine Majorität gegen die ganze Welt“, war kein glühender Egoist – wenn wir die Bedeutung richtig verstehen.

Ich fühle mich gedrängt, vom Wind des Geistes zu sprechen, der über die Erde weht. Er wird alle falschen Lichter löschen. Die wahren und heiligen Lichter werden jedoch heller leuchten und fortdauern. Doch richtet nicht! Es wird nicht alles an einem Tag vollbracht. Vielleicht dauert es fünfzig Jahre, bis wir endlich etwas von der inneren Bedeutung dessen begreifen, was jetzt auf uns zukommt: des Guten und Schlechten, des Hohen und des Niedrigen, der Gefühle in all ihren Höhen und Tiefen. Doch das, was ich den Wind des Geistes nannte, ist im himmlischen Sinne vorausschauend. Er ist der Geist der Erde, wenn man so will, und er funktioniert äußerst präzise. All das, was groß und selbstlos ist, wird leben. Was jedoch falsch und voller Selbstsucht ist, wird der Wind nicht nur zum Einsturz bringen, sondern möglicherweise gänzlich vernichten. Legen Sie Ihr ganzes Vertrauen in die göttliche Kraft, die hinter der Natur wirkt! Leben Sie in Übereinstimmung mit ihr, dann wird die Natur Sie als ihren Mitarbeiter betrachten, Sie als ihren Meister betrachten und sich vor Ihnen verbeugen. Wer Ohren hat zu hören, der höre!

Das Erbe des Menschen ist der Mensch selbst

Das Erbe des Menschen ist der Mensch selbst. Jeder Mensch ist sein eigener Baumeister und auch sein potentieller Vernichter. Jeder Mensch ist sein eigener Erneuerer und Erretter, und jeder Mensch zerstört das Werk, das er vielleicht seit Äonen in der Vergangenheit selbst geschaffen hat. Diese Feststellung mag geheimnisvoll und schwer verständlich klingen, wie ein dunkler Ausspruch. Und doch frage ich mich, wie irgend jemand eine so selbstverständliche Wahrheit bezweifeln könnte. Ist es nicht ganz klar, daß ein Mensch genau das ist, was er ist; und daß das, was er ist, die Summe seiner früheren Leben ist, das Resultat seiner Gedanken und seiner Gefühle, das Ergebnis seines früheren Wollens, Denkens und Fühlens. Wir machen uns selbst, wir formen unseren eigenen Charakter.

Dies ist eine der Binsenwahrheiten menschlicher Erfahrung. Denken Sie aber darüber nach, was es bedeutet, wenn dies voll erfaßt wird. Wir gestalten unser Dasein von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr, von Leben zu Leben, entweder harmonisch oder sehr häßlich. Für letzteres kann niemand anderem die Schuld zugeschoben und für ersteres kann niemand anderer gepriesen werden, außer der Betreffende selbst. Überlegen Sie, wie gerecht dies ist! Wir haben keinen, niemanden außer uns selbst zu tadeln, wenn wir uns mißgestaltet und häßlich und voll Sorge und Pein geschaffen haben; und niemand außer uns selbst ist zu preisen, wenn unser Dasein durch unsere eigenen Anstrengungen geordnet und bewundernswert harmonisch wird. Der Mensch kann seinen Charakter durch sein Denken ändern, wodurch sich seine Seele ändert, wodurch sich sein Schicksal ändert und wodurch sich alles ändert, was er gegenwärtig ist und in Zukunft sein wird. Weshalb beschuldigen wir die schuldlosen Götter für unsere eigenen Fehler, uns nach Mustern geschaffen zu haben, die wir selbst prägten? Es ist die alte Geschichte vom „Sündenbock“ – ein Wort der Umgangssprache, aber wie bezeichnend! –, der gefunden werden muß, um die Schuld einem anderen zuschieben zu können. Das ist der sicherste Weg, abwärts- statt aufwärtszugehen; denn die Erkenntnis der Wahrheit und der Gerechtigkeit und das Erkennen der Verantwortung eines Menschen für sich selbst, sind die ersten Schritte auf dem aufwärtsführenden Pfad; und welche große Hoffnung liegt hierin! Denken Sie an die Fehler, die wir in der Vergangenheit machten; an das Unrecht, das wir anderen und uns selbst zufügten. Nur die Hälfte der Geschichte ist erzählt, wenn wir sagen, daß wir uns selbst gemacht haben und daß wir selbst für uns verantwortlich sind; die andere Hälfte der Geschichte besteht in dem, was wir anderen zufügten: wie wir geholfen haben, daß sie ihr Leben schön gestalteten oder ihr Leben auf häßliche Weise mißgestalteten.

Diese Erkenntnis der Verantwortung des Menschen nicht nur sich, sondern auch anderen gegenüber, ist der verlorene Grundton der modernen Zivilisation, die von der Idee geblendet zu sein scheint, daß sich die Dinge selbst regeln werden und daß alles, was die Menschen tun müssen, darin besteht, so viel wie möglich aus der sie umgebenden Atmosphäre herauszuholen. Ich halte das für eine höllische Lehre, aus der nur Elend geerntet werden kann. Lassen Sie einen Menschen sich darüber klarwerden, daß er ein Mensch ist, und daß er, was er sät, ernten wird, und daß er, was er erntet, selbst gesät hat, und dann beobachten Sie, wie das Antlitz der Welt verändert werden wird. Jeder Mensch wird dann nicht nur äußerst sorgfältig darauf achten, wie seine eigenen Handlungen, die der Spiegel seiner Gedanken und Gefühle sind, als erstes auf ihn selbst wirken, sondern, was vielleicht noch wichtiger ist, wie sie auf andere einwirken. Ich halte das Fehlen dieses Gefühls der individuellen Verantwortung und der Verantwortung der Allgemeinheit in der heutigen Welt für die Ursache der vielen, vielen Greuel, die immer schlimmer werden, statt besser. Es fördert den Glauben, daß Gewalt ein Unrecht in Ordnung bringen kann. Das kann sie niemals. Gewalttätigkeit wurde nie durch weitere Gewalt unwirksam gemacht. Nie wurde ein Problem auf diese Art gelöst. Gewalt verstößt gegen die Gesetze des Seins, gegen die Gesetze der Dinge, wie sie sind. Denken Sie es zu Ende, und Sie werden es selbst erkennen.

Was ist des Menschen Erbe? Ich sage es nochmals: es ist der Mensch selbst. Ich bin ich, weil ich mich in anderen Leben schuf. Wie schäme ich mich gelegentlich über mich selbst, daß ich mich nicht weiser und besser und vorzüglicher und in jeder Hinsicht edler gemacht habe. Und wie segne ich die leisen Eingebungen der Göttlichkeit in meinem Herzen, daß ich sagen kann, ich bin nicht schlechter als ich bin! Sie sehen, dies ist die erste Verwirklichung meiner Verantwortlichkeit gegenüber allen – und dieses „alle“ schließt mich mit ein. Hierin liegt ein wunderbarer Gedanke: Wenn ein Mensch recht handelt, ohne Rücksicht darauf, was es ihm selbst abverlangt, dann stärkt er sich selbst und alle anderen. Es ist ein Werk wunderbarer Magie. Und ist es nicht einleuchtend, daß sich ein Mensch selbst schwächt, wenn er Böses tut? Als erstes wird sein Wille geschwächt, dann werden seine Gedanken beschmutzt und dann läßt die Stärke seiner wahren inneren Gefühle nach. Wenn dieser Mensch den abwärtsführenden Pfad lange genug verfolgt, verursacht schon der bloße Kontakt mit ihm eine Beschmutzung des eigenen Selbst. So wie es heißt, daß ein verfaulter Apfel einen ganzen Korb voll gesunder Früchte verderben wird, so beeinflußt ein schlechter Charakter in widriger und schlechter Weise nicht nur sich selbst, sondern auch alle die Unglücklichen, die ihm nahe sein mögen.

Wir können uns davor sehr leicht schützen, weil es nur wenige Dinge gibt, die so offenbar sind wie das Böse. Es besitzt nichts, was ihm Halt gibt, außer der Illusion. Lassen Sie es allein und es wird sich wie ein Nebel auflösen. Stärken Sie es nicht dadurch, daß Sie von Ihrer eigenen Energie noch mehr Böses in die Illusion einströmen lassen. Wenn es nichts hat, was ihm Halt gibt, keine Quelle vitaler Aktivität in sich selbst, so zerfällt es, bricht es in Stücke. Wie andersartig ist das Gute; es ist heilbringend, stärkend und reinigend. So einfache und so tiefe Wahrheiten! Ich halte die einfachsten Dinge für die schönsten und tiefgründigsten. So ist die Lehre vom Erbe eines Menschen, das er selbst ist, einfach die Lehre einer anderen Chance für den Menschen, der sein Leben selbst verdorben hat. Kein anderer Mensch kann Sie verderben, wenn Sie nicht selbst an der Verderbnis mitwirken. Kein anderer kann Sie böse machen, wenn Sie sich nicht beeinflussen lassen oder an der Tat beteiligen. Tadeln Sie nicht den anderen für Ihren Fall. Sie selbst sind es, der fällt, und Sie werden niemals fallen, würden niemals gefallen sein, wenn Sie nicht das bevorzugt hätten, was den Fall zustande brachte. Solch einfache Wahrheiten, und doch enthalten sie einen Kodex göttlichen Verhaltens für uns Menschen auf dieser Erde. Ein Kind vermag diese Dinge zu verstehen, weil sie so klar, so einleuchtend sind.

Die Lehre von einer neuen Gelegenheit! Denken Sie an einen Menschen – an irgendeinen von uns –, der sein Leben verpfuscht hat und sich darüber wundert, warum üble Umstände, Unheil, Unglück, Elend und andere schreckliche Dinge über ihn kommen, bis er manchmal in der Seelenqual des Selbstvorwurfes aufschreit: „Herr, befreie mich aus dieser Hölle.“ Dies ist der alte schwache Appell an eine Instanz, von der keine Hilfe kommt, denn die Hilfe liegt im Inneren: das Göttliche liegt in Ihrer Brust, die Quelle aller Stärke und Größe; je mehr Sie an sie appellieren, desto mehr bringen Sie sie in Tätigkeit, desto mehr stärken Sie Ihr eigenes Selbst, nehmen Sie an Wahrheit und Weisheit zu und erheben sich über alle Ebenen der Schwäche, des Kummers und der Pein, die durch die schlechten Handlungen und Gedanken entstanden sind.

Sie haben sich selbst so gemacht und in Ihrem nächsten Leben werden Sie genau das sein, was Sie gerade jetzt aus sich machen. Sie werden Ihr eigenes Erbe sein. Sie schreiben jetzt sozusagen Ihren letzten Willen und Ihr Testament für sich selbst. Wenn ein Mensch sich dieser wunderbaren Tatsache bewußt wird, dann tadelt er nicht länger andere und sitzt nicht länger zu Gericht über seine Brüder. Er sagt nicht länger: Ich bin heiliger als Du – eine Haltung, die ein sicheres Kennzeichen für ein schwaches und armseliges geistiges Leben ist.

Es gibt ein wunderbares französisches Sprichwort, das wie folgt lautet: Tout comprendre, c’est tout pardonner; „Alles verstehen, heißt alles verzeihen.“ Alle verborgenen Ursachen, die Resultate, das vergangene Schicksal, die gegenwärtige Stärke, die Versuchung, die Tugend, was es auch sein möge, zu verstehen – all dies zu verstehen, heißt, göttliches Wissen haben, und das heißt vergeben. Es ist ein wundervolles Sprichwort. Es muß – ich wage es zu behaupten – zuerst von einem Menschen geäußert worden sein, der von einer Erleuchtung berührt wurde. Ich weiß aus eigener Erfahrung, daß ich mir sage, wenn ich verletzt worden bin oder mich gekränkt und ungerecht behandelt fühle, selbst wenn das mir zugefügte Unrecht anscheinend offensichtlich ist: Wenn ich im Herzen meines Bruders, der mir Unrecht zufügte, lesen und in die weit entlegene Vergangenheit zurückblättern und sehen könnte, was ich ihm möglicherweise an Unrecht zugefügt habe, dann würde ich vielleicht erkennen, daß er sich jetzt des Unrechts, das er mir zufügte, genausowenig bewußt ist, wie ich damals das Unrecht nicht sah, das ich ihm antat. Ich kann den Schatz an Tugend, Glück und Frieden in dieser Welt nicht dadurch vermehren, indem ich mit dem Maßstab des Kampfes messe und noch mehr Wut und Haß in eine von Haß besessene Welt hineinbringe. Aber ich kann meinen Teil dazu beitragen, indem ich mein Selbst stärke, meinen Teil dazu beitragen, indem ich das tue, was ich selbst gelehrt habe: nämlich das ausüben, was ich predige und dafür etwas Licht aus dem Höheren in mir empfange, von dem Gott in mir. Friede und Glück sowie das Gefühl verstärkter Selbstachtung und mehr Mitgefühl entstehen daraus.

Wissen Sie, manchmal denke ich, daß Mitgefühl oder Mitleid die höchsten himmlischen Besucher im Tempel des menschlichen Herzens sind. Die alten Weisen sagten wiederholt, daß niemand, außer den Göttern, den Menschen wirklich exakte Gerechtigkeit widerfahren lasse, oder was sie für Gerechtigkeit halten und sich als ihr Recht einreden. Die Götter hören alles, sehen alles, fühlen alles, verstehen alles und sind von Mitleid erfüllt. Überlegen Sie einmal, welche Chance irgendeiner von uns Menschen wohl haben würde, der Verdammung zu entrinnen, wenn er ohne Milderung durch Mitleid und Weisheit auf der feinsten Waage der karmischen Gerechtigkeit gewogen würde? Nimmt irgendeiner von Ihnen an, daß seine Tugend und seine heilige Stärke so fleckenlos sind, daß sich die Schale nicht zu seinen Ungunsten neigen würde? Wenn ja, dann sind Sie sehr, sehr glücklich – oder sehr, sehr blind! Ich denke, wenn Sie eine solche fleckenlose Reinheit vergangenen Karmas hätten, dann wären Sie nicht als Mensch hier auf dieser Erde, um sich selbst Ihr eigenes Erbe zu erarbeiten.

Es ist wahr, daß die gesamte Menschheit dabei ist, künftig zu Göttern zu werden, und es gibt keinen erdenklichen Grund, warum wir nicht genau in diesem Augenblick beginnen sollten, der Göttlichkeit entgegenzuwachsen. Sie gewinnen alles, Sie erlangen alles, Sie verlieren nichts. Aus einem von vergangenem Karma getriebenen Sklaven werden Sie mit der Zeit zum Ordner Ihres eigenen Schicksals, denn Sie sind Ihr eigenes Erbe. Was für eine tröstliche Lehre! Wieviel Licht schenkt sie uns!

Wo sind die Weisen und Seher?

Die großen Weisen und Seher, die Meister der Weisheit und des Mitleids gehören keiner Rasse und insbesondere keinem Glaubensbekenntnis an. Sie sind Kinder des Geistes, erwachte Menschen, deren gewohntes Denken die Wahrheit selbst ist. Daher sind ihre Sympathien universal. Sie kennen keine Schranken der Rasse, der Kaste, des Glaubens oder der Hautfarbe. Sie sind Wahrheitssucher, Wahrheitslehrer. Die Theosophische Gesellschaft wurde von ihnen gegründet, um die Wahrheit zu verbreiten, die kosmische Weisheit, die kosmische Philosophie, die bereits bestand, ehe die Fundamente der mächtigen Berge gelegt wurden, ja, ehe die Söhne des Morgens anfingen zu singen und ihre himmlischen Hymnen anstimmten. Denn Wahrheit ist ohne Alter. Sie wurde nie geboren, sie ist nie nicht gewesen. Sie ist zeitlos, weil sie universal ist. Ihr Appell richtet sich an das Herz und den Geist aller Menschen. Es kommt nicht im geringsten darauf an, aus welchem Teil der Welt eine schöne Wahrheit gewonnen wird. Wann daher auch immer ein Mensch die siebensaitige Lyra des Apollo – sein Herz oder seine sieben Prinzipien – so gestimmt hat, daß sie wie eine Äolsharfe singt und klingt, wenn die himmlischen Winde sie berühren, dann ist er in dieser Zeit und so lange er auf dieser Bewußtseinsebene bleibt, einer der Weisen und Seher, ob seine Mitmenschen ihn erkennen oder nicht. Und das betrifft Sie und mich und alle Menschen, zumindest jeden, der möglicherweise so viel erreicht hat.

Und achten Sie auf das Versprechen in dieser Feststellung: Gerade weil wir Kinder der Unendlichkeit sind, nicht nur Söhne der Götter, sondern die wirklichen Abkömmlinge der himmlischen Räume, liegt das in uns, was mit ihnen im Einklang ist; das daher zeitlos ist, das daher unendlich ist, das daher ewig ist.

Wie wahr ist die alte Feststellung im Neuen Testament, die Sie mich so oft zitieren hören, weil die Christen dieser Tage sie so sehr aus den Augen verloren haben! Ich verbinde zwei dieser Feststellungen: „Wisset ihr nicht, daß ihr Götter seid und daß der Geist des Ewigen in euch lebt?“

Wo sind die Weisen und Seher? Nun, wo sie immer gewesen sind. Die Frage mag zunächst töricht erscheinen. Ich nehme aber an, sie entspringt dem Wunsch den Menschen zu erklären, warum die Meister die Menschheit nicht an die Hand nehmen und sie dazu verpflichten oder zwingen, anständig zu sein. Aber was würde das Gutes bewirken? Wie könnte man die Menschen durch Zwang überzeugen, daß dieses, jenes oder irgend etwas anderes wahr ist? Ist es nicht offensichtlich, daß die Menschen nur das glauben, was ihre eigenen Herzen sie lehren? Und daß sie nichts von dem annehmen – ganz gleich, was sie hören oder gelehrt bekommen mögen – was keinen Widerhall im menschlichen Herzen und eine sofortige Antwort im menschlichen Intellekt entstehen läßt, sondern daß sie dagegen Schlimmeres als eine Mauer aus Stahl in sich errichten?

Wahrheit ist ewig. Wahrheit ist immer bei uns, und die Verehrer der Wahrheit sind immer bei uns, waren immer bei uns und werden immer bei uns sein. Wir in unserer Torheit, Unwissenheit und Blindheit sind es, die sich weigern, sie zu empfangen. Öffnen Sie Ihr Herz und Ihren Geist, und das Licht wird hereinströmen. Es gibt das Versprechen aller Weisen, die die Menschheit je hervorbrachte. Die Lehrer sind stets bereit, wenn der Schüler bereit ist. Wenn wir heute keinen Beweis für die Meister in der Welt erkennen, so liegt es teilweise daran, daß wir zu dumm sind, teilweise daran, daß wir die Gottesweisheit in der Welt vergessen haben und teilweise daran, daß wir nicht hören wollen.

Ja, die Wahrheit wurde von den titanischen Intelligenzen der menschlichen Rasse festgelegt; und wessen Fehler ist es, wenn die Menschen sie nicht annehmen? Nicht der Fehler der Lehrer. Warum soll ich den tauben Himmel anrufen? „Wo bist Du, o Gott?“, wenn ich Streit, Elend, Verbrechen und Schrecken vorziehe? Von allen Martern des Stumpfsinns sehen wir hier einen Beweis mehr für den menschlichen Versuch, seine eigene Torheit und Unwissenheit selbst zu rechtfertigen. Man könnte ebensogut fragen: „Wo sind die Gesetze der Natur? Was ist aus ihnen geworden? Warum nehmen sie die menschliche Rasse nicht an die Hand?“ Ein schöner Gedanke! Selbst gewöhnliche menschliche Eltern wissen es besser. Normalerweise wird ein Vater oder eine Mutter nicht versuchen, mit Gewalt in die Entwicklung eines Kindes einzugreifen. So etwas hat nie funktioniert und wird nie funktionieren. Man kann einen Leoparden nicht dazu bringen, seine Flecken zu ändern. Keine noch so große Aushungerung, Kasteiung oder sogenannte strafende Rache wird je etwas anderes aus ihm machen als einen Leoparden – sondern nur seine eigene Evolution.

Verlangen Sie nach Wahrheit? Sie können sie haben, wann immer Sie wollen. Die Welt ist voll davon. Die großen Lehren der Zeitalter sind voll von ihr. Was hindert uns daran, sie zu sehen? Gibt es einen Menschen, der so blind ist wie einer, der nicht sehen will? Gibt es jemanden, der so stocktaub ist wie einer, der nicht hören will? Das sind einige der einfachen Wahrheiten, die jedem Kind bekannt sind. Wir ziehen jedoch Scheinheiligkeit, Heuchelei und Selbstgerechtigkeit der Wiedergutmachung der Untaten vor, die wir an anderen verübt haben und rufen dann die unsterblichen Götter um Hilfe an, wenn wir selbst unter unserer Torheit zu leiden beginnen. Ja, wir wählen die Heuchelei. Wie viele von uns können vor dem heiligen Tribunal im eigenen Herzen sagen: „Ich bin kein Heuchler. Ich bin rein. Ich danke Gott, daß ich nicht bin wie andere Menschen!“ Seien Sie ehrlich, ist Ihnen das nie in Herz und Sinn gekommen? Und sehen Sie nicht, daß das die erste Fessel ist, die Sie sich als Pilger selbst um ihre Glieder gelegt haben? Selbstrechtfertigung und Selbstgerechtigkeit? Sehen Sie nicht, daß Sie die eigenen Augen durch solches Handeln blind machen?

Wie wahr ist es, daß die Wahrheit nicht populär ist; daß die Wahrheit nicht willkommen ist, daß die Menschen sie nicht mögen. Warum? Weil sie Veränderung bedeutet. Sie bedeutet eine Evolution des Fühlens und Denkens. Sie bedeutet eine Revolution der moralischen Instinkte, um wieder lebendig und kräftig zu werden. Der erste Schritt, um mit den großen Lehrern bekannt zu werden, um individuelles Wissen von ihnen aus erster Hand zu erhalten, besteht darin, ihnen, soweit wir wollen und können, gleich zu werden. Es gibt keinen anderen Weg. Das Herz muß um jeden Preis der Wahrheit geweiht werden. Sind Sie stark genug? Wenn Sie es sind, dann sind Sie bereit für Chelaschaft, für Schülerschaft; und Sie werden ein Schüler sein, ehe dieses Leben für Sie zu Ende sein wird, ja vielleicht, ehe der morgige Abend den Untergang Ihres Tagesgestirns sieht.

Die Meister, die großen Weisen und Seher, sind stets für Sie bereit. Es gibt auf dem Weg zu ihnen keine Schranken, außer Ihrem eigenen Selbst, absolut keine; wenn Sie die Chelaschaft nicht in diesem, im nächsten oder im darauffolgenden Leben erreichen, so tadeln Sie niemanden außer sich selbst. Wie können Sie ein Schüler oder Chela werden, bevor Sie bereit sind, ehe Sie es geworden sind? Wie können Sie das Licht sehen, ehe Sie Augen haben, es zu sehen? Wie können Sie Schönheit würdigen oder von Schönheit angerührt werden, ehe Schönheit in Ihrer Seele geboren ist, so daß die Schönheit in Ihnen die äußere Schönheit wahrnehmen kann? Wie vermögen Sie einen großen Menschen zu erkennen, ehe Sie nicht wenigstens eine Größe in sich selbst geboren haben, um sich zu befähigen, Größe zu erkennen? Wenn Sie armselig, klein und gering sind, wie können Sie dann das Gegenteil davon erkennen?

Es ist wie bei den Menschen, die unwissend durch die Welt gehen, blind und taub für die göttliche Schönheit in ihren eigenen Mitmenschen. Einer der leichtesten Wege, Schönheit zu finden, Wahrheit zu finden und schneller in sofortige magnetische Sympathie mit den Mitmenschen zu kommen, ist, selbst mitfühlend und sehend zu werden. Wenn ein Mensch in seiner Seele keine Sympathie hat, wie kann er dann die Sympathie in den Seelen anderer fühlen? Wenn er keine Schönheit in seinem Herzen trägt, wie kann er irgendwo Schönheit sehen oder, wie der englische Dichter Shakespeare sagte:

Der Mensch, der nicht Musik im Herzen trägt,
den Einklang süßer Laute nicht bewegt,
ist fähig zu Verrat, zu List und Raub.

Sie werden niemals das Meister-Selbst sehen, ehe Sie nicht in sich selbst meistergleich geworden sind. Weil Sie ihn nicht erkennen würden. Es wäre unmöglich. Sie haben die innere Vision, die inneren Fähigkeiten dazu nicht entwickelt; dennoch sind diese Fähigkeiten vorhanden.

Diese Weisen und Seher existieren heute. Sie nehmen Schüler an, um es mit gewöhnlichen Worten zu sagen. Ja, mehr noch, sie streifen forschend und suchend durch die Welt, nicht so sehr wie Diogenes nach einem ehrlichen Menschen, sondern überall nach gutem Material, nach empfindsamen menschlichen Seelen Ausschau haltend; sie suchen, wo immer sie einen auch noch so schwachen Schimmer buddhischen Glanzes in einem Menschenherzen sehen können; und wenn sie ihn sehen, wird ihre Aufmerksamkeit sofort angezogen. Sie fühlen den Anstoß sofort in ihrem eigenen Herzen. Sie nähern sich, sie helfen, sie inspirieren, sie tun alles, um die zitternde Flamme der Vision und des Fühlens zu nähren. Sie nähren sie und pflegen sie, bis die Flamme schließlich stark brennt und der Mensch wiedergeboren ist, nicht mehr im Fleisch, sondern im Geist wiedergeboren, durch die Inspiration von innen und durch den Lehrer von außen.

Über und jenseits und hinter diesen Weisen und Sehern steht deren eigenes großes Oberhaupt. Welch wunderbare Gestalt himmlischer Weisheit und Schönheit, ganz dem Geiste geweiht und der Welt und allem, was darin ist, ohne Rücksicht auf Rasse, Nation, Glaubensbekenntnis, Kaste, Hautfarbe oder Geschlecht! Dieses Wesen ist ein Gott. Theosophen sprechen von ihm in Ehrerbietung und Ehrfurcht als dem Stillen Wächter. Er ist der Höchste der Meister. Er ist einer von uns, unser eigener hervorragender Führer, Lehrer, Freund, Bruder und, soweit wir Menschen in Betracht kommen, die Quelle aller Erleuchtung, Weisheit, Schönheit und Liebe. So daß wir in den tieferen Bereichen der theosophischen Lehren mit großer Ehrfurcht, aber auch in aller Wahrheit sagen können, daß hinter unserer ganzen Arbeit, wie unvollkommen wir Menschen diese auch leisten mögen, als Ursprung und als Inspiration diese große Gottheit steht.

Welch eine Hoffnung! Welches Wunder, auf das wir schauen können! Ich glaube, daß es heute Millionen, Hunderte von Millionen von Männern und Frauen in dieser Welt gibt, die in Demut und erfüllt von universaler Liebe danach hungern, sich weiter zu entwickeln und für immer voranzuschreiten. Oh, daß sie sich alle zu einer Gemeinschaft unpersönlicher Arbeiter zusammenschließen könnten! Welche Macht wären sie dann in der Welt! Nicht länger würde der Verstand des Menschen durch Probleme verwirrt werden, die aus seiner Selbstsucht entstanden sind. Nicht länger würde die Menschheit durch Armut, Elend und die meisten Sünden, die jetzt existieren, und durch den furchtbaren entsetzlichen Jammer in Mitleidenschaft gezogen. Ich denke manchmal, daß die rührendste, die herzzerreißendste Geschichte in der Welt unter unseren Mitmenschen jene ungehörte Geschichte ist, die sich in der stummen Qual der Stille ereignet. Oh, wie die Menschen so unnötig leiden!

Ich kenne keinen erhabeneren Titel als jenen, den ich unseren großen Lehrern gebe: Freunde der Menschheit und aller lebenden Wesen!

Verlagern wir unser Bewußtseinszentrum

Woran krankt die Welt? Lassen sich ihre Leiden durch eine veränderte Politik oder durch die Änderung von Regierungsformen heilen, die im Laufe der Zeit selber einem Wechsel unterliegen? Oder lassen sich die Leiden der Welt durch eine Veränderung des Denkens und Herzenslebens kurieren, was ganz sicher wirksame Resultate hervorbringen würde, deren Notwendigkeit heute jeder normale Mensch fühlt – wenn auch nur, um die sich zu einer von allen mehr oder weniger als bedrohlich empfundenen Krise ansammelnden psychischen Energien in ungefährliche Kanäle abzuleiten? Wie steht es aber mit der Politik? Wenn wir uns auf sie verlassen müßten, würde die verzweifelte Lage der heutigen Welt, so glaube ich, gänzlich hoffnungslos sein. Aber glücklicherweise gibt es einen Ausweg.

Ich war immer der Ansicht, daß der Theosoph als Einzelner der ihm zusagenden Politik zustimmen kann. Ebenso meine ich aber auch, daß die ethischen Dinge, individuell und gemeinschaftlich, einen unvergleichlich praktischeren und interessanteren Bereich des menschlichen Lebens ausmachen. Politische Theorien wechseln und ändern sich von Jahrhundert zu Jahrhundert, wenn nicht noch öfter. Was im einen Zeitalter als die richtige Art für die Führung der Welt angesehen wird, wird für gewöhnlich in der darauffolgenden Epoche verworfen. Die Menschen streiten meist wie besessen um politische Überzeugungen; in den grundsätzlichen Wahrheiten der Moral oder der Ethik stimmen jedoch alle überein. Die großartigen Lehren der Philosophie und die aus der Religion gewonnene Inspiration – im Unterschied zur Religion selbst – sind aufgrund ihrer Wichtigkeit für das menschliche Denken und die Vorstellungskraft von außerordentlicher Bedeutung. In der Regel wenden sich die Menschen nur dann der Politik zu, wenn sie ihr Vertrauen in religiöse Belange verloren haben oder wenn sie die Philosophie als ein trockenes System leerer Spekulation ohne praktischen Wert kennengelernt haben. Sie hoffen in der Politik etwas zu finden, was ihnen als interessante, manchmal leider auch einträgliche Beschäftigung erscheint, und als Ventil für verborgene Energien dient.

Was die manchmal diskutierte Frage bezüglich des persönlichen Besitzes von Geld und Eigentum betrifft, so glaube ich als Schüler und Anhänger des alten, überlieferten Pfades der Jüngerschaft, daß kein dauerhaftes, anhaltendes und echtes Glück jemals im Besitz materieller Dinge gefunden werden kann. Mit anderen Worten, ich bekenne mich zur alten, im Neuen Testament nachzulesenden Feststellung, und ich akzeptiere sie, die auf einen Nenner gebracht etwa lautet: „Du kannst das Reich der Götter nicht betreten, es sei denn, Du verläßt Vater und Mutter, Weib, Kind und Besitztum und folgst mir nach.“ Augenscheinlich kann dieses strenge Gebot nur auf jemanden angewendet werden, der mit jener erhabenen Bruderschaft edelherziger Menschen eins werden möchte, die ihr ganzes Leben der Besserung der gesamten menschlichen Rasse gewidmet haben, denn wenn ein Schüler noch Familienbindungen hat oder Besitz sein eigen nennt, ist er daran gebunden, und seine Energien und Interessen werden dadurch mehr oder weniger zerstreut und verbraucht.

Dies bedeutet in keiner Weise, daß ein Mensch das Recht hat, auch nur seine kleinste Pflicht zu vernachlässigen, wenn er sie einmal übernommen hat; noch sollte er Vater, Mutter, Ehefrau, Kind oder selbst seinen Besitz verlassen, es sei denn, er hat für die von ihm Abhängigen angemessene, gerechte und großzügige Vorsorge im besten Sinne des Wortes getroffen sowie die sorgfältige Verwaltung des Besitzes sichergestellt, von dem jeder anständige Mensch erkennen muß, daß ihm die Zufriedenheit der anderen damit anvertraut ist. Bedenken Sie, daß das künftige Schicksal eines Menschen davon abhängt, woran sein Herz jetzt am stärksten hängt. Wie kann sich jemand, dessen Herz allein daran hängt, für sich und die mit ihm verbundenen Menschen persönlichen Besitz zu erwerben, von den Fesseln persönlicher Bindungen befreien, den Banden, die ihn fest an das weltliche Leben fesseln? Natürlich nicht mit Hilfe der Politik; sondern mit Ethik und Religion sowie Philosophie und echter Wissenschaft, denn richtig verstanden bedeuten sie: Liebe diese Dinge nicht, hänge dein Herz nicht an sie, so daß dein Herz dadurch gefesselt, gebunden und in Ketten gelegt wird. Gebrauche sie nur in einer solchen Weise, wie Du alle anderen guten Dinge der Erde gebrauchst; aber benutze sie als ihr Meister, nicht als ihr Sklave.

Um nicht mißverstanden zu werden, möchte ich hier ein für allemal sagen, daß ich für die Handlungsweise eines Menschen absolut keine Nachsicht und keine Sympathie aufbringen kann, der die von ihm Abhängigen verläßt, weil er seinen eigenen Fortschritt im Sinne hat, selbst wenn es ein spiritueller wäre. Niemand kann einen größeren Pflichtenkreis erfüllen, wenn er vorsätzlich und rücksichtslos seine kleineren Pflichten vernachlässigt und ignoriert. Wer zu allen Zeiten und an jedem Platz auch seine weltlichen Pflichten erfüllt, ist auf dem rechten Pfad. Sollte es sich ereignen – und das ist einer der seltenen, außerordentlich seltenen Fälle –, daß jemand den Ruf hört, er möge dem Pfad der Chelaschaft, der Jüngerschaft folgen, dann kann der richtige Anfang dazu nicht darin bestehen, durch Nichterfüllung bereits eingegangener Verpflichtungen die Rolle eines Feiglings zu spielen. In jedem Fall kann er nur dann frei werden, wenn er diese Pflichten zuerst restlos erfüllt hat, und zwar auf ehrliche, aufrichtige und gütige Weise, im gegenseitigen Einverständnis mit jenen, die von ihm abhängig sind, und erst nachdem er für sie gesorgt hat; oder er findet, wenn er bereits entsprechende Vorsorge getroffen hat, eine gegenseitige Übereinkunft, daß er nach einer gewissen Übergangszeit dem Gebot seiner Seele frei folgen darf. Auf keinen Fall verhält sich ein Theosoph wie ein unsozialer Mensch. Er erfüllt seine sozialen Verpflichtungen genausogut wie jeder andere. Er bekennt sich zur Ehe. Er versucht, ein guter Bürger, ein guter Ehemann und Vater, ein guter Sohn und Bruder zu sein und seine Pflicht gegenüber dem Staat, in dem er lebt, zu erfüllen. Dies gilt für alle ohne Ausnahme.

Ein Theosoph, der an die Bruderschaft und den Frieden glaubt und sie lehrt, was die Verbesserung und Veredlung aller Arten der menschlichen Beziehungen einschließt, ist de facto auch von der Notwendigkeit von Gesetz und Ordnung überzeugt und bekennt sich zur bestehenden Obrigkeit; und als guter Bürger erkennt er seine Pflichten seinem Land gegenüber an und gehorcht den Gesetzen, unter denen er lebt. Er erkennt, daß er wegen seines Glaubens an die Bruderschaft als eine universale Tatsache in der Natur als erster selbst damit beginnen muß, in seinen Handlungen und in seiner Lebensführung ein lebendes Vorbild für Ordnung, guten Willen und willfährige Unterordnung unter die Gesetze des Landes, in dem er lebt, zu geben; dabei sucht er auf jede gesetzliche und geeignete Weise eine Verbesserung der Sozialstruktur zu erwirken und unvollkommene oder schlechte Gesetze zu verbessern; und er handelt als einzelner seinen Mitmenschen gegenüber so gut er nur kann.

Mit diesen kurzen, sehr aphoristischen Bemerkungen will ich sagen, daß wir als ernsthafte Menschen immer danach streben sollten, die rein persönlichen und selbstsüchtigen Bande zu schwächen, die den beschwingten Flug unserer Seelen in höhere Regionen hemmen. Gerade diese selbstsüchtigen Wünsche und Bande sind es, die durch die Konflikte und Schwierigkeiten mit uns selbst und mit anderen, die ebenso selbstsüchtig denken und ähnlich handeln, den größten Teil des menschlichen Elends und des moralischen Niedergangs in der Welt verursachen.

Es ist nicht das Geld an sich, das die Wurzel allen Übels ist; es ist das selbstsüchtige Verlangen danach. Geld kann in den Händen eines edlen, weisen und guten Menschen durchaus ein sehr nützliches Instrument sein, um der Menschheit zu helfen. Das Übel und der sich daraus ergebende falsche Umgang kommt daher, daß wir es zum Nachteil jener, die uns nicht so nahe stehen, in selbstsüchtiger Liebe entweder für uns allein oder zumindest nur für unsere nächsten Angehörigen verwenden. Darum lehrte Jesus, der Avatāra, gleich den großen Weisen und Sehern aller Zeitalter: Hängt euer Herz nicht an irdische Dinge. Versenkt euch vielmehr in die unergründlichen Tiefen des Geistes in eurem Innern. Dort werdet ihr vollkommene Freiheit, unermeßlichen Frieden und unaussprechliche Glückseligkeit finden.

Weise ist jener Mensch, der in der Welt lebt und die Dinge dieser Welt benützt – nie mit einer rein weltlichen Gesinnung, sondern mit Weisheit, Güte und mit der gebührenden Rücksicht auf die Rechte anderer, vor allem aber mit einem Herzen, dem nichts an diesen weltlichen Dingen liegt und das dafür keine Zuneigung spürt. Das ist der Chelapfad, das ist der Schülerpfad – zumindest dessen Anfang. Dies ist die Begründung für meine Antwort auf die mir mehr als einmal gestellte Frage: „G. de P., falls Ihnen jemand zehn Millionen Dollar geben würde, würden Sie diese annehmen? Und wenn ja, was würden Sie mit diesem Geld anfangen?“ Meine spontane Antwort war: „Ich würde das Geld mit Freuden annehmen und es samt und sonders für nützliche Zwecke bestimmen, die dem Wohle der Menschheit dienen. Ich selbst will keinen einzigen Penny. Ich bin zu persönlicher Armut verpflichtet. Aber ich bin kein Idiot. Ich weiß um die Macht eines guten Mittels, und Geld und Besitz können und sollten Instrumente für etwas Gutes sein. Es sind nicht diese Dinge an sich, die Schaden verursachen. Es ist vielmehr unsere selbstsüchtige Reaktion auf ihren Einfluß, der nicht nur für uns, sondern auch für andere verderblich ist.“

Obgleich sich die Theosophische Gesellschaft als Körperschaft strikt der politischen Tätigkeit enthält, kann sich jedes Mitglied dennoch zu den ihm genehmen politischen Richtungen bekennen und sie unterstützen. Meiner Überzeugung nach nähert sich die Welt dem Zeitpunkt, wo sie sich darüber klar werden muß, daß die einzige Methode, mittels derer sich die Menschen „selbst retten“ können, um einen altmodischen Ausdruck zu gebrauchen, und dies gilt auch für die Methode, wie „die Welt gerettet“ werden kann, eben die ist, etwas zu sein und nicht die, zu predigen – ob dies nun politische, philosophische oder religiöse Predigten sind. Die Politik, wie wir sie heute verstehen, wird wie ein Trugbild verschwinden, wie eine meiner Ansicht nach abscheuliche Täuschung, wenn sich die Menschen erst einmal darüber klar werden, welche Reichtümer im menschlichen Herzen liegen, welche großen, verborgenen Mysterien: Liebe und Bruderschaft, Mitleid und Friede, die Achtung des Menschen vor dem Menschsein sowie die Fähigkeit, zu wachsen und den Verstand und die moralischen Empfindungen zu erweitern. Dort allein liegt die Quelle seines Verlangens, seinem Gefühl für Recht und Gerechtigkeit allem und jedem gegenüber freien Lauf zu lassen und für sie einzustehen. Dies sind die großen Dinge, die in der Welt sichtbar werden sollten, für das Wohl aller. Ich bin überzeugt, daß eines Tages ein großer Mensch mit einer spirituellen und intellektuellen Idee oder einer ganzen Reihe solcher Ideen erscheinen wird, mit Gedanken, die der gegenwärtig schlingernden Zivilisation einen zuverlässigen Weg zu Sicherheit, menschlicher Eintracht und Frieden zeigen können. Das bedeutet keinen Zusammenbruch, wie einige fälschlicherweise annehmen, sondern einen neuen gedanklichen und ideellen Überbau, begründet auf einem edelmütigen, leistungsstarken sozialen Fundament. Letzten Endes sind es doch die Ideen, welche die Welt regieren. Weil die Menschen fälschlicherweise annehmen und dem Denkfehler erliegen, daß Geld, Besitz und Politik an sich etwas Wertvolles sind, und daß Politik als solche einen inneren Wert hat, halten diese schwachen Instrumente oder Produkte menschlichen Strebens die Menschheit fest im Griff und breiten ihre Schwingen über den Herzen der Menschen aus.

Menschen machen Politik, Menschen machen Geld, es sind Menschen, die Dinge, Besitztümer und Zivilisationen zustandebringen. Ideen regieren die Welt, und auch sie haben ihren Ursprung im Menschen. Es ist notwendig, unsere Ideen zu ändern und Ideen zu folgen, denen edle Gedanken zugrunde liegen, Ideen, die auf universaler Bruderschaft gründen, Ideen von innerer, moralischer Schönheit und spiritueller wie intellektueller Größe; Ideen, die nach und nach nicht nur einen brüderlichen Zusammenschluß der Völker dieser Erde bewirken, sondern den Zusammenschluß all der kleineren sozialen Gruppen, die eine Nation ausmachen. Dann, wenn diese Ideen unser Bewußtsein durchdringen, werden wir es nicht mehr nötig haben, uns um kleinliche Politik und um die Rechtmäßigkeit oder Unrechtmäßigkeit von Privatbesitz oder ähnlichem zu kümmern. Die menschliche Welt wird dann so leicht und leise wie ein gut konstruierter Mechanismus funktionieren und auf unserem gesamten Globus werden Glück und Frieden einkehren.

Das ist nicht das Luftschloß und die vage Vision eines idealistischen Träumers. Es ist eine Realität, die sich verwirklichen läßt, wenn wir einfach damit beginnen, unser Denken und unsere Gefühlswelt neu zu orientieren und neue Standards für menschliches Verhalten zu schaffen. In solch einer neuen Welt wird man die Menschen nicht allein danach beurteilen, was sie tun oder welcher Arbeit sie nachgehen, sondern danach, was sie denken, denn Gedanken brüderlichen und menschlichen Wohlwollens werden in aufbauende Tätigkeit umgesetzt. Man wird die Menschen nicht danach beurteilen, was sie besitzen oder ihr eigen nennen. Die Besitzverhältnisse werden nicht als Maßstab dafür gelten, ob jemand rechtschaffen und anständig oder angesehen ist.

Wir müssen unseren moralischen Schwerpunkt auf das Feld der Ethik verlegen, wo er richtigerweise und der Wahrheit entsprechend hingehört, und nicht auf Besitzerwerb, wie das aufgrund unglücklicher historischer Umstände während der letzten Jahrtausende fälschlicherweise geschehen ist. Es ist wesentlich leichter, unsere Wertvorstellungen in einen ihrer Natur angemessenen und legitimen Bereich zu verschieben, als für weitere Jahrhunderte damit fortzufahren, sich in furchtbare internationale oder vernichtende Auseinandersetzungen zu verwickeln, erfüllt zu sein von boshaften Feindseligkeiten und nicht enden wollenden Haßausbrüchen, die das soziale und politische Leben aus dem Gleichgewicht bringen und folglich bedrückendes Elend für uns alle heraufbeschwören. Es gibt kein einziges logisches oder vernünftiges Argument, das man gegen die Notwendigkeit einer Verlagerung unseres Bewußtseins vorbringen könnte, außer Ignoranz, Vorurteil und hoffnungslose menschliche Dummheit. Dies alles entspringt einer Trägheit, die letzten Endes darauf zurückgeht, daß unser moralisches Empfinden noch schläft und wir beständig davon ausgehen, daß es nicht in unseren eigenen Kräften steht, unser Schicksal zum Besseren zu wenden.

Wenn sich die Menschen dieser Erde nicht zu einer neuen Lebensauffassung durchringen und nicht damit beginnen, eine Änderung ihrer mentalen und psychischen Gewohnheiten zu vollziehen und die Ereignisse weiterhin durch die verzerrenden Linsen der heute gültigen Wertbegriffe betrachten, dann könnte es sich sehr schnell bewahrheiten, daß unsere bereits schwer angeschlagene Zivilisation Gefahr läuft, in ein solches Chaos der Konfusion, der Verzweiflung und des menschlichen Elends zu stürzen, wie es die Annalen der bis heute bekannten Geschichte noch nicht verzeichnet haben. Die in Nationen zusammengeschlossenen Völker der Erde müssen lernen, einander mit Achtung, einem feinen Gespür für Würde und mit der Fähigkeit des gegenseitigen Dienens zu begegnen, anstatt weiterhin Verhaltensweisen zu praktizieren, die sich auf die wackeligen Fundamente des Opportunismus, der Zweckdienlichkeit und der Bequemlichkeit stützen, die in der Vergangenheit so oft die internationalen Beziehungen beherrscht und überschattet haben und dadurch zu dem Eindruck führten, daß der moralische Standard zwischen den Nationen möglicherweise noch weit unter dem des Mannes auf der Straße liegt. Die Lage der Dinge ist indessen keineswegs hoffnungslos, denn das Heilmittel ist einfach, praktisch und praktikabel. Was wir tun müssen ist einfach den Schwerpunkt unseres Bewußtseins von der Politik und vom Profit auf die Bereiche der Moral und der gegenseitigen Hilfsbereitschaft zu verlagern. Selbst ein Geschäftsmann mit durchschnittlicher Intelligenz hat heutzutage begriffen, daß ein erfolgreiches Unternehmen auf Ehrlichkeit und Service aufgebaut sein muß. Sonst ist ein Fehlschlag unausweichlich. Es gibt wahrhaftig keine glaubhafte Begründung dafür, daß die Nationen nach Methoden handeln sollten, die der Durchschnittsmensch für sich selbst als beschämend betrachten würde. Das ganze Geheimnis liegt darin, den Standpunkt und die Blickrichtung zu ändern. Die augenscheinlichen Schwierigkeiten würden dann als das erkannt, was sie sind, als Täuschungen. Man sollte sie bereitwillig beiseite schieben und gegen die Normen vertauschen, die einen sicheren Weg zu Fortschritt, Glück und Frieden garantieren.

Wenn ich vom Verlust des Gefühls für ethische Werte in den letzten Jahrhunderten spreche, weil sich unser Bewußtseinsschwerpunkt bei der Wahrnehmung unserer nationalen und individuellen Interessen allein um Besitztum drehte, dann möchte ich nachdrücklich nicht den Eindruck erwecken, als wäre ein Theosoph irgendwie blind dafür, sich dessen unbewußt oder würde es gleichgültig hinnehmen, wenn in manchen Fällen Menschen in der Welt großes und herzzerreißendes Elend durchmachen müssen, weil es an geeigneten Mitteln oder an Unterstützung mangelt. Ganz im Gegenteil. Wir zeigen vielmehr solche Zustände auf, um die Macht zu illustrieren, die materielle Besitztümer auf das menschliche Herz und den menschlichen Verstand ausüben; denn das ungesunde Jagen des Menschen nach Wohlstand und das Verlangen nach persönlicher Bereicherung, selbst auf Kosten seiner Mitmenschen, hat ihn für die erste aller menschlichen Pflichten blind gemacht: brüderliche Rücksicht zu nehmen, Achtung zu empfinden und, wo es nötig ist, einem Mitmenschen, dessen Karma – oder Schicksal – weniger glücklich ist als das seinige, Hilfe angedeihen zu lassen.

Es ist ermutigend zu bemerken, daß in letzter Zeit in den verschiedenen Ländern der Welt, sowohl bei den Staaten als auch bei den einzelnen Menschen, die allgemeine Tendenz dahin zielt, mit allen Mitteln zu versuchen, die Not der Bedürftigen zu lindern. Daneben wächst das Verständnis, daß die wirklichen Werte nicht im Besitz liegen, sondern jene sind, die sich in menschlicher Wohltätigkeit und in Ausübung der universalen Bruderschaft äußern, die jede gut organisierte und dauerhafte Gesellschaftsstruktur auszeichnet.

Einige der edelsten Menschen, die jemals gelebt haben, erduldeten alle Qualen der persönlichen Demütigung und wurden durch größte Armut benachteiligt, während Unwürdige bzw. Unfähige, wie die Geschichte oft zeigt, über große Reichtümer verfügen. Die Welt bewegt sich schnell auf einen Zeitpunkt zu – vorausgesetzt, der Lauf der Welt wird nicht durch eine Katastrophe gestoppt oder aufgehalten –, an dem man viel besser als heute erkennen wird, daß jeder Mensch ein angeborenes Recht auf „Leben, Freiheit und einem Streben nach Glück“ hat, um die Worte der Amerikanischen Verfassung zu gebrauchen, und daß es für ein aufgeklärtes Staatswesen eine der edelsten Pflichten ist, nicht nur für alle gleiche Vorbedingungen zu schaffen, sondern jenen aktiv Beistand zu leisten, die aus dem einen oder anderen Grund, oft sogar zu ihrem Vorteil, keine Reichtümer um sich sammeln konnten. Solche Dinge, wie die Notwendigkeit der Altersversorgung, kostenlose Ausbildung und Arbeitsbeschaffung für jeden Arbeitswilligen, sind heute mit Recht allgemeine Diskussionsthemen.

Und obwohl ich das und viel mehr zugestehe, und nachdem ich festgestellt habe, daß die oben erwähnte Richtung sich zum Guten entwickelt, ergreife ich die Gelegenheit darauf hinzuweisen, daß in der Vergangenheit die Wurzel allen Übels in der Welt darin lag, daß unser menschlicher Sinn für dauerhafte Werte falsch ausgerichtet war – mehr auf den Besitz als auf das, was dem Menschen innewohnt. Die natürliche und unvermeidliche Folge davon hat ihren Höhepunkt in der gegenwärtigen, weltweiten Unruhe, dem Konflikt und den endlosen Streitereien gefunden, in Diskussionen bis zum Erbrechen über Rechte und Mißstände; aber es findet sich selten ein Gespräch über die Pflicht, die ein Mensch seinem Mitmenschen schuldig ist. Der Tag wird kommen, an dem sich der Schwerpunkt unseres moralischen Bewußtseins vom materiellen Besitz als dem Dreh- und Angelpunkt unserer Zivilisation abwendet und in den Menschen hinein verlagert, dem Zentrum aller bedeutendsten und ursprünglichen Werte, und dann werden 99 Prozent der Ausbrüche von Agitation, der Wirrnisse und der Fälle von Gewaltanwendung verschwinden; alle menschlichen Beziehungen werden auf internationaler, nationaler, sozialer und politischer Ebene automatisch in Ordnung kommen und dem Allgemeinwohl dienen. Universale Bruderschaft – nicht nur eine unbestimmte Sentimentalität, sondern die Erkenntnis der auf den Gesetzen der Natur beruhenden menschlichen Solidarität – ist daher der Schlüssel zur Errichtung jeder echten Zivilisation. Ohne sie kann keine Zivilisation bestehen.

Altruismus

Wenn der Mensch etwas über Altruismus hört oder liest, neigt er zu der Vorstellung, er sei etwas uns Fremdes. Er sei dem menschlichen Leben als etwas höchst Erstrebenswertes aufgedrängt worden, sei aber letzten Endes völlig undurchführbar – das heißt, Altruismus gehöre nicht zu den natürlichen menschlichen Eigenschaften. Mit anderen Worten: Alle sind von der Idee des isolierten Eigennutzes gefangen. Ist aber diese Annahme nicht völlig unbegründet in der Natur? Wo immer wir auch hinsehen, was immer wir auch betrachten oder studieren: wir finden, daß das Einzelwesen, das für sich allein arbeitet, hilflos ist. In allen großen Reichen des Universums versucht die Natur die gemeinsame Anstrengung aller hervorzubringen, die Zusammenarbeit von Lebensgemeinschaften, die wir deshalb auch überall finden können, und alles, was diesem Gesetz des Universums – Einheit im Handeln – zuwider- oder entgegenläuft, erzeugt Disharmonie, Streit und das, was wir in unseren Körpern als Krankheit bezeichnen. Gesundheit ist jener Zustand des körperlichen Organismus, bei dem alle Teile auf ein gemeinsames Ziel hinarbeiten, was wir als Freundschaft oder Übereinstimmung bezeichnen können.

Betrachten Sie die Steine: Sind sie keine Gemeinschaften, sind sie keine Verbindungen von Individuen, die ein Ding bilden, machen oder erzeugen? Kein einziges Atom irgendeines chemischen Elementes, aus dem ein Stein gebildet ist, ist der Stein selbst. Wie ist es bei der lieblichen Blume? Wie ist es bei den Körpern, in denen wir leben? Wie ist es beim einzelnen Menschen? Könnte er die großen Werke allein bewerkstelligen, für deren Vollendung viele ihre Genialität aufboten? Was ist Zivilisation denn anderes, als die vereinten Anstrengungen von Menschen, um große und edle Wirkungen für das menschliche Leben hervorzubringen – die Annehmlichkeiten zu steigern, Gefahren zu bannen, die genialen Werke fortgeschrittener Menschen zu verwirklichen, die zu unserem eigenen Komfort und Nutzen beitragen. Nennen Sie mir ein einziges Beispiel, wo reines Eigeninteresse irgend etwas hervorgebracht hat. Wenn wir die Natur mit all ihren Reichen hinzuziehen, finden wir nichts anderes vor als gemeinschaftliche Zusammenarbeit, durch eine Vielzahl von Einzelwesen zustandegebracht, die für ein gemeinsames Ziel kooperieren. Und was ist das anderes als Altruismus? Altruismus ist das Wort, mit dem wir diese Tatsache bezeichnen, wenn wir ihre ethische Bedeutsamkeit sehen, und diese Bedeutsamkeit unterscheidet sich in keiner Weise, weder im Großen noch im Kleinen, von dem, was wir in der physischen Welt sehen. Altruismus bedeutet das Wirken des Einzelnen für das Ganze – das ist das Grundgesetz der Natur in all ihren großartigen Strukturen –, und das Ganze ist der Schutz, der Schild und das Tätigkeitsfeld des Einzelnen. Denken Sie an die tiefe moralische Lektion, an die Schlußfolgerung, die aus dieser größten Wahrheit – nicht Geheimnis, sondern Wahrheit – des Universums zu ziehen ist. Es vollzieht sich in unserer Umgebung so allgemein, daß wir normalerweise mit blinden Augen darüber hinweggehen, ohne es zu sehen. Nennen Sie mir etwas, das nur für einen einzigen Augenblick einsam und allein existieren kann.

Zwei oder mehrere Atome, die sich verbinden, bilden ein Molekül; zwei oder mehrere Moleküle bilden eine größere Einheit; und die unzähligen Mengen solcher Einheiten sind es, die das Universum bilden. Jede einzelne Wesenheit, die dem unedlen Pfad des isolierten Eigennutzes zu folgen versucht, setzt ihren winzigen Willen gegen die Kraft ein, die die Sterne in ihrer Bahn hält, die unseren Körpern Gesundheit verleiht, die die Zivilisationen hervorbringt und alle Wunder um uns herum bewirkt.

In diesem Zusammenhang gibt es einen Punkt in der Lehre, dessen Einführung in die heutige Welt sehr wichtig ist, und zwar die Hoffnung. Sie kennen die alte, griechische Geschichte von einer gewissen, sehr neugierigen und wißbegierigen Person, die eine Schachtel öffnete, aus der alle Übel der Welt herausflogen und nur die Hoffnung blieb darin zurück. Ich denke, diese Geschichte enthält sehr viel Wahrheit, die für die Lebensprobleme von praktischer Bedeutung ist. Solange ein Mensch Hoffnung hat, verzweifelt er nicht. Sei er schwach oder stark, es spielt keine Rolle, solange er Hoffnung hat, solange er etwas hat, dem er entgegensehen kann; wenn sein innerer Geist, das spirituelle Wesen in ihm, ihn etwas von der Hoffnung lehrt, dann wird er nicht nur niemals verzweifeln, sondern er wird auch ein Erbauer, ein Konstrukteur sein, einer, der mit dem Universum zusammenarbeitet, weil er sich vorwärts bewegen wird. Und das ist Altruismus.

Wir sind alle Kinder des Universums, seiner physischen, seiner spirituellen und seiner göttlichen Seite. Da dies so ist, befindet sich in jeder menschlichen Brust nicht nur eine unerschöpfliche Quelle der Inspiration, sondern auch des Wachstums, der Hoffnung, der Weisheit und der Liebe, so daß die heutige Welt, obwohl sie anscheinend in einer verzweifelten Verfassung, in einem gefährlichen Zustand ist, immer noch genügend Frauen und Männer hat, um die evolutionäre Welle des Fortschritts über die gegenwärtigen Unruhen und Auseinandersetzungen hinüberzutragen; denn der größte Teil der Menschen ist im wesentlichen mit seinen natürlichen Instinkten, besonders mit den höheren, auf dem richtigen Weg.

Daher sehe ich die heutige Weltlage überhaupt nicht als besonders hoffnungslos. Ich glaube deshalb nicht nur, daß Grund zur Hoffnung vorhanden ist, sondern daß der unsterbliche Funke der Spiritualität, der Weisheit und der selbstlosen Liebe, der immer im menschlichen Herzen lebendig ist, die Menschheit nicht nur durch ihre gegenwärtige Reihe von Hindernissen und Schwierigkeiten hindurchführen, sondern auch in hellere Zeiten bringen wird; heller, weil sie weiser und freundlicher sein werden. Nicht die Krisen, wenn die Dinge zusammenbrechen oder anscheinend zusammenstürzen, nicht das schreckliche Krachen des Donners oder der Strahl des Blitzes regieren die großen Funktionen des menschlichen und kosmischen Lebens, sondern es sind jene langsamen, für uns Menschen immer ruhigen, unaufhörlichen, stillen Vorgänge, die wirken: die wirken, wenn wir wachen, und die wirken, wenn wir schlafen, die zu jeder Zeit wirksam sind. Selbst in der Menschheit – all ihren Torheiten trotzend – führen sie diesen Aufbau in der Zukunft fort.

Hierin liegt der Grund unserer Hoffnung; und ich glaube, daß sich alle guten und aufrichtigen Menschen zur Verteidigung dieser ursprünglichen, einfachen Wahrheiten zusammentun sollten, die jedes menschliche Herz verstehen kann, ob Kind oder Erwachsener. Ich glaube, es ist allmählich Zeit, daß die Männer und Frauen beginnen, die helle Seite der Dinge zu sehen, Hoffnung um uns herum zu sehen, sich selbst und ihre kleinlichen Sorgen zu vergessen und im Unendlichen und Ewigen zu leben. Es ist leicht, unendlich leichter, als uns dauernd selbst durch Ärger und Sorgen krankzumachen. In jedem von uns ist etwas Göttliches, an das wir uns halten können und das uns weiterhelfen wird!

Sagen Sie mir nicht, daß Altruismus für uns etwas Fremdes und Exotisches sei, ungewöhnlich, unpraktisch und daher undurchführbar; denn er ist das einzige, was beständig lebt, das einzige, was für immer fortdauert. Wenn jedes einzelne Element oder Teilchen in einem menschlichen Körper anfängt, sich selbständig zu machen, ist Krankheit die Folge. Wenn irgendein einzelnes Element oder Teilchen in einem beliebigen Lebensverbund, der die Welt um uns aufzubauen mithilft, anfängt, sich selbständig zu machen – was wir Eigennutz nennen – dann sehen wir Degeneration und Verfall.

Schlußfolgerung und Frage: Welchem von beiden sollen wir folgen – dem Weg der kosmischen Intelligenz, die uns innere und äußere Gesundheit, inneren und äußeren Frieden, innerliche und äußerliche Kraft und innere und äußere Einheit bringt? Oder der Lehre eines wertlosen und isolierten Eigennutzes, der vor allem anderen zuerst für sich selbst sorgt?

Ist es nicht höchste Zeit, daß wir der Welt einige der einfachen inneren Lehren der Gottesweisheit der alten Weisen vermitteln? Können Sie mir etwas Erhabeneres zeigen, etwas, das für den menschlichen Intellekt und für die Mahnungen des menschlichen Gewissens anziehender ist, als Altruismus, der uns in eine innige Verbindung mit dem Pulsschlag des kosmischen Herzens bringt – eine Idee, die, wenn wir sie dem Bewußtsein der Menschen einprägen können, die ganze Arbeit der großen Meister der Weisheit, die sie seit undenklichen Zeiten für die Menschheit verrichtet haben, mehr als rechtfertigen wird? Ethik steht über allem!

Gestalten Sie Ihr Schicksal!

Sie haben die Unendlichkeit vor sich, die Ewigkeit. Sehen Sie ihr ins Auge! So lehrt die Gottesweisheit – eine Lehre der Hoffnung, erfüllt mit dem Versprechen der Zukunft. Kein Mensch muß jemals sagen, es ist zu spät – jene schrecklichen Worte: zu spät. Kein Mensch braucht das je zu sagen. Jeder Augenblick der Zeit ist eine neue Gelegenheit. Wie der Mensch sich in der Vergangenheit zu dem gemacht hat, was er jetzt ist, so kann er sein Schicksal für die Zukunft gestalten und sich zu dem machen, was er seiner Vision nach in der Zukunft werden möchte. Welch großartige Lehre! Der Mensch ist nur eine Wiedergabe, eine zyklisch evolutionäre Wiedergabe seiner selbst aus der Vergangenheit in der Gegenwart, auf dem Weg in die Zukunft. Dort liegt Ihr Schicksal.


Nach dem Tode bist Du – Du selbst

Ich hoffe, daß die Zeit kommt, wo wir mehr Gewicht als bisher auf die Lehren legen werden, die sich mit den Vorgängen nach dem Tode befassen. Der Durchschnittsmensch ist heute anscheinend weniger unmoralisch als vielmehr amoralisch, das heißt, er scheint größtenteils den Sinn für moralische Verantwortung verloren zu haben. Wenn die Menschen erkennen könnten, was mit ihnen nach dem Tode geschehen wird, würde in ihnen ein gewisser Sinn für das notwendige Benehmen oder Verhalten geweckt.

Wir wollen versuchen, die alte Weisheitslehre für die Menschheit wiederherzustellen: So wie Du lebst, wirst Du nach dem Tode sein. Es ist eine einfache Lehre, und sie ist so logisch, sie wendet sich an uns. Einige mögen anfänglich darüber verstimmt sein, sie mag ihnen nicht gefallen; aber es liegt eine Idee darin, die wegen ihrer Logik, wegen ihrer Gerechtigkeit schließlich im Bewußtsein Wurzeln schlagen wird.

Wer Kāma-Loka und Devachan verstehen will, der studiere sich selbst jetzt, und er wird wissen, was er bekommen wird. Genau das. Sie werden die Fortsetzungen dessen sein, was Sie jetzt sind. Was wird einem Menschen zustoßen, der sich dem Laster hingibt? Er erntet die Folgen seiner Missetaten. Er lernt daraus die Lektionen, die dem Leiden entspringen. Wenn ein Mensch sein Gemüt mit rohen Gedanken und bösen Träumen anfüllt, dann wird er dadurch für lange Zeit durch Leiden lernen, denn die Wirkungen und Folgen für seinen Geist und Charakter ergeben sich unmittelbar. Er leidet, er empfindet Qualen, er zahlt die Strafe, er hat sein inneres System vergiftet, und er wird erst Frieden finden, wenn sich das Gift selbst herausgearbeitet hat, wenn er sich neugestaltet, das heißt, neugeformt hat. Dann wird er wieder Frieden haben, dann wird er wieder in Ruhe schlafen können.

Studieren Sie sich selbst in Ihrem täglichen Bewußtseinszustand; und studieren Sie auch die Art Ihrer Träume. Warum stehen beide in Zusammenhang? Weil Ihre Träume aus Ihrem eigenen Denken stammen und daher ein Teil Ihres eigenen Bewußtseins sind. Ein Mensch hat in seinen wachen Stunden böse Träume, üble Gedanken; wenn er schläft, hat er Alpträume. Er lernt daraus während des Schlafens, aber er wird im Schlaf sicher keine himmlischen Träume haben, denn er hat sein Denken mit gräßlichen, haßerfüllten, niedrigen und erniedrigenden Gedanken erfüllt. Er hat keine himmlischen Substanzen gebildet.

Das ist die Antwort: Kāma-Loka ist einfach ein Bewußtseinszustand, in den das Bewußtsein des Menschen nach dem Tode eintritt, weil er während seines Lebens bestrebt war, diese Art von Bewußtsein zu bilden. Kāma-Loka wirkt sich selbst aus, und dann erhebt er sich oder sinkt er in sein entsprechendes Schicksal: in ein schwaches Devachan, oder in überhaupt kein Devachan, seinem Wesen entsprechend. Mit anderen Worten: Wenn er sich den Charakter X geschaffen hat, wird er nach dem Tode den Charakter X haben, welcher Art er auch sei. Er wird nicht den Charakter Y oder Z oder A oder B haben. Umgekehrt wird ein Mensch, der sich während seines Lebens stets im Zaume hielt, der Selbstkontrolle übte und hochherzig lebte, genau das gleiche Gesetz erfahren: Sein nachtodlicher Zustand in Kāma-Loka wird unbewußt sein, oder nahezu unbewußt, weil er in seinem Innern keine Neigungen für Kāma-Loka entwickelt hat. Wahrscheinlich wird er ein glückseliges Devachan erleben.

Angenommen, ein Mensch hat überhaupt keinen ausgeprägten Charakter, er ist weder besonders gut noch besonders schlecht. Welcher Art wird sein Zustand nach dem Tode sein? Er wird ein farbloses Kāma-Loka haben, nichts besonders Schlechtes; und er wird ein farbloses Devachan haben, nichts besonders Schönes oder Segensreiches. Es wird alles wie eine Art verschwommener, ungreifbarer Traum sein. Es wird belanglos sein, und folglich wird alles belanglos sein, nachdem er gestorben ist.

Oder nehmen Sie den Fall eines jungen Menschen auf schlechten Wegen, der sich – sagen wir – in mittlerem Alter ändert und den Rest seines Lebens tugendhafte Taten vollbringt und an seiner Vervollkommnung arbeitet. Wie wird sein Schicksal in den zukünftigen Welten sein? Wie ich Ihnen zuvor sagte, sind Kāma-Loka und Devachan einfach eine Fortsetzung dessen, was der Mensch ist, wenn er stirbt. So hat folglich ein schlechter, junger Mensch, der sich zu einem guten, alten Menschen wandelt, praktisch überhaupt kein Kāma-Loka widriger Art. Er wird bis zum letzten Heller für jede schlechte Tat, die er in der Jugend beging, zu zahlen haben – aber in seinem künftigen Leben. Seine schlechten Taten sind dort Gedanken-Samen. Doch da er sich im mittleren Alter besserte und ein reines, sauberes Leben als anständiger Mensch führte, wird sein Kāma-Loka sehr mild sein, weil es einfach eine Fortsetzung dessen sein wird, was er bei seinem Tode war, und das Devachan wird entsprechend ausfallen.

Man kann auch schon vor Eintritt des Todes im Kāma-Loka und im Devachan sein; ja, man kann sich während der Verkörperung sogar im Avíchi-Zustand befinden. Aus dieser Tatsache sollten wir eine sehr wichtige Folgerung ziehen: Wenn wir als verkörperte Männer und Frauen Kāma-Loka erleben können, werden wir es auch nach dem Tod durchlaufen; und nach genau dem gleichen Gesetz werden wir, wenn wir während unserer Verkörperung geistige Bestrebungen, Träume spiritueller Art oder spirituellen Gepräges und Charakters haben, das Devachan nach dem Tode durchleben. Um es zu wiederholen: Kāma-Loka ist eine Weiterführung oder Fortsetzung dessen, was Sie während Ihres Lebens gewesen sind, und zwar bis es sich ausgewirkt hat. Wenn Sie Ihr Denken, Ihren Geist und Ihr Herz an Dinge hängen, die Ihnen Schmerz bringen, die Ihnen Leiden schaffen, weil Sie selbstsüchtig sind und halsstarrig aus Stolz und Egoismus, dann werden Sie nach dem Tode mit Sicherheit den gleichen Bewußtseinstendenzen folgen. Es kann nicht anders sein. Sie sind einfach Sie selbst. Daher sind Devachan und Kāma-Loka die Weiterführungen oder Fortsetzungen der jeweils entsprechenden gleichen Bewußtseinszustände, die Sie auf der Erde durchlaufen haben – mit diesem einen Unterschied: daß Sie, mit dem Verlassen des Körpers, der zugleich eine Blende und ein Schutzschild ist, ähnlich einem Gedanken sind – ähnlich einem bloßen Gedanken. Und wenn Ihr Denken während des Lebens bei schrecklichen Dingen verweilte oder wenn Sie während Ihrer Verkörperung Ihrem Denken gestattet haben, in diese Richtungen zu gehen, dann wird der Makel nicht von Ihnen abgewaschen werden, nur weil Sie den Körper abgelegt haben. Ihr Denken, das Sie selbst sind, wird fortdauern, und Sie werden durch Kāma-Loka hindurchgehen und jene Phase des Denkens erschöpfen müssen. Es wird absterben müssen, so wie ein Feuer abbrennen muß.

Gleichermaßen, in der Tat genauso, werden Sie, wenn Sie im Leben schöne Gedanken, großartige Gedanken, erhabene Gedanken gehegt haben, nach dem Ablegen Ihres Körpers gewiß das gleiche im Devachan erleben, nur tausendfach stärker, weil der Körper nicht mehr behindert. Wenn Sie also wissen wollen, was Ihr Schicksal nach dem Tode bringen wird, so studieren Sie sich jetzt selbst und lassen Sie sich warnen. Es gibt eine sehr wichtige und zutreffende Lehre, die wir aus dieser Tatsache ziehen können, gerade aus dieser Tatsache. Sie können jetzt Ihren Zustand nach dem Tode so gestalten, wie Sie ihn haben wollen, ehe es zu spät ist. Nichts im Universum kann verhindern, daß Ihnen die Glückseligkeit des Devachan zuteil wird, oder vielmehr, daß Sie sie sich selbst schaffen. Daraus folgt: nehmen Sie sich selbst in die Hand.

Das ist die Lehre von Kāma-Loka. Das ist die Lehre von Devachan. Es ist sehr einfach. Alle die verwickelten, abstrakten Fragen ergeben sich meines Erachtens weitgehend aus der Unfähigkeit, die Prinzipien der Lehren zu verstehen. Wenn Sie sich zur Ruhe legen, dann träumen Sie oder sind unbewußt. Wenn Sie sterben, träumen Sie oder sind unbewußt. Sie haben, wenn Sie in der Nacht schlafen, schlechte oder gute Träume, oder sind unbewußt. Wenn Sie sterben, werden Sie schlechte oder schöne Träume haben, oder werden unbewußt sein – alles hängt von dem einzelnen Menschen ab und von dem Leben, das er führte. Daher sind Kāma-Loka und Devachan und, in der Tat, Avíchi nicht Dinge, die Ihnen plötzlich begegnen werden, wenn Sie sterben; vielmehr wird Ihr Bewußtsein, weil es während Ihrer Verkörperung von bestimmter Art war – auf die eine oder andere Art – fortdauern, nachdem Sie gestorben sind.

Hier erkennt man die Bedeutung der Ethik, und warum alle großen Weisen und Seher zu jeder Zeit versucht haben, die Menschen zu lehren, ihre Gedanken zu vergeistigen, ihre Gedanken zu veredeln, ein Leben aus dem Herzen zu führen, und die Dinge abzulegen, die böse und schlecht sind. Das Devachan wartet nicht auf Sie; Kāma-Loka wartet nicht auf Sie – ich meine im Sinne von absoluten, im Moment völlig von Ihnen getrennten Zuständen. Wenn Sie sie im Leben erfuhren, werden Sie sie nach dem Tode erfahren. Der Mensch, der keine haßvollen, widerwilligen, abscheulichen oder giftigen Gedanken gegenüber einem anderen hegte, mit anderen Worten: dessen Herz und Geist nie Niststätten des Bösen waren, wird weder im Leben noch nach dem Tode ein Avíchi durchlaufen und auch kein unglückliches Kāma-Loka im Leben oder nach dem Tode. Ihm wird ein wundervolles Devachan zuteilwerden, und er wird erfrischt, gekräftigt, gestärkt und erneuert zurückkehren, um ein neues Leben mit allen günstigen Voraussetzungen zu beginnen.

Nach dem Tode sind Sie weiterhin genau das, was Sie sind, wenn Sie sterben. Das ist alles. Darin liegt das Geheimnis von Kāma-Loka und Devachan und aller dazwischenliegenden Zustände des Bardo, wie die Tibeter es nennen. Alles übrige sind Einzelheiten, und deshalb bleibe ich dabei, in meinen öffentlichen Ansprachen und in meinen Schriften zu betonen, daß der Tod nur ein Schlaf ist. Der Tod ist ein vollkommener Schlaf und der Schlaf ein unvollkommener Tod. Es ist buchstäblich so. Wenn Sie schlafen, sind Sie zu einem Teil tot. Wenn Sie sterben, sind Sie in vollkommenem Schlaf. Wenn Sie diese einfachen Ideen begreifen, werden Sie die ganze Lehre, bildlich gesprochen, auf Ihrem Daumennagel verzeichnet haben, ein daumennagelgroßes Bild.

Nun folgt noch ein anderer Gesichtspunkt: Ich habe Leute sagen hören, daß sie nicht im Devachan bleiben möchten, weil es eine Zeitverschwendung sei. Das ist ein Mißverständnis. Ebensowohl könnten Sie sagen: Ich möchte heute Nacht nicht schlafen, es ist eine Zeitverschwendung. In Wirklichkeit haben Sie die Ruhe nötig, die Erholung, die Assimilation der Erfahrungen des vergangenen Lebens. Sie werden dadurch gestärkt, Sie wachsen dadurch. Daher ist das Devachan, obwohl es keine Zeit der Evolution ist, doch eine Zeit des Aufbaues, der Erholung, der Assimilation, der inneren Verarbeitung und der Stärkung; es ist ebenso nötig, wie die Nachtruhe des Menschen im Bett für seinen Körper nötig ist.

Es wird in der menschlichen Entwicklung eine Zeit kommen, wo selbst das Devachan nicht länger erforderlich sein wird, weil der Mensch gelernt haben wird, im höheren Teil seines Wesens zu leben. Devachan ist, wie schön es auch sein mag, eine Illusion. Es wird in der Zukunft die Zeit kommen, wo die Menschen nicht länger nachts schlafen müssen; sie werden es nicht nötig haben. Sie werden verschiedene Arten von Körpern haben und so lernen, ohne Devachan auszukommen und beinahe unverzüglich wieder zu reinkarnieren, um der Menschheit und allen anderen Wesen zu helfen – was sie am meisten schätzen. Diese Menschen sind die Meister, wie wir sie heute nennen, in all ihren Stufen. Doch für uns gewöhnliche Menschen ist das Devachan eine notwendige Episode.

Das Devachan ist jedoch, wenn es auch eine schöne Erfahrung des Bewußtseins ist, eine Erfahrung des höheren persönlichen Bewußtseins, des höheren Teils unseres menschlichen Egos, des höheren Teils des persönlichen Menschen, sozusagen seines Aromas. Auf dieser Tatsache beruht die Übung, die eine Abkürzung des Devachan zustandebringt. Wenn Sie während Ihrer Verkörperung lernen, außerhalb der Persönlichkeit und im Ewigen zu leben, wenn dies Ihre Gewohnheit wird, dann wird Ihr Devachan entsprechend verkürzt werden, weil Sie es nicht länger wünschen würden. Sie werden es nicht nötig haben, Ihr Geist neigt dann nicht zur selbstsüchtigen, beglückenden Befriedigung der Seele. Das ist nämlich das Devachan: ein Narrenparadies. Im Vergleich mit der Wirklichkeit ist es eine Illusion. Doch gerade, weil Männer und Frauen nach diesen Dingen streben und leiden, um sie zu erlangen, wird das Devachan, so sie es erleben, durch das unendliche Mitleid der Natur zur Zeit der Ruhe und Entspannung, der Wiedererstarkung, der Verarbeitung, der Assimilation. Doch während wir wachsen, während die Zeitalter dahinziehen, werden wir in künftigen Zeitaltern lange nicht so verzweifelt nach diesen beglückenden Befriedigungen der Seele streben. Wir werden unser Glück in unpersönlichen Neigungen zu schönen Dingen finden, zu Dingen, die zum höheren geistigen Menschen gehören und nicht zu der verlangenden menschlichen Seele.

Darin liegt die Schulung, die allen Chelas gelehrt wird, diese Wahrheit, und nicht mehr. Erheben Sie sich aus der Persönlichkeit, damit Sie lernen, sie als ein willfähriges, fügsames Instrument zu benutzen, und leben Sie im spirituellen Teil Ihrer selbst, das heißt, unpersönlich; leben Sie ausnahmslos so, daß Sie nicht beherrscht werden von Ihrem eigenen Hunger nach Dingen, die Ihnen gefallen und Ihnen helfen und Ruhe verschaffen; leben Sie vielmehr im Geistigen, im Universalen und alle diese anderen Dinge werden Ihnen dann von selbst zufallen.

Das Geheimnis der menschlichen Konflikte

Das Geheimnis der Konflikte nicht nur zwischen Menschen, sondern ebenso im Universum, liegt im Vorhandensein von Stufen von Unwissenheit und Selbstsucht und im Fehlen von Altruismus – dem edelsten Gefühl, das sich im Herzen der Menschen regen kann. Es ist nur Altruismus, das Denken an andere, das Hintanstellen unserer selbst, wodurch wir uns selbst vergessen; und im Vergessen verlieren Leid und Sorgen und die winzigen Glückseligkeiten, die wir hegen und pflegen und unsere Persönlichkeit nennen, ihre Bedeutung.

Sehen Sie nicht, daß es nur einen einzigen Pfad gibt, der zu Weisheit, universalem Frieden und äußerster Glückseligkeit führt, und daß er darin besteht, das Unbedeutende dem Ganzen, das kleine Ich den Interessen des Ganzen unterzuordnen, wodurch es möglich wird, am universalen Leben teilzuhaben, anstatt nur im eigenen beschränkten Bereich wirklichen Verstehens zu leben? Hier liegt die Lösung für alles. Gerade dieses Geheimnis hat die moderne Welt vergessen. Sie vergaß, daß im Selbstvergessen Größe, Frieden und Glück liegen, und daß unser Mangel an Frieden und unser Unglück daraus entstehen, daß wir unsere kleinen Belanglosigkeiten und Sorgen hegen und pflegen. Denn diese Begierden und Haßgefühle zerfressen den Lebensnerv unseres inneren Wesens und dann leiden wir, fühlen uns verletzt und erheben unsere Augen zu Gott oder den Göttern und rufen: „Warum geschah dies gerade mir, gerade uns? Was habe ich, was haben wir getan?“ Doch die bloße Kenntnis um das Vorhandensein eines spirituellen und natürlichen Gesetzes sollte uns klarmachen, daß alles, was im Großen wie im Kleinen geschieht – das Kleine ist ja im Großen enthalten – dem göttlichen Gesetz folgt. Elend, Unglück, Konflikte, Not, Armut und die ganze Reihe der uns tangierenden Unannehmlichkeiten entspringen der Gleichgültigkeit der Menschen dem kosmischen Gesetz gegenüber. So einfach ist das.

Daß unsere moderne Zivilisation den großen Einklang verloren hat liegt am Vergessen dessen, daß universale Bruderschaft eine Tatsache in der Natur ist. Damit ist nicht nur eine sentimentale oder politische Bruderschaft gemeint, sondern daß wir alle aus einer gemeinsamen, kosmischen Quelle stammen, und daß das, was einen berührt, alle berührt; und daß deshalb die Interessen des Einzelnen, wenn sie mit den Interessen aller verglichen werden, unbedeutend sind. Aber vergessen Sie nicht, daß die Vielfalt aus Einzelwesen zuammengesetzt ist, so daß Sie keinem einzigen Individuum etwas Ungerechtes, Grausames oder Übles zufügen können, ohne zugleich auch die Gesamtheit zu verletzen. Dies sind einfache Gesetze. Sie wurden der Menschheit seit unvordenklicher Zeit eingeprägt, zu einer Zeit, die der unseren so weit vorausging, daß von den sogenannten ewigen Bergen noch nicht einmal geträumt wurde, weil sie noch im archäozoischen Schlamm ruhten.

Nun, diesen verlorenen Einklang, diese vergessene Wahrheit, die in Vergessenheit geratene Bruderschaft der Menschen kann man auch anders ausdrücken: es ist der Verlust der Überzeugung, daß die Natur im Grunde von spirituellem Charakter ist, vom Gesetz regiert wird und für ein gutes Verhalten Belohnung und für ein schlechtes Verhalten Bestrafung bereithält. Wir haben vergessen, daß diese zwei, Belohnung und Bestrafung, so unfehlbar sind wie das kosmische Gesetz selbst, denn sie sind nur dessen Ausdrucksweisen. Wenn ein Mensch es zuläßt, daß diese wunderbaren und doch so einfachen Gedanken in sein Bewußtsein einsickern, so daß sie zu einem Teil jedes Lebensnervs seines Wesens und seines Empfindens werden, wird er einen anderen Menschen nie mehr absichtlich verletzen. Er kann es einfach nicht. Es entspricht nicht mehr seinem Charakter. Er hat sich selbst aus dem Schmutz gezogen und den goldenen Sonnenschein erblickt. Er erkennt, daß im Grunde alles, alle Wesen, eins sind und daß das Eine so wichtig ist wie das Ganze und das Ganze so wichtig wie das Eine; und daß das Eine innerhalb des Ganzen unendlich wichtiger ist als das Eine für sich alleine genommen, für sich selbst. Wenn die Einzelwesen ihre Gedanken in eine solche Richtung lenken würden, dann wäre das kosmische Gesetz der Harmonie für endlose Zeit gesichert.

Das haben wir verloren: die Überzeugung, daß wir für unsere Gedanken und Gefühle entweder durch Belohnung oder durch Bestrafung bezahlen müssen; daß wir unfehlbar Gutes ernten, wenn wir Gutes tun, Gutes denken und in der rechten Art und Weise fühlen und wenn wir Samen der Gerechtigkeit, Ehrenhaftigkeit, Rechtschaffenheit und Anständigkeit im Umgang mit allen anderen Menschen aussäen – allen anderen, nicht nur im Umgang mit „meinen“◊√ Freunden, sondern mit allen Wesen. Denn der Kosmos ist eine Einheit und kennt keine Unterteilungen oder menschliche Trennungen. Das haben wir verloren. Darin liegt unser Versagen. Das ist das Geheimnis aller menschlichen Konflikte.

Sie sollten sich darüber klar sein, daß dieser Gedanke wegen des äußerst komplexen Charakters der modernen Zivilisation – allein deshalb – eine verwirrende Reihe schwieriger Fragen nach sich zieht. Aber jeder, der das Herz am rechten Fleck hat, kann diese Fragen klären, weil er durch den Gott im Inneren erleuchtet ist, wenn er seinem Herzen erlaubt zu sprechen. Sein Urteil ist dann eigentlich unfehlbar. Wenn ich vom Herzen spreche, meine ich damit nicht Emotion; ich meine den menschlichen Instinkt für aufrichtiges Ehrgefühl, innere Moral und spirituelle Sauberkeit. Wir Abendländer waren tatsächlich viel zu lange Feiglinge. Wir versuchten immer, unser Fehlverhalten jemand anderem aufzubürden. Deshalb schufen wir für unseren Zweck ein reines Phantasieprodukt, Jesus Christus genannt, und luden auf seine Schultern unsere gesamten Sünden. Dann bildeten wir uns noch ein, wenn wir das nur stark genug glauben könnten, würden wir durch das Blut des Lammes rein gewaschen werden. Ja, aber was ist dann mit denen, die durch mein Übeltun zu leiden hatten? Hilft es ihnen, wenn ich gerettet bin? Was ist mit jenen, denen ich in meiner von Dummheit, Ignoranz und Boshaftigkeit gezeichneten Vergangenheit vielleicht böswillig den Stoß ins Elend versetzte, anstatt ihnen eine brüderliche Hilfe angedeihen zu lassen, die es ihnen erlaubt hätte, nach oben zu kommen? Was ist mit ihnen? Sehen Sie nicht, daß Ideen solcher Art eine kosmische Philosophie in ihr gerades Gegenteil verkehren? Sehen Sie nicht, daß das alles falsch ist? Was dem Einzelnen in Aussicht gestellt wird, ist gar nicht so bedeutsam. Viel wichtiger ist, was mit allen anderen ist, mit der unüberschaubaren, sich abquälenden, hoffenden, sich abmühenden, leidenden Masse. Das allein ist wichtig. Jeder Geschädigte begreift dies und empfindet so.

Diese unvermeidliche Bestrafung oder die von Liebe gezeichnete Belohnung nennen wir die Lehre der Konsequenzen, die Lehre von Karma: was Du säst, das mußt Du ernten, jetzt oder später. Da gibt es kein Entrinnen. In den Dingen des täglichen Lebens ist uns das vollkommen vertraut. Dazu bedarf es keiner Argumente. Wenn Sie Ihre Hand in eine Flamme halten oder einen elektrischen Draht berühren, wird Sie das Feuer nicht etwa nicht brennen, weil Sie dumm und unwissend sind, und Ihre Unkenntnis der Gesetze der Elektrizität wird Sie nicht davor bewahren, eben durch sie vielleicht getötet zu werden.

Glücklicherweise gibt es dazu noch eine andere, eine schöne Seite. Unser bester Lehrer, unser größter Freund, ist das Leid, das wir erfahren. Welche Eigenschaften sind es, die ein menschliches Herz so gütig machen, daß man das Leid der anderen versteht und mitfühlen kann? Sympathie und Mitgefühl. Wenn wir leiden, wachsen wir. Nichts erweicht das Herz so sehr wie eigenes Leid. Aber es stählt auch gleichzeitig unseren Charakter. Das ist ein seltsames, aber schönes Paradoxon. Es macht uns stärker. Wer niemals gelitten hat, kann nicht nachfühlen. Er ist tatsächlich unentwickelt und nur auf sich selbst fixiert.

Wer ist ein großer Mensch? Ein Mensch, der nie gelitten hat oder jemand, dessen Leiden ihm Stärke, innere Kraft und Vision verliehen hat, der weiß, was es heißt, zu leiden und darum aufgrund eigener Erfahrung niemals fähig ist, Leid über andere zu bringen? Sein Herz hat begonnen zu erwachen. Sein Bewußtsein wird für diese einfachen kosmischen Wahrheiten wieder aufgeschlossen.

Sie sehen, wie wunderbar dieses Universum aufgebaut ist. Trotz unserer Dummheit und Unwissenheit, trotz der Tatsache, daß wir von unseren edelsten Empfindungen, die wir anderen Menschen gegenüber haben können, von Altruismus, Liebe und Mitgefühl, keinen Gebrauch machen, können wir durch wirkliches Leid, größte Dummheiten und tiefste Unwissenheit den richtigeren, besseren Weg ausfindig machen. Mit jedem Lernschritt wachsen wir und werden reifer. Wenn wir uns auf diesem langsamen, mühe- und schmerzvollen Evolutionsweg lange genug vorwärts gequält haben, kommen wir schließlich an einen Punkt, wo wir zu uns selbst sagen: jetzt reicht es, ich habe genug. Ich werde von jetzt ab mein Leben selbst in die Hand nehmen und durch eine von mir selbst gelenkte Evolution regieren. Von jetzt an wähle ich meinen eigenen Pfad. Nichts wird meinen Willen in diese oder jene Richtung ablenken. Dort sehe ich das Ziel, und es ist ein kosmisches Ziel. Ich will nicht länger ein Sklave zufälliger Umstände sein. Von jetzt an bestimme ich meinen Weg selbst. Ich suche mir mein Schicksal selbst aus. Ich habe das Gesetz erkannt.

Es ist ein seltsames Paradoxon, daß ein Mensch, dessen Seele zu erwachen beginnt und dessen Augen sich öffnen, der ernstlich versucht, seine Arbeit zu tun, im Leben seine Pflicht erfüllt, der seinen Mann steht und aufrecht zu leben versucht, sich wegen des äußerst komplexen und, wie ich denke, wirklich katastrophalen Zustandes des modernen Lebens in tausendmal größere Schwierigkeiten verwickelt sieht als jemand, der nur so dahinlebt, weil er wie die Tiere zum Nachdenken zu einfältig ist. Möchten Sie nur ein menschliches Tier sein, das nicht denkt, nicht überlegt und über kein gottähnliches Empfinden dafür verfügt, daß es seinen Weg im Leben selbst wählen kann?

Es ist deshalb meine Überzeugung, daß alle menschlichen Konflikte ein Ende, ein ziemlich schnelles Ende hätten, wenn wir alle unsere individuelle Verantwortlichkeit gegenüber unseren Mitmenschen erkennen würden. Ich bin sicher, gerade diese eine Regel würde das ganze Gewebe des menschlichen Lebens von oben bis unten durchdringen. Wir würden als Einzelwesen unsere Zusammengehörigkeit in einer menschlichen Hierarchie fühlen und begreifen, daß das, was den Einen angeht, alle angeht, im Guten wie im Schlechten.

Ich habe mich oft gefragt, wieviele Menschen in den stillen Stunden der Nacht an diese Dinge denken. Vielleicht dann, wenn sie ratlos und verwirrt sind und darüber nachsinnen, welchen Weg sie einschlagen sollen oder dann, wenn sie sich fürchten, einem Weg zu folgen, der nicht der Weg der breiten Masse ist. Die Masse hält sich lieber an das, was sie „gesunden Egoismus“ nennt. Ich kann mir keine teuflischere oder satanischere Vorstellung denken als die, die mit diesem Ausdruck gemeint ist. Es ist eine bewußte Verdunklung jeder edlen Regung der menschlichen Seele. Fragen Sie sich selbst: Tun diese Leute etwas, weil es schön, recht und gerecht ist, weil es allen Menschen Glück, Sicherheit und Frieden bringt? Nein, diese Verfechter des gesunden Egoismus sagen: „Wenn ich etwas tue, dann deswegen, weil es letzten Endes mir und den Meinen zum Vorteil gereicht.“ Jetzt stellen Sie sich vor, in den verschiedenen Teilen der Welt würden die Menschen diesem Evangelium folgen, was würden Sie sehen? Genau das, was Sie heutzutage sehen können. All das, jeder menschliche Konflikt könnte verhindert werden. Wohlgemerkt, ich meine damit nicht etwa eine Unterdrückung von Meinungsverschiedenheiten. Sie sind für uns Menschen eines der natürlichsten Dinge. Meinungsverschiedenheiten, wenn sie ehrlich, höflich und uneigennützig ausgetragen werden, verleihen dem Leben Würze und Reiz, verleihen ihm Zauber und Schönheit. Die Franzosen haben ein wundervolles Sprichwort: Du choc des idées jaillit la lumière, „Aus dem Widerstreit der Meinungen entspringt das Licht.“ Das ist der Grundsatz aller Kongresse, aller Parlamente, aller Vereinigungen und aller sonstigen Zusammenschlüsse von Menschen: Alle funktionieren erst durch Ideenaustausch und die Ausschöpfung der besten Ideen, die vorgebracht werden.

Ich spreche also nicht von Meinungsverschiedenheiten. Diese sind natürlich. Ich meine Konflikte, Haß, Mangel an Achtung für den Mitmenschen, die Unfähigkeit, in ihm etwas zu sehen, was ebenso wunderbar ist wie das, was er in uns sehen kann. Haben Sie sich schon einmal nach der so einfachen Regel gerichtet, dem anderen, mit dem Sie sprechen, in die Augen zu sehen? Dabei aber nicht zu versuchen, ihm Ihre Idee aufzuzwingen, wie wir es alle tun; dabei aber nicht zu versuchen, ihn zu überzeugen, damit er dasselbe glauben möge, was Sie glauben; nur ganz einfach in seine Augen zu schauen. Wissen Sie, daß Sie in ihnen etwas Wunderbares sehen können? Eine Welt von bisher nicht geschauter und unbekannter Schönheit. Die ganze Seele dieses Menschen ist bereit, Ihnen entgegenzukommen, wenn Sie ihm dazu eine Gelegenheit geben. Natürlich kann er sich von Ihnen ebensogut zurückgestoßen fühlen, wie Sie sich von ihm. Vielleicht fürchtet er sich vor Ihnen genauso, seine menschliche Seite zu zeigen, wie Sie selbst vor ihm.

Ich versichere Ihnen, daß die Menschen, wenn sie einander vertrauen und Anständigkeit erwarten würden, diese auch bekämen. Ich habe dieses Mittel niemals fehlschlagen sehen. Ich will Ihnen offen sagen, daß ich noch nie in meinem Vertrauen enttäuscht wurde, weil ich mein Vertrauen stets rückhaltlos und im Sinne einer Aufforderung gegeben habe. Das wirkt, und auf dieses Prinzip gründet sich auch die beste Verfahrensweise des modernen Geschäftslebens: gegenseitiges Vertrauen und gegenseitige Ehrenhaftigkeit. Wer sich nicht an diese Dinge hält, erlebt sehr bald einen Rückschlag.

Ich habe in allerletzter Zeit sagen hören, ständiger Kampf sei für die Menschheit gut, weil die Menschen dadurch stark würden. Gewiß, ich habe von Boxern gehört. Aber ich habe keinen von ihnen kennengelernt, der wegen seiner Genialität besonders berühmt wurde, keinen, der die Welt mit seinem Geist entflammt hätte, keinen, der den Lauf des Schicksals oder der Geschichte entscheidend beeinflußt hätte. Menschliche Pachydermen, menschliche Dickhäuter, haben ihren Wert, aber sie stellen nicht gerade jenen Typ dar, den wir wählen, wenn wir einen Menschen zur Bewältigung von besonders schwierigen, auf der Kippe befindlichen und verwickelten Angelegenheiten brauchen. Dazu benötigen wir einen Menschen, der nicht nur Verstand, sondern auch Herz hat. Ein reiner Verstandesmensch, der kein Herz besitzt, kann einen anderen Menschen, der über viel Herzensstärke verfügt, niemals verstehen. Letzterer wird dem Herzlosen jedoch immer wesentlich überlegen sein. Ein herzloser Mensch ist im psychologischen Sinne nur halb fertig und gewaltig im Nachteil. Jeder andere kann ihm durchaus überlegen sein. Herz und Verstand zusammen machen erst den vollständigen Menschen, denn bei diesem vereinigen sich der Gesang des Herzens und die Philosophie des Verstandes zu einem wahren Verstehen.

Sollen wir mit diesen endlosen Konflikten fortfahren? Ich glaube, sie werden ein Ende haben. Ich glaube, daß Schönheit und Achtung selbst jetzt zu finden sind. Der Weg für einen Neuanfang liegt in uns selbst: in mir und in Ihnen.

Die göttliche Entsprechung

Sympathie verhält sich zu Liebe oder kosmischer Harmonie wie Bewußtsein zu göttlicher Intelligenz. Anders ausgedrückt: Erwachte oder tätige Liebe äußert sich in dem, was die Menschen Sympathie nennen. Tätige und zu Selbstwahrnehmung erwachte Intelligenz äußert sich als Bewußtsein. Dies umfaßt auch das Selbstbewußtsein, das aber nur ein sich selbst widerspiegelndes Bewußtsein ist, das sich selbst „sieht“ oder „fühlt“. Alles im Universum und konsequenterweise alles im Menschen, der ja ein Kind dieses Universums ist, läßt sich daher letztlich auf das Eine zurückführen. Ob Sie dieses Eine das höchste oder das erhabenste Prinzip im Kosmos nennen, ist nur eine Frage der Wortwahl. Aus diesem Einen – das in keiner Weise mit Monotheismus gleichgesetzt werden kann – dieser abstrakten Einheit, erwacht all das zur Tätigkeit, was wir Intelligenz, Bewußtsein, Vernunft, Sympathie, usw. nennen. Darum können wir sagen, daß sich Sympathie zu Liebe, das heißt letztlich zu kosmischer Harmonie, wie Bewußtsein zu kosmischer Intelligenz verhält.

Zivilisation wird aus Gedanken erbaut

Der Gedanke ist die treibende Kraft im Menschen. Er steht hinter unseren Emotionen und kann sie sogar kontrollieren. Obwohl sich manchmal ein Gedanke aus einem Gefühl entwickelt, glaube ich, daß auf einer höheren Ebene beide eins sind. Die Welt, in der wir leben, ist eine Welt denkender und fühlender Menschen. Wenn die Welt schlecht ist, dann deshalb, weil unsere Gedanken und Gefühle sie so gemacht haben. Wenn die menschlichen Verhältnisse unharmonisch, zuweilen sogar diabolisch sind, und wenn anstelle von Vernunft und Recht nackte Gewalt regiert, dann ist es so, weil unsere Gedanken sie so gemacht haben.

Ideen kontrollieren Handlungen. In ihnen muß man die Ursache sehen für die Unruhe in der Welt, in der wir leben, und natürlich auch das Heilmittel. Wenn sich jemand ändern will, muß er vor allem damit anfangen, seine Gedanken zu ändern. Als Folge davon wird er beständig in einer neuen Weise fühlen. Das ist der einzig dauerhafte Weg, denn er bewirkt eine Veränderung des Charakters. Wenn Sie einen Streit verhüten wollen, müssen Sie Maßnahmen ergreifen, bevor der Streit sich ankündigt. Wenn Sie versuchen, sich in einen Streit zwischen zwei Personen einzumischen, werden Sie wahrscheinlich nicht nur sich selbst verletzen, sondern es werden drei statt zwei streiten. Sie können keinesfalls einen Streit beenden, indem Sie den Streitenden Vorhaltungen machen. Wenn Sie so verfahren, begegnen Sie den Menschen nicht auf der Ebene, wo sie ansprechbar sind, Sie haben sie nicht verändert und nicht an ihr Denken und an ihre Gefühle appelliert. Bestenfalls haben Sie Beruhigungsmittel verabreicht.

Lassen Sie sie erkennen, daß sie noch etwas schlechter als Tiere handeln, wenn sie streiten, denn die Tiere haben weder unseren Verstand noch unsere Vernunft. Appellieren Sie mit Ideen und erwecken Sie Gedanken. Erfüllen Sie ihr Bewußtsein mit neuen Gedanken und neuen Gefühlen. Dann werden sie anfangen zu verstehen, daß man einen Streit nicht durch rohe Gewalt entscheiden kann, denn das würde ganz einfach bedeuten, daß derjenige, der den Kürzeren gezogen hat, nur seine Zeit abwartet, um herauszufinden, ob er den anderen mit brutaler Gewalt übertrumpfen kann. Die Menschen müssen somit begreifen, daß sich Kriege nicht verhindern lassen, indem man Kriege führt, um sie zu verhindern. Das gelang nie und wird auch nie gelingen, denn es ist eine falsche Psychologie und ebenso töricht.

Jede Zivilisation wird aus Gedanken erbaut. Wenn Sie innerhalb einer Zivilisation eine Änderung bewirken wollen, müssen Sie versuchen, die bisher akzeptierten Gedanken durch neue zu ersetzen. Was ist eine Erfindung? Gedanken. Was sind Literatur, Philosophie, Religion und Wissenschaft? Gedanken. Was ist das Fundament der Sozialstruktur, in der wir leben? Gedanken. Jede Bewegung in der heutigen Welt beruht auf Gedanken, seien diese sozialer, politischer, philosophischer, religiöser oder wissenschaftlicher Natur. Neun von zehn dieser Bewegungen entstanden im Kopf eines einzigen Menschen und breiteten sich aus. Sie sehen es in den Blättern der Geschichte, welch verheerende, katastrophale Auswirkungen Gedanken haben können. Was ist Krieg? Er ist nicht nur das Resultat von Gedanken, er ist der Gedanke selbst. Wegen Ideen, wegen Gedanken kämpfen die Menschen. Wenn wir einen neuen Weltkrieg verhindern wollen, müssen wir vor seinem Ausbruch damit beginnen, der Welt eine neue Gedankenrichtung zu geben.

Weil diese Wahrheiten so einfach sind, gehen sie an uns vorüber, berühren sie uns kaum, und niemand denkt über sie nach. Doch es sind die Ideen, die die Welt erschüttern. Es sind die Ideen, die die Welt erschaffen. Es sind die Ideen, die die Menschen vernichten und ihre Welt zerstören. Studieren Sie die Annalen der Geschichte. Beobachten Sie die erstaunlichen Resultate von Bewegungen, die anfangs vielleicht nur mit einer Handvoll entschlossener Leute begannen. Jahrelang arbeiten, predigen und wirken sie scheinbar ohne Erfolg. Dann, auf einmal, aus irgendeinem bemerkenswerten Grund, zündet die Idee und breitet sich wie eine Feuersbrunst aus. Manchmal nahmen Ideen die Menschen auf höchst erstaunliche Weise gefangen. Wie war das mit den Kreuzzügen, als die Menschen Heim, Herd, Wohnstätte und alles, was ihnen teuer war, verließen, um in einem fremden, weitentfernten und unbekannten Land gegen Andersgläubige zu kämpfen? Zehntausende von Menschen aus ganz Europa strömten zur Verwirklichung einer Idee zusammen. Noch bewerkenswerter war, daß diese merkwürdige und das Denken lähmende Idee sich sogar der Gedanken und der Einbildungskraft kleiner Kinder bemächtigte. Erinnern Sie sich an den Kinderkreuzzug? Kinder aus Deutschland, aus dem jetzigen Belgien, aus Holland, Frankreich, der Schweiz, machten sich plötzlich auf den Weg nach Südfrankreich und Italien, Jungen und Mädchen, von den tapsigen Kleinsten bis hin zu Dreizehn- und Vierzehnjährigen, rannten auf die Straßen und rotteten sich zu Tausenden zusammen, bis die Heerstraßen von ihren trippelnden Füßen schwarz waren. Sie wanderten Hunderte von Meilen, starben unterwegs zu Tausenden oder wurden von menschlichen Ungeheuern, die sich an ihnen bereicherten, aufs schrecklichste mißhandelt. Niemand weiß, wie diese Idee entstand. Plötzlich setzten es sich die Kinder dieser verschiedenen Länder in den Kopf: „Wir wollen kämpfen und das Heilige Grab befreien.“ Stellen Sie sich Kinder vor, die solche Reden führen! Natürlich übernahmen sie diese von ihren Eltern. Aber beachten Sie auch das psychologische Moment. Es erfaßte jedes Heim und entführte mindestens ein oder mehrere Kinder aus jeder Familie. Die Mütter und Väter konnten sie nicht aufhalten. Sie stahlen sich einfach in der Nacht davon. Sie benützten Nebenwege und abgelegene Pfade, um die großen Heerstraßen zu erreichen und dann gingen diese Banden hilfloser Kinder einfach südwärts, immer weiter nach Süden! Und das alles wegen einer Idee, eines Gedankens!

Welche Rolle spielte weiterhin die Idee, die der bemerkenswerten Tarantella zu Grunde liegt und so hervorragend von spanischen und italienischen Historikern, besonders von letzteren, beschrieben wurde? Plötzlich, ohne ersichtlichen Grund, überkam Männer und Frauen die Idee, daß sie tanzen müßten. Und so tanzten sie, tanzten und tanzten, bis sie am Ende bewußtlos, vollkommen erschöpft, zu Boden stürzten. Sie konnten einfach mit dem Singen und Tanzen nicht aufhören, weder der einzelne, die Gruppe, noch die Bevölkerung ganzer Landstriche und Distrikte. Die Ursache dafür war ein psychologisches Element, ein Gedanke, eine Idee.

Das gleiche ungesunde psychologische Element beherrscht heutzutage das Gedankenleben der Menschen. Die Menschen haben sich in die Idee verrannt, daß es unmöglich ist, einen neuen großen Krieg zu verhindern. Sie glauben es allen Ernstes. Das ist einer der Gründe, warum er auch ausbrechen wird, es sei denn, wir befleißigen uns eines gesünderen Gedankenlebens. Wodurch entsteht ein Krieg, wovon lebt er? Von Gedanken. Was verhindert einen Krieg? Unsere Gedanken, das heißt eine Änderung im Gedankenleben der Menschen. Indem man ihrem Gedankenleben eine andere Richtung gibt, würde man ihre Herzen, ihr Leben, ja, ihre Zivilisation verändern. Sollte ein Krieg kommen, dann allein nur deshalb, weil ihn die Menschen durch ihr Denken heraufbeschworen haben. Ihr Denken beeinflußt ihre Gefühle. Diese wiederum wecken ihr Mißtrauen und ihre Furcht. Aus bösem Denken entstehen weitere böse Gedanken. Aber Feuer läßt sich nicht mit Feuer löschen. Genausowenig können Sie einen Krieg durch Krieg verhindern. Dies ist so einfach wie das ABC. Dennoch erlauben wir solchen Gedanken, unsere Köpfe zu umschwirren. Wir haben uns bereits so an sie gewöhnt, daß wir ihnen keine Aufmerksamkeit mehr schenken, und doch liegt in ihnen das Geheimnis von allem Guten und allem Schlechten. Das Leben eines Menschen kann sich durch seine Gedanken zu Erhabenem verändern, aber genauso sicher kann der Mensch durch sein Denken zur Hölle fahren oder am Galgen enden. Die Gedanken bestimmen, ob ein Mensch ein Gentleman oder ein Flegel ist. Die Gedanken sind es, die den Mutigen oder den Feigling machen. Aus Gedanken werden Vergebung oder fortdauernder Haß geboren.

Aus diesen Gründen wurde die Theosophische Gesellschaft ins Leben gerufen, um zu versuchen, das Denken der Menschen auf bessere und höhere Dinge auszurichten und in ihren Seelen inspirierende und wohlwollende Ideen zu wecken. Warum gehen nicht alle Theosophen mit ihrem Essenskorb zu den Hungernden? Warum sitzen sie nicht an den Betten der Kranken und Sterbenden? Viele von uns tun dies und haben es getan. Aber unsere Hauptaufgabe im Leben ist der Versuch, die Armut zu beseitigen, anstatt an den Nöten der Armen Flickwerk zu leisten. Das wird nach und nach erreicht werden durch eine Veränderung der Gedanken der Menschen, so daß unsere Zivilisation erleuchtet wird. Danach streben wir unter anderen edlen Zielen. Keine andere Aufgabe ist weitreichender als diese. Sie geht mehr an die Wurzeln der Dinge als nur Pflaster und Salben auf eiternde Wunden aufzutragen. Auf einer noch höheren Ebene besteht unsere Aufgabe darin, den Menschen zu zeigen, welche Kräfte, welche Möglichkeiten und welche Fähigkeiten in ihnen liegen, von denen sich der heutige Durchschnittsmensch keine Vorstellung macht. Aber sie sind da. Die titanischen Intellekte, die größten Menschen, die jemals lebten, haben gezeigt, wozu der menschliche Geist fähig ist. Jeder normale Mensch trägt dieselben Möglichkeiten in sich. Ein Teil der Tätigkeit der Theosophischen Gesellschaft besteht darin, den Glauben daran wiederzuerwecken, denn als Folge davon werden die Menschen sich danach sehnen, sich von innen her zu veredeln; das, was innen ist, zu wecken und zu versuchen, größer und erhabener zu werden. In was für einer Welt würden wir dann leben! Bewirken kann dies allein ein entsprechendes Denken und ein daraus resultierendes Empfinden. Dann wird wahrlich der Christus, der in uns an jedem Tag unseres Lebens gekreuzigt wird, von seinem Kreuz, unserem Körper, herabsteigen, in unseren Verstand Einzug halten und nicht nur unser Leben erleuchten, sondern auch unser Verhalten gegenüber unseren Brüdern reformieren. Wenn man die Menschen bewegen könnte, allein diesen einzigen Gedanken zu erfassen und innerlich als wahr zu begreifen, würde eine universale „Bekehrung“ – „eine Kehrtwendung“, ein Verändern – unserer Gemüter und Herzen zum inneren, lebenden Christus, zum lebenden Buddha hin, bewirkt werden!

Das Gebot des Pythagoras

Denken Sie an die Regel, die Pythagoras aufstellte. Sie wurde immer wieder zitiert, aber sie verliert durch die Wiederholung nichts von ihrer Schönheit und ihrer Tiefe. Sie lautet ungefähr so:

„Lasse die Sonne nicht den westlichen Horizont erreichen, noch schließe Deine Augen zum Schlaf, ehe Du nicht alle Ereignisse des eben vergangenen Tages überdacht und Dir folgende Fragen gestellt hast: Was habe ich heute getan, das gut war? Was habe ich heute getan, das schlecht war? Habe ich jemanden verletzt? Habe ich meine Pflicht versäumt? Lasse die untergehende Sonne nicht den westlichen Horizont erreichen, noch schließe die Augen zum Schlaf, ehe Du Dir nicht diese Fragen gestellt hast.“

Wenn die Menschen nur diese einfache Regel bewußt befolgten, würden neunundneunzig Prozent der Sorgen der Welt, des Leidens der Herzen, der Sünde und Angst nicht existieren, sie würden gar nicht erst entstehen. Der Grund dafür ist einfach. Die Kümmernisse der Welt entstehen aus unserer Schwäche, nicht aus unserer Stärke; und wenn wir unsere Stärke vergrößern und unsere Schwächen beseitigen würden, dann würde danach jeder Mensch, entsprechend seiner inneren Entwicklung, zu einer Kraft des Guten in der Welt werden. Und Sie erkennen, was dies bedeuten würde. Die meisten Gedanken, Gefühle und Handlungen, die uns das Elend bringen, würden dadurch direkt an ihrer Pfahlwurzel abgeschnitten.

Universalität und die Esoterische Tradition

H. P. Blavatsky schrieb in großartiger Weise über die Geheimlehre der Zeitalter und sie zeigte uns, daß diese Geheimlehre zu uns herunterkam, seit undenklichen Zeiten unter der Obhut der großen Lehrer verschiedener Grade. Sie führte aus, daß diese Weisheit der Götter ursprünglich den ersten menschlichen Protoplasten von spirituellen Wesen aus anderen Sphären übermittelt wurde, von anderen Ebenen. Bei aller Größe der Lehren und der hohen Gedankenebene, auf die uns H. P. Blavatsky führte, scheint es mir jedoch notwendig darauf hinzuweisen, daß noch etwas darüber gesagt werden müßte, wie der Schüler davor bewahrt werden kann, falschen Ideen, falschen Unterweisungen Einlaß in sein Denken zu gewähren; Lehren, die ihn vom zentralen Feuer hinwegführen. Anders formuliert, die Menschen bedürfen eines Maßstabes, eines Prüfsteins, der sie befähigt, eine ihnen vorgetragene Lehre darauf zu untersuchen, ob sie pures Gold oder nur Messing enthält.

Worin besteht dieser unfehlbare Prüfstein? Was ist dieses Instrument, das man benützen kann, wenn man es als solches erkennt? Es ist Universalität. Jede Ihnen vorgelegte Lehre, die diesem Test nicht standhalten kann, die sich nur als eine angebliche Mitteilung aus anderen Sphären erweist und keine Basis in den großen Philosophien, Religionen und Wissenschaften hat, die der Menschheit in der Vergangenheit von den Meistern der Weisheit gegeben wurden, wurde in betrügerischer Absicht ausgegeben. Sie hat kein Recht, keinen Platz vor dem Tribunal unseres Gewissens. Die Götter belehrten, führten und erzogen den Menschen in seiner Kindheit. Sie erleuchteten seinen Verstand, um ihn zu befähigen, die archaische Weisheit der Götter, die göttlichen Lehren, die geheime Lehre in geheimer wie auch in öffentlicher Tradition zu empfangen, zu verstehen und weitergeben zu können.

Indem Sie die Idee, die Auffassung akzeptieren, daß die Menschheit über die Wahrheit, über die Wirklichkeit belehrt wurde, und daß heute auf Erden das Wissen für uns vorhanden ist, wenn wir dafür bereit sind und uns dessen würdig erweisen, dann verstehen wir, daß dieses Wissen Zeitalter auf Zeitalter, im größeren oder kleineren Maße, je nach den Umständen, durch die am weitesten fortgeschrittenen Menschen und durch die gewaltigsten Intellekte der menschlichen Rasse überliefert worden sein muß. Das ist der Grund, warum diese Tradition, diese Kabbala, diese Brahma-Vidyā, in jeder großen Religion und Philosophie der Zeitalter gefunden werden kann.

Wenn Sie diese Auffassung akzeptieren, werden Sie den Blick nicht mehr allein auf den Autor richten, ganz gleich welches Buch in Ihren Händen sein mag. Sie vergessen die Persönlichkeit, die Individualität des Lehrers und schauen allein auf das, was er vermittelt. Ist er ein echter Lehrer, dann finden Sie keine verschwommenen Grenzbereiche, auf denen Gedanken von Unrichtigkeiten von ränkevollen Geistern errichtet sein mögen, sondern Sie verstehen, daß hier eine erhabene machtvolle Tradition vom Universum, aus dem Herzen der Göttlichkeit zu uns herabgekommen ist.

Es ist diese Tradition, diese Geheimlehre, die H. P. Blavatskys Meisterwerk den Titel gab, und aus dem gleichen Grund wählte ich die bedeutsamen Worte als Titel für mein letztes Buch: „Die Esoterische Tradition“. Die in ihm enthaltenen Lehren sind esoterischen Charakters, weil sie bis jetzt nur von wenigen verstanden wurden. Sie knüpfen an die Tradition an, weil sie aus unvorstellbar weit zurückliegenden Zeitaltern an uns weitergereicht wurden. Die Esoterische Tradition ist darum ein Versuch, ein schwacher vielleicht, aber ein ehrlicher und aufrichtiger, das zu tun, was unsere Lehrer mit uns zu tun versuchen: in unsere Herzen und Seelen Achtung und Verehrung für die vor uns liegende Wahrheit einzupflanzen und das göttliche Feuer der Liebe zu allem, was ist, zu entfachen. Wird diese Wahrheit jedoch einzig und allein an eine als Lehrer angenommene Person gebunden, dann wird die Wahrheit eingeengt, beschränkt und herabgewürdigt.

Der Titel des Buches regt dazu an, einem Lehrer Ehrerbietung entgegenzubringen, jedoch nur insoweit, als er wirklich die Wahrheit lehrt. Vergessen Sie die Person, und Sie werden die Botschaft erkennen. Bedarf die heutige Theosophische Bewegung nicht vor allem dieses Prüfsteins? Ist das nicht mit allem, was uns H. P. Blavatsky lehrte, in vollkommener Übereinstimmung: nach innen zu blicken, aufzuschauen, nicht zu vergessen, die gebende Hand zu verehren und die Botschaft anzunehmen? Prüfen Sie; entnehmen Sie ihr, was Ihnen gut erscheint; verwerfen Sie den Rest, wenn Sie wollen. Es mag sein, daß Sie damit einen Fehler machen, aber Sie müssen von Ihrem Vorrecht Gebrauch machen, selbst wählen und unterscheiden zu können und Ihre Intuition anzuwenden. Wenn Sie das tun, gewinnen Sie dadurch Stärke. Mit der Zeit wird sie zu einer mächtigen Kraft werden. Sie werden schließlich den Eckstein, den Sie verworfen haben, wieder zurückholen und damit den Lehrer bekommen, der in Ihrem Herzen wohnt und Sie in der richtigen Weise belehrt.

Eine Lektion habe ich gelernt: Was zählt, ist die Lehre und ihre magische Wirkung auf mich. Wenn die Lehre in mein Herz dringt, wächst meine Verehrung für den, der sie mir mitteilt. Verehren Sie die Meister nicht noch viel mehr, wenn es Ihnen bewußt wird, daß sie in uns das Edelste und Beste erwecken? Und eben dieses Edelste und Beste in uns befähigt uns, wenn es erwacht ist, zu erkennen. Das ist es, was sie wünschen: es liegt ihnen nicht daran, von uns gesehen zu werden, sondern daß wir wach geworden sind, daß unsere Herzen mit dem Herzschlag des universalen Herzens im gleichen Rhythmus schlagen und daß unser Denken von der Wahrheit, die sie uns mitteilen, entflammt wurde und die wir in gleichem Maße wertschätzen wie sie unpersönlich ist.

Ich glaube, daß die Theosophische Bewegung jetzt und zukünftig unter keinen Betrügern und falschen Lehrern zu leiden haben wird. Wir müssen uns nur daran erinnern, daß der Prüfstein für alles, was uns als Lehre angeboten wird, Universalität ist und ob an unser inneres Bewußtsein, an die innere Stimme appelliert wird.

Wo die Meister arbeiten

Helfen und inspirieren die Meister außer den Theosophen und der Theosophischen Gesellschaft auch andere? Ich wäre außerordentlich betroffen, wenn ein Theosoph diese Frage nicht sofort beantworten könnte. Die Antwort ist natürlich ein klares Ja! Ein Grundgedanke, eine Grundlehre von uns ist, daß die Meister überall dort, wo sie ein offenes Tor finden, unterstützen, helfen und inspirieren. Anders gesagt, sie helfen überall dort, wo sich die Seele nicht mit unüberwindlichen, jedes Licht abhaltenden und jede Hilfe verhindernden Schranken umgeben hat. Nun, natürlich! Und wenn sich der Einfluß der Meister außerhalb der T. G., in der er tatsächlich wahrgenommen werden kann, in anderen Organisationen nicht bemerkbar macht, dann dürfte dies seinen Grund darin haben, daß diese ihre Verbindung mit ihnen entweder verloren oder sich in ihrem Denken und Fühlen mit unüberwindlichen Schranken umgeben haben. In Wahrheit sind die Meister überall dort tätig, wo man für sie die Tore öffnet und wo für ihre Tätigkeit geeignete Verhältnisse existieren.

Folgen Sie einem Gedanken, der ein Traum meines Lebens seit Kindestagen war. Wenn es die christlichen Kirchen fertig brächten, zu den ursprünglichen Lehren ihres großen Meisters, zum wahren Urchristentum zurückzukehren, dann würden die Meister auch heute durch sie als einen der größten Kanäle in der westlichen Welt arbeiten, um den Menschen zu helfen. Wenn sie in ihnen nicht tätig sind, dann deshalb, weil die Hilfe durch Schranken des Denkens und Fühlens versperrt ist.

Was die T. G. betrifft – ich habe oft darauf aufmerksam gemacht, es hängt gänzlich von uns ab, ob die Meister diese weiterhin als ein Instrument benützen, was jetzt geschieht, oder sie sich selbst überlassen. Sie werden letzteres nicht tun, solange wir unsere Herzen und unseren Verstand offenhalten. Sollten wir aber damit anfangen, um unser Bewußtsein Mauern aufzurichten, dann schließen wir uns selbst aus, nicht sie. Die Götter, so sagten die alten Griechen, besuchen die Häuser jener, die ihnen die Türen öffnen. Bedenken Sie, was das bedeutet! Warum sollten Sie nicht versuchen, göttliche und gottähnliche menschliche Gäste gastfreundlich aufzunehmen?

Unser ganzes Problem und das unserer Zivilisation besteht darin, daß wir diese Schranken um uns aufgebaut haben. Von Natur aus bestehen sie nicht. Sie wurden von uns errichtet, Schranken der Ausgrenzung im Denken, im Fühlen, im Brauchtum, in allem. Was passiert mit dem Menschen, der sich in eine Zelle zurückzieht und dort lebt? Wer verliert? Die Welt oder der törichte Mensch? Eine solche Zelle begrenzt das Bewußtsein. Und der Mensch (oder die Zivilisation) ist genauso groß, wie es ihm (oder ihr) gelingt, die durch Gewöhnung und Gewohnheit selbst errichteten Schranken und Begrenzungen niederzureißen, und sich in immer herrlichere Wohnungen des Bewußtseins zu begeben.

Wodurch wird eine Religion erfolgreich? Indem sie sich mit Gedankenmauern umgibt, sich selbst Grenzen setzt und ausgrenzende Schranken errichtet? Natürlich nicht! Die Antwort ist klar. Reißt die Schranken nieder, das Tor ist für alle offen.

Gebet und Streben

Wenn wir gefragt werden: „Beten Theosophen?“ so antworte ich: „Ja und Nein.“ Es hängt davon ab, was der Fragesteller unter Gebet versteht. Wenn er damit meint, daß man niederkniet und eine Bitte an einen Gott richtet, der außerhalb von uns ist, rein imaginär, von dem sich der Verstand nur sehr mühsam eine Vorstellung bilden kann, und der deshalb vom menschlichen Herzen instinktiv nicht als wirklich empfunden wird, dann müssen wir antworten: „Nein, ein Gebet dieser Art nicht.“ Das wäre eine Absage an den Gott im Innern des Menschen, der damit auf seine eigenen Rechte verzichten und sich nach außen um Hilfe wenden würde. Es wäre nur ein Bittstellen, bloßes Fordern, ein Betteln um Vorteile. Es wäre rein äußerlich.

Wahres Gebet ist die herrliche, tiefe, geistige Demut des menschlichen Selbst im Erahnen des unaussprechlich Erhabenen. Es ist das Streben, dem himmlischen Vater gleich zu werden oder wie es Jesus formulierte: das Streben, ein Sohn des Göttlichen zu werden. Es ist fast ein an sich selbst gerichteter Befehl des Menschen, sich zu erheben und zu höheren Dingen fortzuschreiten, empor zum Göttlichen, von dem in jeder menschlichen Seele ein Funke pulsiert. Wenn wir zu diesem inneren Herzschlag, zu dieser Schwingung des Göttlichen eine gleichgestimmte Beziehung identischer Schwingungsfrequenzen herstellen, dann wird unser Leben erneuert; wir werden völlig umgewandelt; wir werden zu Menschen, die nicht länger um Vergünstigungen bitten und sich dadurch schwächen. Wir erkennen allmählich unsere Identität mit dem Göttlichen. In aller Stille legt sich Würde um uns und umhüllt uns wie ein Gewand. Und welches Gebet ist edler als dies: daß der Sohn danach verlangt, seinem göttlichen Elter gleich zu werden?

Soweit es mich betrifft, schlafe ich abends nie ein und stehe morgens nie von meinem Bett auf, ehe ich mich nicht zumindest einmal aufgerichtet und diese Erfahrung gemacht habe. Ein derartiges Gebet ist nicht bloß eine geistige Einstellung. Es ist ein Weg des Lebens, eine Verhaltensweise, die denjenigen, der sie liebt und ihr folgt, mit Würde bekleidet, seinen Geist mit Verständnis bereichert und ihn für alles andere, was lebt, mitfühlend macht.

Derjenige betet am besten, der am besten liebt,
Alle Dinge, groß und klein.

Ja, denn dies ist ein Einswerden mit allem, was um uns ist. Es bedeutet einfach, sein Bewußtsein Schritt für Schritt zu erweitern, sich jeden Tag ein wenig mehr zu entfalten, ein wenig mehr von der Welt um uns aufzunehmen, zu erfassen, anzunehmen. Mit dieser Art von Beten breitet sich unser Bewußtsein des Lebens, Denkens und Fühlens immer weiter aus, bis uns schließlich eines Tages unsere Gedanken und Empfindungen befähigen werden, das Universum zu umfassen. Dann werden wir nicht länger nur Menschen sein, wir werden Gottmenschen sein, und nach unserem Tod werden wir unseren Platz neben den Göttern einnehmen, bei den kosmischen Geistern, Erzengeln, Engeln, Mächten – wenn Sie die christliche Ausrucksweise lieben.

Was ist der Unterschied zwischen einem gewöhnlichen und einem genialen Menschen? Der gewöhnliche Mensch lebt in der kleinen, festbegrenzten Schale seines persönlichen Bewußtseins; er kann nicht darüber hinausgehen. Er hat keine Intuitionen, keine Inspirationen. Ein genialer Mensch hingegen ist jener, der diese Schale durchbrochen hat. Er durchwandert mit seinem Bewußtsein und seinem Gefühl das Universum, das ihn umgibt. Er schwingt in gleichgestimmten Frequenzen mit dem Universum, und dann erlangt er Inspirationen und wunderbare Ideen. Er sieht, er fühlt – und die Menschen sagen: „Ein Genie ist erschienen.“

Dies ist also das Gebet, das uns mit allen Dingen in Berührung bringt. Es erweckt Qualitäten in uns, die schon vorher in uns latent vorhanden waren, die aber jetzt eine Gelegenheit haben zu evolvieren, sich zu entfalten und auszuweiten. Unter einem wahren Gebet verstehen wir nicht nur die auf die Einswerdung mit dem universalen Bewußtsein gerichtete Erweiterung des persönlichen Bewußtseins, sondern die Anwendung dieser Erfahrung in der Praxis. Und dies ist eine ebenso großartige Freude: zu praktizieren, was wir predigen. Sonst gleichen wir nur klingenden Zimbals und dem dröhnenden Bauch hohler Trommeln – Vox et praeterea nihil, eine Stimme und weiter nichts. Wenn man aber das Gebet praktiziert, dann verstärkt man die eigenen Kräfte durch Übung. Was Sie selbst empfunden haben, beginnen Sie anzuwenden. Sie sehen das Licht des Verstehens in den Augen anderer Menschen aufleuchten und es entsteht eine neue und verborgene Sympathie zwischen Mensch und Mensch. Es ist eine neue Lebenskraft. Diese Art von Gebet ist auch ein Weg des Lebens; es ist gleicherweise Wissenschaft; es ist Philosophie; es ist Religion.

Wir sind Kinder des Unendlichen, des Göttlichen. Unsere Gottheit ist intrakosmisch und doch transzendent, genau in der gleichen Weise wie ein Mensch nicht nur sein physischer Körper und nicht nur sein Gemüt oder sein Geist ist. Er ist Körper und Empfindungen und Gefühle und Denken und Seele; aber über diese hinaus ist er transzendent; es ist etwas Größeres in ihm als all das. Es ist der Funke des Göttlichen, der Funke, durch den der Mensch mit dem Unsichtbaren, mit der Göttlichkeit verbunden ist. Dieser Funke ist das wichtigste, das mächtigste Element in uns. Er ist der vorherrschende und leitende Faktor in unserer Bestimmung, und wenn wir immer größer und besser, edler und spiritueller werden wollen, müssen wir uns zu jenem Funken erheben, dann müssen wir uns dazu entschließen, unserem Wissen entsprechend zu leben. Dann wird unser Leben groß werden. Und schließlich, wenn die Praxis relativ vollkommen geworden ist, wird sich die Vision des Genius in das Bewußtsein einschleichen. Denn Genius ist kosmische Weisheit. Mit dem Genius wächst das Verständnis mehr und mehr, und schließlich beginnen wir zu erkennen, daß wir nicht nur ein Mensch sind, der nach dem Tode vielleicht im Himmel oder in der Hölle lebt, sondern daß unser Schicksal das Schicksal des grenzenlosen Alls ist: daß wir endlos sind, gleichermaßen ewig mit der Dauer, mit der kosmischen Zeit, daß das grenzenlose Universum unsere Heimat ist; daß wir hier auf Erden nur für eine Tag-Nacht-Periode sind; daß dies lediglich eine Phase in unserer evolutionären Reise aufwärts und vorwärts ist.

Danach streben wir, darum beten wir: um ein sich stetig erweiterndes Bewußtsein durch Streben, durch Studium, indem wir das Leben führen, das wir lehren – ein sich ständig erweiterndes Bewußtsein zu jenem Letzten hin, zu einer Einheit mit dem Göttlichen. Wir durchlaufen alle Bereiche der Natur, wir wachsen über den Menschen hinaus, um ein Übermensch zu werden; wir werden von einem Übermenschen zu einem Halbgott; von der Halbgöttlichkeit wachsen wir zur Göttlichkeit, zur Übergottheit, und so weiter und weiter und aufwärts auf den endlosen Lebensleitern. Welch ein Wunder! Welch ein Gedanke!

Der göttliche Geist, von dem wir so ungezwungen sprechen – weil er eine Intuition darstellt, eine Antwort auf jenes Streben, auf jenen unaussprechlichen Hunger in jedem normalen Menschen – von dieser Göttlichkeit erkennen wir, daß sie nur unsere menschliche Vorstellung von etwas immer noch Wunderbarerem, Umfassenderen ist, von dem wir nie ein Ende erreichen können, daß es Wachsen und Fortschreiten, ein sich erweiterndes geniales Bewußtsein für immer und alle Zeit ist.

Beten Theosophen? In der Weise, daß wir versuchen, unser alltägliches Leben zu einem angewandten Gebet zu machen. Wir haben den Ariadnefaden, wir haben den Schlüssel und wir versuchen ihn zu benützen. Und wissen Sie, was dieser Schlüssel ist? Er ist die Gottesweisheit. Und wissen Sie, was das Schloß ist? Wir selbst sind es, die diesen Schlüssel ergreifen. Wer ihn in sein eigenes Bewußtsein hineinsteckt und umdreht, und sei es auch nur ganz sanft, dann strömt etwas Wundervolles aus dem leicht geöffneten Tor, von den unaussprechlichen im Inneren verborgenen Geheimnissen, die dem kosmischen Brunnen entquellen. Kein Mensch kann es je benennen. Es ist namenlos. Namen würdigen es nur herab. Immer und ewig danach zu streben – das ist Gebet. Indem wir es leben, wachsen wir. Welche Hoffnung und welcher Friede! Welche Zunahme an Verständnis gewinnt der Mensch, der in seinem Inneren, aus seinem eigenen Bewußtsein, das Ende des Ariadnefadens gefunden hat. Diese ständig fortschreitenden Stufen der Erfahrung und Entwicklung nennen wir Initiation.

Der einzige Ausweg

Die heutigen Männer und Frauen, die älteren und jüngeren, bilden eine Generation, die wir, wie ich glaube, treffend als eine verlorene Generation bezeichnen können. Die Ursache, der Grund für unsere geistige Ziellosigkeit und unser gestörtes Gefühlsleben liegt darin, daß wir unser Verständnis für eine allgemeine oder universal anerkannte ethische und intellektuelle Norm verloren haben und nicht mehr daran festhalten. Das zeigt sich in dem Stimmenbabel, das uns überall umgibt, an den hungernden Menschenherzen und auch an den begierig nach Wahrheit suchenden menschlichen Seelen, die nicht wissen, wo diese und eine Anleitung für sie zu finden ist: die Menschen suchen nach einem wirksamen und befriedigenden inneren Licht, nach etwas, das uns bei der Lösung der anstehenden Probleme als Richtschnur dienen kann. Wir sind tatsächlich eine verlorene Generation, und es ist nicht nur die Jugend, die ‘verloren’ ist. Tatsächlich sind es sogar die Älteren, die noch verwirrter sind als die Jugend von heute. Unsere ganze Generation ist blind, wandert in der Dunkelheit und weiß nicht, wo sie nach dem ersehnten Licht suchen soll; und das Stimmenbabel, das sich aus der gewaltigen Menschenmenge erhebt, ist mit seinen lauten und verworrenen Forderungen nach Allheilmitteln und Patentrezepten aller Art – politischen und anderen – etwas Beängstigendes und Bezeichnendes.

Wenn man diesem turbulenten Babel – oft nur bloßem Geschwätz – sein Ohr leiht, lauscht man vergeblich auf konstruktive Vorschläge, die allgemein anwendbar sind. Selten nur kann man Stimmen vernehmen, die mit der Autorität des Wissens sprechen. Ich will es wagen, die Ursachen für diese Zustände zu nennen.

Wenn ein allgemeiner Streit oder Kampf anhebt und man sich mit der Absicht in die Arena begibt, jene zu bekämpfen und zu überschreien, die bereits dort streiten, dann sind die Chancen gering, daß das, was man sagen will, Gehör findet; viel eher kommt man dabei selbst zu Schaden. Das passiert, weil die Möchtegernreformer sich einfach auf die Ebene der schreienden Streithammel begeben. Auf diese Weise kommt nichts zustande, das von der Idee her universal und definitiv konstruktiv oder attraktiv, neu und hilfreich ist oder das die Probleme erklärt und löst, welche allgemein Störung verursachen. Man begibt sich lediglich selbst in die Schlacht, versucht Gewalt mit Gewalt zu bekämpfen, Stärke mit Stärke, und dieses Vorgehen hat noch nie Erfolg gehabt, und es wird nie welchen haben.

Das soll nicht heißen, daß Stärke in menschlichen Beziehungen immer ignoriert werden soll. Manchmal ist es notwendig, in weiser, aber dennoch sanfter Form Stärke anzuwenden, aber stets ohne Gewalt und nur, um Böses zu verhüten. Solche Anwendung von Stärke und Macht sollte stets nur ein zeitlich begrenztes Ereignis oder Vorgehen sein, sie sollte nur in unpersönlicher und redlicher Weise angewandt werden, für einen guten Zweck und für das Allgemeinwohl. Gerechtigkeit für alle wird niemals erreicht, indem man in die Kampfarena hinabsteigt und sie dort ‘erkämpft’. Gerechtigkeit wird selten in Säcken gesammelt, wie man so sagt, und nur sehr selten findet man sie tatsächlich vollständig auf einer Seite einer strittigen Sache.

Unsere Generation ist intellektuell und moralisch verloren, weil sie ihre Vision verloren hat. „Wo keine Vision herrscht, geht das Volk unter“ – sagt ein alter hebräischer Spruch, der auf einer umfassenden Kenntnis der menschlichen Psychologie beruht, wie die Geschichte beweist – ein sehr wahres Wort daher. Es ist stets eine Vision oder eine Idee oder eine Reihe von Ideen, die die Menschen zur Höhe emporführt oder hinab in den Abgrund. Plato hatte völlig recht: Ideen sind für den Aufstieg oder den Untergang einer Zivilisation verantwortlich; bestehende Institutionen werden durch sie aufgebaut oder vernichtet. Und es sind einfach große universale Ideen und der Wille, ihnen zu folgen – Ideen und Ideale, die alle Menschen als Wahrheit erkennen –, die den Menschen heute fehlen. Nur weil den Menschen heute die Vision fehlt, d. h. ein inneres Wissen über das Richtige, das zu tun ist, über einen klaren Weg aus den Schwierigkeiten heraus, stehen die Nationen heute da, wo wir jetzt stehen.

Wir stehen jetzt am Ende einer Zivilisationsform, die, wie seinerzeit das Römische Reich, ihr Ende erreicht hat, ihren Zusammenbruch, und wir stehen vor den einleitenden Auftakten des kosmischen Dramas, das jetzt seinen Anfang nimmt. Es wird von der inneren Weisheit und von dem hohen Gerechtigkeitssinn abhängen, der den Menschen innewohnt, ob unsere gegenwärtige Zivilisation in Blut und Verzweiflung untergeht oder ob sie Atem holt und sich die Zeit nimmt, wieder zu gesunden; oder ob sie mit dem Heraufziehen einer neuen intellektuellen und moralischen Auffassung von Gerechtigkeit und Vernunft ihren Abstieg an dem Abhang beendet und anfängt, neue Höhen zu erklimmen, die noch über das Beste hinausragen, was wir als menschliche Rasse bisher erreicht haben. Letzteres kann erreicht werden; es ist nur die höhere Natur des Menschen, seine Intuition und sein Sinn für Gerechtigkeit und Vernunft, nichts anderes, die das mit Sicherheit herbeiführen können: der innewohnende Gerechtigkeitssinn, das eingeborene Rechtsgefühl und die allgemeine Erkenntnis, daß Vernunft und nicht Gewalt den Ausweg bildet – und zu Sicherheit, Frieden und Fortschritt führt.

Die Geschichte zeigt uns mit ihrer stillen, aber ungeheuer mächtigen Stimme, daß es für uns absolut keinen anderen Ausweg gibt, daß es keine andere vollständige Lösung gibt, oder eine solche, die für alle verschiedenen Arten menschlicher Gemüter, für alle Arten menschlicher Charaktere, befriedigend ist. Freiheit für alle; jedes Volk sucht sein eigenes Heil entsprechend seinen eigenen Vorstellungen, jedoch in ethischer Richtung, begleitet von Vernunft und dem Wunsch, gerecht zu sein. Selbst ein vorurteilsfreies Eigeninteresse, das den individuellen Vorteil immer sofort erkennt, muß die allgemeinen Vorteile und Sicherheiten eines solchen Plans erkennen. Alle stabilen menschlichen Institutionen sind auf diese Intuitionen und Instinkte gegründet, und auf nichts sonst; wäre es anders, dann wäre unser Sinn für Ordnung und Recht, unser hoher Respekt vor nationalen und internationalen Gerichten eine gewaltige kollektive Täuschung und eine schändliche und elende Farce. Doch alle vernünftigen Menschen wissen, daß unsere Gesetze auf der Grundlage von Gerechtigkeit und unparteiischem Urteil, gepaart mit unpersönlichem Mitleid, errichtet sind.

Ich gehöre nicht zu den düsteren Pessimisten, die behaupten, der Mensch sei nur ein armer Wurm mit Instinkten, die aus seiner Verbindung mit dem Staube stammen, und mit Intuitionen, die jeder Grundlage entbehren, so daß er seine Probleme nicht befriedigend lösen könne. Er kann sie absolut lösen, wenn er nur den Willen dazu hat, es zu tun. Wir nähern uns tatsächlich dem Ende unserer Zivilisation und sind fasziniert und halten unseren Atem an, während wir die Auflösungserscheinungen beobachten; doch wir vergessen allzuoft, daß es eine fast gänzlich materielle Zivilisation war, in der die materiellen Dinge oft als die einzigen Dinge von dauerhaftem Wert zählten. Es gibt keine neuen Länder mehr, in die wir unsere jungen Leute zur Kolonisierung senden können, denn diese Länder sind alle aufgeteilt oder besetzt. Die Herrschaft der Gewalt und der materiellen Werte hat sich anstelle der Regeln internationaler Gerechtigkeit und allgemeiner Menschenrechte allgemein breitgemacht. Seit ungefähr 1800 Jahren gilt mehr oder weniger die Regel: laßt jeden an sich reißen, was er will; laßt jeden festhalten, was er kann. Das Verhalten der Völker der Erde beruhte zum großen Teil auf dieser rein materialistischen und egoistischen Grundlage. Wir säten den Wind, und wir ernten jetzt als eine Gruppe spirituell bankrotter Völker den Wirbelsturm.

Ist es nicht an der Zeit, daß die vorausblickenderen und intelligenteren Köpfe der Welt danach trachten sollten, daß Ruhe, Vernunft und unparteiische Gerechtigkeit fortan vorherrschen? Gibt es einen anderen und besseren Weg aus unseren Problemen und Schwierigkeiten, als sie weise zu lösen? Wenn die Menschen absichtlich nicht auf die Stimme der Vernunft hören, wenn die Menschen Gerechtigkeit bewußt nicht wünschen oder anwenden wollen, dann scheint es sicher, daß wir abwärtsgehen; und unsere Zivilisation, unsere großen Städte und die zahlreichen, im Laufe der Zeit ausgeführten Werke und Taten von Millionen Menschen, werden sich in Staub und Trümmerhaufen verwandeln. Kein Gott wird die Arena menschlichen Leids und absichtlicher Ignoranz betreten und uns unglückliche Sterbliche aus dem Weltelend herausziehen, das wir uns größtenteils durch fanatischen Eigennutz und durch unser willentliches Verlassen der Wege der Gerechtigkeit und des Friedens selbst geschaffen haben. Wir müssen uns selbst retten, und wenn wir dies in einer Weise tun, die den höheren Mächten gefällt, dann werden wir damit einen unabweisbaren Appell um ihre Hilfe und ihre Führung an sie richten, und wir werden diese empfangen. Herkules hilft dem Fuhrmann wirklich, aber nur, wenn der Fuhrmann sich selbst hilft, und zwar in der rechten Weise.

Es ist reinste Torheit und blanker ethischer und intellektueller Unsinn anzunehmen, die Menschheit sei mit ihrem Schicksal jetzt am Ende, nachdem das letzte Fleckchen Erde besetzt ist; daß es keine Zukunft für diejenigen mehr gäbe, die nicht von Anfang an da waren. Eine solche Annahme steht im Widerspruch zu allen Aufzeichnungen in den Annalen der Weltgeschichte. Wir müssen uns daran erinnern, daß nichts, keine Einrichtung, unveränderlich ist, auf ewig gleich bleibt, und daß die veränderlichen und ständig wechselnden Szenen der vergangenen Menschheitsgeschichte – und das ist die sichere Wahrheit – versprechen, daß die Zukunft ebenso reich an wechselnder kosmischer Szenerie und Veränderung der menschlichen Interessen und Tätigkeitsfelder sein wird wie die Vergangenheit. Die größten Völker der Erde waren nicht jene, die territorial die größten Gebiete besaßen, sondern eben jene, die an vorderster Stelle standen bei der Aufnahme von Ideen und bei der Anwendung progressiver Ideen zum Aufbau menschlicher Einrichtungen, die auf den Idealen unpersönlicher Gerechtigkeit und geschulter Vernunft beruhten; Ideale, die sie für gewöhnlich proklamierten, denen sie jedoch – leider – nicht immer folgten. Denn diese Ideale sind spirituelle Qualitäten, die in der Tat universal sind.

Lassen Sie uns unsere Herzen mit ewiger Dankbarkeit gegenüber den wachenden, wenn auch stillen, kosmischen Mächten erfüllen, so daß die Horizonte, die jetzt vor uns liegen, für die Menschen aus allen Erdteilen, ohne Rassen- oder Glaubensunterschiede, spirituelle und intellektuelle Horizonte sind, hinter welchen sich uns unbekannte Regionen von unendlich großer Ausdehnung erstrecken, die auf die Eroberung durch den menschlichen Genius warten, wenn wir den Empfindungen und Intuitionen der Seele die Zügel überlassen. Dann können Sie sehen, was vor uns liegt, wenn wir Gerechtigkeit herstellen werden, die nicht von Eigennutz motiviert ist, und wenn wir Ehrlichkeit und Wahrheitsliebe unter uns wirken lassen!

Eine der Hauptursachen und vielleicht der Hauptgrund unserer Schwierigkeiten nationaler und internationaler Art liegt darin, daß die Menschen im allgemeinen – mit vielen großen Ausnahmen – immer noch an Macht und Gewalt glauben und sie für den Weg zur Lösung unserer Probleme sehen. Solche Methoden haben nie dauerhaften Erfolg gebracht – und sie werden es nie tun. Gewalt gebiert Gewalt. Gewalt wächst durch Gewalt. Haß erzeugt Haß, Selbstsucht gebiert weitere Selbstsucht.

Es ist eines der Ziele, lassen Sie mich sagen, eine der Pflichten der Theosophischen Bewegung, den Menschen die einfachen Regeln der Vernunft zu zeigen; daß das Leben von den großen ethischen Instinkten der menschlichen Seele beherrscht sein sollte, die nicht auf menschlichen Konventionen gegründet sind, sondern auf die Ordnung der Struktur und Arbeitsweise der Natur selbst. Aus diesen ethischen Empfindungen entstehen die wegweisenden Regeln der Vernunft und unser Wille, Gerechtigkeit zu üben. Sie lehren uns, daß der ‘Ausweg’ in uns selbst liegt: nicht in unseren Armeen, noch in unseren Flotten, oder in den schrecklichen Methoden gegenseitiger Vernichtung, die vom bösen Geist des Menschen ersonnen wurden. Letztere sind nicht einmal zeitweilige Heilmittel, sie bringen keine befriedigende Lösung der Probleme. Bestenfalls sollte die Verteidigungsmaschinerie als Polizeimacht verwendet werden. Dann würde ihre Anwendung gerechtfertigt, weil sie dann für die Sache der Gerechtigkeit und nur mit Vernunft eingesetzt würde.

Unsere Probleme werden nie durch unser wahnsinniges Wettrüsten gelöst, das mit allgemeinem Mißtrauen, mit Furcht und Angst verbunden ist und mit einer Steuerüberlastung der Völker, die ihre Kräfte übersteigt und sie die Zustände beinahe hassen läßt, unter welchen sie leben müssen. Es ist die alte Torheit, die jetzt von allen erkannt wird, zu behaupten, daß durch die Anhäufung von Waffen und durch die Erfindung neuer entsetzlicher Zerstörungsinstrumente und durch zunehmende Anwendung zerstörerischer Gewalt der Krieg nach und nach so schrecklich würde, daß die Menschen aus furchtbarer Angst davor zurückschrecken. Von allen Torheiten und dummen Argumenten ist dies das Schlimmste, das die leidenden Menschen befallen hat.

Man wird Kriege auch nie aufhalten, indem man sich zu Vereinigungen oder Gesellschaften zusammenschließt und sich verpflichtet, den Kriegsdienst abzulehnen und ihn im Krieg zu verweigern. Diese Haltung ist meiner Ansicht nach völlig falsch. Wir mögen den idealistischen Mut und die idealen Gedanken der jungen Männer und Frauen bewundern, die dies, wie es scheint, tun. Aber sie übersehen, daß sie mit ihrer Ankündigung selbst eine Art Kriegserklärung an ihre eigene Regierung und Heimat abgeben, und wenn es Krieg geben sollte, verursachen sie dadurch Unordnung und innere Streitigkeiten untereinander.

Lassen wir die Jugend der verschiedenen Völker aller Länder das Beispiel für Treue und Loyalität geben, jede Jugend ihrer eigenen Regierung, womit sie die Stärke und den Wert des moralischen Ideals der Staatsbürgerschaft beweist. Lassen wir jedoch andererseits die Jugend den ihr innewohnenden Idealismus und die Ritterlichkeit, die die Welt dringend benötigt, zum Ausdruck bringen, indem sie laut und eindringlich ihre Stimme erhebt und sich machtvoll für die allgemeine Gerechtigkeit und Vernunft entscheidet auf dem Boden der bestehenden Gesetze. Auf diese Weise wird die Stimme der Jugend überall gehört, öffentlich und nichtöffentlich, denn das Pochen auf ihre Rechte als zukünftige Generation, die alsbald die Last der älteren Generation übernehmen muß, wird viele aufgeschlossene Ohren berühren, mehr als gezählt werden können. Novus ordo saeclorum! [Neuordnung der Zeiten! (der Übersetzer)]

Ich würde eine vollständige Abrüstung der Völker begrüßen, herbeigeführt durch gegenseitige Verhandlungen und Verträge, ersetzt durch eine internationale Flotte, deren Offiziere und Mannschaften turnusmäßig von Seeleuten und auch von Menschen vom Land der verschiedenen Völker gestellt und für diese Arbeit geschult werden. Ich würde gerne sehen, daß die Armeen der Welt auf relativ kleine nationale Polizeieinheiten reduziert würden. Die Aufgabe der internationalen Flotte bestünde in der polizeilichen Beaufsichtigung der Meere, in der Unterbindung von Piraterie und der Sicherung der Meere und der Wasserwege an den Küsten für den Handel der Völker der Erde. Es gibt nichts, was diese doppelte Errungenschaft des aufbauenden Geistes verhindern könnte – höchstens eine Psychologie, die jeder verabscheut und die alle fürchten: eine Psychologie, die sich lediglich dazu ausgebildet hat, eine Gewohnheit menschlichen Denkens zu sein.

Man kann nur hoffen und bitten, daß die führenden Menschen in der heutigen Welt, die die Schicksale der Völker mehr oder weniger in ihren Händen halten, aufhorchen und auf den Herzschlag und den nicht zum Ausdruck gebrachten wachsenden Willen der Völker nach einer dauerhaften Lösung ihrer Probleme hören. Wenn sie das tun, werden die Namen dieser Menschen in die Geschichte eingehen; sie werden weniger durch Standbilder und steinerne Denkmäler in Erinnerung bleiben, ihre Namen werden vielmehr bleibend im immerwährenden Gefüge der menschlichen Herzen verewigt. Ihr Andenken wird in künftigen Jahrhunderten weiterbestehen wie das Feuer der Liebe und Dankbarkeit, das in den Menschenherzen brennt.

Ich wiederhole noch einmal: eine Bruderschaft der Menschen, gegründet auf Vernunft und Gerechtigkeit und tätig für das Allgemeinwohl, für den Fortschritt aller, ist nicht nur durchführbar, sondern auch praktisch, und eines Tages wird sie unumgänglich sein. Warum also nicht JETZT die Fundamente dafür legen!

Wo zwei oder drei versammelt sind …

Es gibt einen alten Ausspruch, daß dort, wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, d. h. in der Gesellschaft des Geistes, der Geist mitten unter ihnen ist.

In diesem Ausspruch liegt eine große okkulte Wahrheit. Wenn Sie die zwei oder drei fünfzig- oder hundertfach multiplizieren und erkennen oder zu erkennen versuchen, daß die Kraft eines vereinten spirituellen Willens und Verstehens sehr viel Gutes in der Welt bewirken kann, und wenn Sie sich dies als ein hilfreiches und ermutigendes Ideal vor Augen halten, dann, so glaube ich, werden Sie mit mir fühlen, daß wir in den theosophischen Zusammenkünften nicht nur unsertwegen zusammenkommen, um Trost, Ermutigung und inneres Licht zu erhalten, sondern, daß wir uns, wo immer diese Versammlungen stattfinden, als Kandidaten versammeln, die sich vorbereiten, um sich den höchsten Vertretern der menschlichen Rasse anzuschließen.

In diesen Worten liegt vielleicht mehr, als es an der Oberfläche erscheint.


Der direkte Weg zur Weisheit

Worin besteht der direkte Weg zur Weisheit? Dies ist, wie ich glaube, das wichtigste Gesprächsthema, das man heutzutage aufgreifen kann. Ist irgend jemand in der Lage, genau zu definieren, was dieser direkte Weg zur Weisheit ist, im Unterschied zu dem, wie ich ihn nennen würde, indirekten Weg?

Man könnte den indirekten Weg auch als den bezeichnen, der von außen her in unser Bewußtsein führt. Es ist der Weg der Instruktion, der übliche Weg der Kirchen und der Vortragssäle. Er kann für bestimmte Gemüter zuweilen hilfreich und anregend sein. Aber können wir wirklich sagen, daß wir auf diesem Wege oder Pfad Weisheit erlangen können?

Der direkte Weg zur Weisheit ist der Weg des inneren Lichtes, des Verstehens, der aus dem inneren Streben und der inneren Erfahrung entsteht. Er wurde zumindest in Andeutungen von jedem der großen Lehrer der menschlichen Rasse gelehrt. Mystisch gesprochen könnte man sagen, daß derjenige ihn gefunden hat, der sich mit dem eigenen inneren Gott in ihm selbst vereinigt hat, in mehr oder weniger vollkommenem Grade. Das ist der direkte Weg.

Was braucht die Welt heute? Was sind die Ursachen ihrer mannigfaltigen inneren Schwierigkeiten, ihrer Unschlüssigkeiten und ihres Verlustes an Vertrauen? Die Antwort findet man darin, daß die Menschen größtenteils innerlich leer sind. Sie sind als Masse und als einzelne relativ leere Gefäße: sie besitzen keine innere Fülle, die sie mit anderen teilen könnten, keinen inneren Reichtum des Verständnisses, durch den wir die Probleme, die die Menschheit bedrängen, begreifen und lösen könnten und auf diese Weise uns selbst und den anderen auf kluge Art helfen würden. Anstatt einig und verständnisvoll zu handeln, was sich aus solchem inneren Reichtum zwangsläufig ergäbe, sehen wir nichts anderes als Opposition, Streit, Zank und als unausbleibliche Folge davon Elend, verbunden mit drückender Armut und entsetzlicher Not. Daher meine ich, daß der innere spirituelle Reichtum, der aus der inneren Einheit des Lebens hervorgeht, der direkte Pfad zur Weisheit ist, denn alles, was das Leben lebenswert und großartig macht, ist darin enthalten.

Die meisten Menschen sind seelenlos, oder fast so. Das bedeutet nicht, daß sie keine Seelen besitzen oder daß sie „verlorene Seelen“ sind. Es bedeutet vielmehr, daß sich die innere Seele nicht durch uns nach außen manifestiert und ihre transzendenten Kräfte nicht in unserem Leben zum Ausdruck bringt. Halten Sie sich immer vor Augen, daß die spirituelle Seele in und über uns ist, und daß sie beständig versucht, unser Leben zu inspirieren und zu erfüllen, damit es reicher, kraftvoller, erfüllter und schöner wird. In diesem Sinne sind die meisten Menschen noch nicht beseelt. „Wir stoßen an jeder Straßenecke auf seelenlose Menschen“, sagte H. P. Blavatsky. Mehr als irgend etwas anderes ist es die Pflicht und das große und vornehme Bemühen und Privileg der Theosophischen Gesellschaft dabei zu helfen, daß sich denkende Männer und Frauen die Erkenntnis und die Gewißheit der Tatsache, daß sie beseelte Wesen sind und sein sollten, ins Gedächtnis zurückrufen.

Wie würde dies, setzte die Mehrzahl unserer Mitmenschen das in die Tat um, das Antlitz der Erde verändern! Alles wäre anders. Statt Unglück würde Glück einkehren. Streit würde dem Frieden Platz machen, Verständnis und gegenseitige Rücksichtnahme würden an die Stelle von Haßausbrüchen und Verachtungsbeweisen treten, die uns alle jetzt zur Schande gereichen. Denn die Menschen wären mit innerem Licht und innerer Stärke erfüllt. Dadurch wiederum würden sie Verständnis, gegenseitige Sympathie, Güte und instinktives brüderliches Verhalten entwickeln. Ein universales Streben nach Frieden und Wohlwollen wäre die Folge.

Die meisten der heutigen Menschen sind seelenlos und leere Gefäße, anstatt gefüllte Gefäße zu sein, erfüllt mit innerer Kraft und Licht. Anstatt sich vom inneren Geist und seinen unwiderstehlichen Befehlen leiten zu lassen, folgen sie den selbstsüchtigen Intrigen des Gehirnverstandes. Immer heißt es: „Erst komme ich, und alles andere schere sich zum Teufel.“

Zweifellos kann der indirekte Weg zur Weisheit helfen, diese Umstände zu ändern. Um jedoch der Wahrheit die Ehre zu geben, sollte man einräumen, daß er vielleicht nur für bestimmte schwache und unsichere Leute hilfreich sein kann. Er ist auf jeden Fall ein Umweg und führt im Kreis herum. Er besteht in dem Versuch, Dinge von spirituellem und intellektuellem Wert allein von außerhalb von uns zu erhalten, ohne sich darum bemüht zu haben, sie in uns selbst entstehen zu lassen. Vielleicht können wir diese äußeren Gaben sogar irgendwie horten. Es ist gut, wenn man dies kann. Trotzdem sind sie nur dünne Pilgerstäbe in unseren Händen. Die Stäbe sind nicht fest genug. Wenn jedoch das innere Leben, die innere Leere mit dem Reichtum und der heiligen Kraft der spirituellen Wirklichkeit in uns erfüllt ist, erlangen wir Weisheit und Wissen: wir wissen.

Es wird erzählt, daß H. P. Blavatsky Tränen über ihre Wangen liefen, als sie von einem Erholungsspaziergang nach ihrer morgendlichen Arbeit zurückkam und sie die Diele ihrer Wohnung gequält von innerer Verzweiflung durchschritt. Als Grund dafür gab sie später an: „Oh, diese seelenlose Masse. Ihre Gesichter sind leer, voller Vorurteile und voller Dummheit. Man kann in ihnen weder Wissen noch Weisheit erkennen. Diese Menschen hungern, sie jagen nach Wahrheit und schreien vergeblich. Sie versuchen, die schmerzliche Leere von außen her zu füllen, anstatt aus der immerwährenden Quelle der Inspiration, die in ihren Herzen strömt!“

Ich glaube, es ist unsere vordringlichste Pflicht, unser Äußerstes zu tun, diese Leere in den Menschenherzen auszufüllen, den Menschen den direkten Pfad zur Weisheit zu zeigen und ihre innere Leere mit Reichtum zu füllen, einem Reichtum an Weisheit und augenblicklicher, verstehender Sympathie. Dadurch würde ihr Leben groß, voller Stärke und Wahrhaftigkeit werden. Wir würden gerecht handeln und in all unseren Handlungen edler Vernunft den Vortritt lassen. Viel, wenn nicht alle menschliche Dummheit wäre dann verschwunden, und das Licht der Weisheit würde unsere Schritte leiten.

Was ist das Alter?

Was ist das Alter, die wissenschaftliche Begründung für das Älterwerden? Krankheit ist – wie jedermann weiß – Nichtbefolgung der Naturgesetze, der Gesetze der Gesundheit, deren Mißachtung wir alle mehr oder weniger schuldig sind. Der Tod ist einfach der Rückzug der feineren Kräfte von dieser physischen Ebene, damit das wandernde Ego in seiner egoischen Fülle zu anderen Abenteuern weiterzuziehen vermag, wenn der Ruf und die Anziehung dieser Erde zeitweilig aufgehört haben. Allein über diese beiden Punkte könnten Bücher geschrieben werden. Was also ist das Alter?

Haben Sie sich jemals über die einfache Tatsache gewundert, daß die meisten Menschen mehr oder weniger innerhalb einer gewissen Spanne von Jahren sterben? Wenn wir Krankheiten und Unfälle beiseite lassen, ist die durchschnittliche Lebenserwartung überall in der Welt so ziemlich die gleiche: wir werden nicht tausend Jahre alt, und wenn wir nicht durch Unfall oder Krankheit in die anderen Sphären fortgenommen werden, leben wir länger als zehn oder hundert Tage. Wie kommt es also, daß die Lebensspanne für den Durchschnittsmenschen ungefähr zwischen fünfzig und achtzig Jahren liegt? Lassen Sie uns hundert Jahre sagen, wenn Sie wollen. Das ist immer noch sehr kurz. Warum ist es so? Sind wir nur wie Schafe, daß wir eine Tatsache akzeptieren, weil sie so ist, und weil wir nicht darüber nachdenken und uns fragen, warum sie so ist? Warum sollte ein Wal oder eine Schildkröte nahezu 200 Jahre alt werden, wie manche sagen, und wir Menschen werden gewöhnlich schon vom Todesengel eingeholt, ehe wir einhundert Jahre alt geworden sind? Für einen Menschen ist es so selten, über diese hundert Jahre im physischen Leben hinauszukommen, daß man diese außergewöhnlichen Fälle sogar aufzeichnet, wenn manche hundertfünf oder hundertdreißig oder über hundertvierzig Jahre alt werden.

Ich will Ihnen sagen, was es ist. Es ist Gewohnheit. Die Gewohnheit, die wir in den Aktionen und Reaktionen in dem evolutionären Stadium, in dem sich die Menschheit gegenwärtig befindet, angenommen haben. Wir sprechen über die Planeten und wie diese die Lebensspanne des Menschen regieren. Vollkommen richtig; aber wie kommt es, daß die Planeten zulassen, daß ein Mensch eine Zeit übersteht, die man vielleicht als kritische Zeit bezeichnen könnte, und möglicherweise erst weggenommen wird, wenn er erneut eine solche Periode passiert? Er hat sie vielleicht in seinem bisherigen Leben schon viele Male passiert. Warum erfaßt es ihn zu einer bestimmten Zeit? Das sind faszinierende und interessante Tatsachen, und ich frage Sie, warum ist es so? Meine Antwort lautet: Es ist eine Gewohnheit der Natur, entsprechend unserem vergangenen Karma, entsprechend unseren Gefühlen, Gedanken und unserem vergangenen Denken. Wir haben uns selbst einen Rahmen aus psychischen und intellektuellen Gewohnheiten geschaffen, die den Todesengel veranlassen, uns mehr oder weniger innerhalb dieser kurzen Spanne zwischen einem und siebzig oder hundert Jahren abzurufen.

Wie entstand diese Gewohnheit? War diese Gewohnheit immer so? Wird sie immer so bleiben? Mit anderen Worten, lebten Vorfahren zum Beispiel vor hundertzwanzig Millionen Jahren ebenfalls nur fünfzig oder sechzig oder siebzig Jahre und starben dann? Sie taten es nicht. Sie wurden mehrere hundert Jahre alt. In allen Schriften des Altertums findet man Aufzeichnungen darüber; zum Beispiel in der jüdischen Bibel, nach der Methusalem über neunhundert Jahre alt wurde. Ich halte das zwar für eine Übertreibung, aber es ist ein Beispiel, und wir können es dabei belassen. Dann wurden die Tage der Menschen auf der Erde geringer, weil sie das Böse suchten und das Böse und seinen heißen und tödlichen Atem liebten. Da das Böse eine Zunahme an vitalem Tempo bedeutet, wird das vitale Reservoir vor seiner normalen Zeit erschöpft. Dadurch wurde die Lebensdauer der Menschen kürzer. Das ist eine zutreffende Erklärung, und wenn die Menschheit in Millionen von Jahren eine psychische Gewohnheit erwirbt, dann reagieren selbst die Atome des menschlichen Körpers auf diese Gewohnheit; sie folgen ihr. Das gilt für alle Arten von Gewohnheiten; zum Beispiel für das Aufwachen an jedem Morgen zu einer bestimmten Stunde. Man kann sich angewöhnen, zu viel zu essen oder zu hungern. Man kann alle Arten von Gewohnheiten erwerben. Jeder aufmerksame Arzt kennt die physiologischen Gewohnheiten genau, denen jeder normale menschliche Körper bei der Geburt, bei Heilprozessen und selbst bei Krankheiten unterliegt.

Das beantwortet aber immer noch nicht die Frage, wie es kommt, daß der Mensch gewöhnlich nur zwischen achtzig und hundert Jahre alt wird, was verglichen mit der endlosen Zeit so kurz ist. Nur ein kurzes Aufblitzen und vorbei! Denken Sie an die Sterne und auch an die anderen Geschöpfe der Erde. Viele sind viel langlebiger als wir Menschen. Warum sollte das gerade so sein? Dazu noch ein okkulter Gedanke, von dem Sie halten mögen, was Sie wollen, er ist trotzdem wahr. Diese Gewohnheit wurde nicht nur durch unser vergangenes Karma geschaffen, d. h. durch Dinge, die wir taten, durch die Gedanken, die wir hatten, und durch die Gefühle, die wir durchlebten, und denen wir in all unseren vergangenen Reihen von Leben folgten oder nicht folgten, sondern sie entsteht auch daraus, daß die Menschheit sich auf ihrer evolutionären Reise zu einer weit größeren Vollkommenheit, als wir sie jetzt haben, nur etwa am mittleren Punkt dieser evolutionären Reise auf der planetarischen Kette, wie sie in der Theosophie genannt wird, befindet. Mit anderen Worten, die Menschheit hat in ihrer Reihe von sieben Runden gerade etwas mehr als den zentralen Punkt, der am weitesten unten in der Materie liegt, passiert. Der Ruf des physischen Stoffes ist daher am stärksten.

Wenn man nun das Alter betrachtet, wird man verschiedene Dinge bemerken: Fälle, in denen das Alter höchst wundervoll ist. Diese Menschen verlieren nie ihre Kräfte, außer wenige Tage oder vielleicht eine Woche vor dem Tod. Ihre Kräfte bleiben intakt – nicht die körperlichen Kräfte, weil der Körper ja rasch altert. Ich meine jedoch die wirklichen Kräfte, die uns zu einem Menschen machen. Lediglich einen physisch kräftigen Körper zu besitzen ist nicht das Kennzeichen eines wahren Menschen. Manche schwerfälligen Tiere haben Körper, die weitaus kräftiger sind als der Körper des hoch intellektuellen und zivilisierten Menschen. Es sind die inneren Kräfte, die uns zu Menschen machen, und es sind diese Kräfte, die bei diesen Fällen bis in das reinste, hohe Alter erhalten bleiben, weil diese Menschen die reinsten, die in der gegenwärtigen Zeit am weitesten entwickelten Menschen sind. Es ist, als ob sie der Rasse mit tastenden Schritten vorangehen – wegen dieser Reinheit des evolutionären Standes selbst in der heutigen Zeit – in die Zukunft und in ihre größere Herrlichkeit und dieses evolutionäre Vorausschreiten beibehalten, sozusagen als Vorläufer der rassischen Gewohnheit, bis der Tod sie ereilt.

Wir befinden uns gegenwärtig in der sogenannten vierten Runde, gerade etwa an ihrem zentralen und niedrigsten Punkt. Wenn wir die fünfte Runde erreicht haben, wird der Tod nicht mehr so schnell eintreten. Die menschliche Lebensspanne wird dann weitaus länger sein als nur die dreimal zwanzig und zehn Jahre, die uns die hebräische Bibel als normale menschliche Lebensspanne gibt. Wenn wir die sechste Runde erreicht haben werden, wird die Lebensspanne noch länger sein. Wenn wir die siebte und letzte Runde dieser planetarischen Verkörperung erreicht haben werden, wird die Lebensspanne am längsten sein. Es wird kein Greisenalter mehr geben. Es wird für diese besondere Planetenkette keine Zukunft mehr geben, keinen besten Menschen sozusagen, der der Norm etwas voraus ist, denn alle Menschen werden ihre Fähigkeiten bewahren, bis der Tod eintritt. Während dieser siebten Runde wird die Menschheit im Verhältnis zu uns zu einer Rasse von Buddhas und Christussen geworden sein. Der Tod, der zuletzt zu überwindende Feind, wie das christliche System ihn nennt, wird dann überwunden sein. Krankheit wird nicht mehr existieren, denn die Menschen werden nach einer Gewohnheit leben, die absolut mit den Naturgesetzen übereinstimmt. Was wir Tod nennen, wird einfach ein Einschlafen sein, um in höheren Reichen zu erwachen. Ich meine genau dies – kein Kampf wie gegenwärtig, weder ein sanfter noch ein heftiger Kampf, sondern einfach ein Einschlafen.

Sie sehen, wir schauen Millionen und aber Millionen Jahre voraus, in eine Zeit, in der das menschliche Leben wieder einige hundert Jahre dauern wird, in der seine Gesundheit eine relative Perfektion erreicht haben wird, weil alle Naturgesetze von der Menschheit automatisch befolgt werden. Der Tod wird dann, wenn er kommt, gleich einem sanften Schlaf eintreten, worauf die Entlassung in die inneren Welten erfolgt. In jener Zeit können die Menschen willentlich aus ihrem Körper heraustreten, wenn sie müde sind, ihn hinter sich lassen und willentlich einen neuen Körper annehmen oder in andere Sphären gehen, denn wir werden dann den Tod überwunden haben. Es wird keinen Tod mehr geben, so wie wir ihn verstehen. Das bringt uns die Evolution in der Zukunft – ein wundervolles Bild! Dann werden die Menschen – anstatt sehr alt zu sein – im vollsten Besitz ihrer Fähigkeiten bleiben, nicht nur im Besitz der physischen Kräfte, wie wir sie jetzt so um die fünfundvierzig haben, sondern ihr Intellekt, die Spiritualität, die Einsicht und der Verstand werden auf höchster Stufe stehen. Das kommt sogar heute gelegentlich bei den besten Menschen der menschlichen Rasse vor, die ihren sich entwickelnden Brüdern, die hinter ihnen einhergehen, ein kleines Stück voraus sind. Sie erfassen intuitiv, sie haben Intuitionen, gewissermaßen wie ein Kind, das unsichere Schritte auf etwas noch Unbekanntes zu macht. Die Natur drängt sie vorwärts, so daß ihre Altersperiode derjenigen gleicht, wie sie in der Zukunft für alle Menschen sein wird. Visionen der Zukunft werfen ihre Schatten zu uns hierher zurück.

In der heutigen Zeit gehen wir aufgrund unserer Vergangenheit so auf das Alter zu, wie wir es tun; aber in jenen noch weit entfernten Äonen, so können wir sagen, wird der Mensch mit zunehmendem Alter noch stärker und kraftvoller in allen Dingen, sogar sein Körper. Aber so weit sind wir noch nicht! Das Alter ist bei uns sozusagen eine Kopie im Kleinen von allem, was die Menschenrasse bis jetzt erreicht hat. Es wurde zu einer rassischen Gewohnheit.

Ich will noch auf etwas anderes hinweisen: Bloßes physisches Alter ist keinesfalls etwas Wünschenswertes. Wenn man bedenkt, was das hohe Alter für so viele Millionen Menschen bedeutet, ist es bedauernswert – Verlust der intellektuellen Kräfte, Verlust der Spiritualität, Verlust natürlich auch der physischen Kräfte; Verlust der seelischen Einsichten und großenteils Verlust des Verstandes. Trotzdem leben sie weiter, weil die physische Vitalität so stark ist. Wer möchte das? Aber das ideale Alter, nach dem wir sogar jetzt schon streben und das wir entsprechend unserer Anstrengung gewinnen können, beinhaltet, daß wir den Tod, wenn er kommt, mit Freude empfangen, denn er ist der Beginn eines wunderbaren Abenteuers. Bis diese Zeit jedoch herankommt, gilt es von der Geburt an bis zum Zeitpunkt des Todeseintritts so zu leben und so zu denken und so zu fühlen und so zu streben, daß der Geist, während der Körper mit dem Eintritt des Alters unausweichlich immer schwächer wird, unbeeinträchtigt bleibt, die Spiritualität zunimmt und zur Verherrlichung der Jahre führt, die so unangemessen als Abstiegsjahre bezeichnet werden. Das Ideal hohen Alters ist ein Mensch, der an innerer Kraft, an innerer Vision, an Gedankenkraft, an Intellekt, an Spiritualität zunimmt – so daß er bis wenige Stunden vor seinem Tode mit jedem fortschreitenden Tag ein größerer Mensch ist als am Tag vorher oder ein Jahr vorher. Das ist kein unmögliches Ideal. Wenn man richtig lebt, ist das der Lohn.

Es gibt jedoch im Leben vieler Menschen karmische Dinge, die Krankheiten bringen; Krankheiten, die auf weit vergangene Leben zurückgeführt werden können. Deshalb sollten wir in diesen Dingen weise sein und uns an die schöne alte Regel erinnern: Richte deinen Bruder nicht, auf daß Du nicht gerichtet werdest. Man weiß nie, ob dieser Bruder vielleicht eine schreckliche Vergeltung in diesem Leben durchmacht für eine Missetat, die vielleicht zehn Leben zurückliegen mag und die wie ein Same des Unheils verborgen lag und sich nun entfaltet. Richte ihn nicht, er mag Dir weit voraus sein – sobald dieses Leben zu Ende ist, und er einen neuen Körper und ein neues Karma hat, kann dieses weitaus besser sein als alles, was Du erwarten könntest.

Wir haben noch viele Gebirge der Erfahrung zu erklimmen. Aber welche Freude liegt in all diesen wunderbaren Abenteuern. Blicken Sie auf die zukünftigen Verkörperungen in allen Arten von Rassen und allen möglichen Ländern, von denen sich einige aus der Oberfläche des Wassers erheben, wenn unsere jetzigen dann versunken oder untergegangen sein werden: neue Länder, neue Sprachen, neue Erfahrungen, neue Abenteuer, wobei wir immer vorwärts- und aufwärtsgehen und immer besser werden.

Aber hier ist ein Trost für die gegenwärtigen Zustände: daß die Rasse als Ganzes den zentralen Punkt passiert hat. Von jetzt an wird es nicht länger abwärts in die Materie gehen. Die Menschheit wird vielmehr langsam aufwärts klettern bis zum Ende der Zeit dieser Erde. Den Tod wird es nicht mehr geben. Die evolutionäre Gewohnheit, welcher die menschliche Rasse gegenwärtig unterliegt und die die Lebensspanne auf diese lächerliche geringe Zahl von Jahren begrenzt, wird sich geändert haben. Der Tod wird verschwunden sein. Die Geburt wird auf andere Weise zustandekommen. Der menschliche Genius wird sich mit den Göttern unterhalten. Inspiration wird das allgemeine Erbe aller Menschen sein. Es wird keine Armut, keinen Kummer, kein Leid mehr geben; denn die Sonne der Wahrheit wird in den Menschenherzen aufgegangen sein und Heilung in ihren Schwingen tragen!

Errette Dich selbst

Dies ist die Lehre der großen Weisen und Seher aller Zeiten: errette Dich selbst! Übe die Kräfte in Dir, mit denen Du ausgestattet bist. Bedeutet die Tatsache, daß die Menschen verwirrt und oft von Gewissensfragen geplagt werden, daß wir ohne Führung gelassen wurden? Sehen Sie nicht, daß uns die Natur vielmehr eben dadurch dazu auffordert, die latent in uns liegenden Kräfte auszuüben? Durch die Ausübung von Urteil und Unterscheidungskraft werden Urteil und Unterscheidungskraft gestärkt. Wenn wir unsere eigenen göttlichen Rechte spiritueller und intellektueller Urteilskraft nicht ausüben, werden wir schwächer und schwächer. Nur durch diese Übung entwickeln wir uns und bringen wir die gottgleichen Kräfte in uns immer mehr hervor.

Schauen Sie auf die großen, hervorragenden Vorbilder menschlicher Spiritualität und Genialität, auf denen sich die Annalen der menschlichen Geschichte aufbauen. Sie sind in der Tat herrlich. Sie geben uns Mut und zeigen uns, daß auch wir das, was andere erreicht haben, erreichen können. Sie sind Wegweiser entlang jenes mystischen Pfades, der zu den Höhen des Geistes führt. Wir selbst aber sind es, die diesen Pfad gehen müssen, und wir selbst müssen unsere eigenen Entscheidungen fällen und an ihnen festhalten. Gerade darin liegt ihre große Schönheit.

Was Ihr säet, werdet Ihr ernten. Nichts anderes als das, was Ihr gesät habt. Denken Sie darüber nach, was das bedeutet. Wenn die Menschen davon überzeugt sein werden, wird ihr Urteilsvermögen erweitert sein; dann werden sie keine voreiligen Entscheidungen mehr treffen. Sie werden sich nicht einfach auf andere verlassen und damit ihr eigenes Urteilsvermögen schwächen, weil sie es nicht benutzt haben. Sie werden die großartigen Beispiele der menschlichen Geschichte als Ermutigung annehmen. „Was er als ein Sohn der Menschen getan hat, das kann auch ich tun, indem ich die gleichen Kräfte in mir anwende, die jene große Gestalt der menschlichen Geschichte angewandt hat.“ Ihr Leben ist ein immerwährendes Beispiel für uns. Aber wir selbst sind es, die wachsen müssen und durch die Anwendung unserer Kräfte wachsen wir. Mit jeder Ausübung wird die Unterscheidungskraft schärfer, das Urteil sicherer und das Licht heller. Wenn die Prüfung dann kommt, wissen wir, welchen Weg wir einschlagen müssen.

Der Prüfstein der Wahrheit

Wie kann man etwas über die Zustände nach dem Tode wissen? Zu oft verbirgt sich hinter einer solchen Frage die Annahme, daß es ein Wissen über Dinge, die nicht sichtbar sind, nicht geben kann – nicht sichtbar, nicht erreichbar. Warum nur hat sich das menschliche Denken so unglücklich gerade an diese Torheit geheftet? Wenn Sie die Geschichte der Religion, der Philosophie, der Wissenschaft studieren, werden Sie entdecken, daß einer der traurigsten Züge des menschlichen Wesens die häufige Neigung ist, Tatsachen nicht anzuerkennen. Bedenken Sie folgendes: Die Dinge, die man berühren und sehen kann, sind genau die Dinge, die am meisten in die Irre führen. Denn erstens muß man sich mit den Unvollkommenheiten seiner Sinne abfinden – Fühlen, Sehen, Hören und so weiter – und dann folgt diesen unvollkommenen Wahrnehmungsorganen des Verstandes der Verstand selbst, der auch kein perfektes Urteilsinstrument ist, wenn er Schlüsse ziehen muß.

Aber es gibt etwas im menschlichen Wesen, das aus erster Hand erkennt. Nennen Sie es Geist, nennen Sie es Intuition, bezeichnen Sie es, wie Sie wollen. Die Tatsache bleibt, daß das einzige Wissen, dem Sie jemals trauen können, nicht in dem liegt, was Sie fühlen und sehen können, sondern in dem, was von innen zu Ihnen kommt. Darüber hinaus wissen Sie nichts. Über andere Dinge haben Sie Vorstellungen, oder Sie legen die Vorstellungen anderer Menschen aus.

Erkennen Sie, daß praktisch jede große Erfindung, die je inner- oder außerhalb der Wissenschaft auf jedem Gebiet menschlicher Anstrengung gemacht wurde, von einem Menschen stammt, der auf diese Weise inspiriert wurde? Und wenn er dieses wunderbare Geschenk der Menschheit übergibt, wird die Menschheit erhoben. Jedes Geschenk solcherart wurde von dem inneren Genius des Menschen hervorgebracht. Jede große Erfindung war zuerst ein Blitz der Inspiration; zuerst kam die Idee und dann kommen vielleicht Jahre der Arbeit, um sie herauszuarbeiten und andere von ihr zu überzeugen.

Durch diese innere Kraft können Sie die Wahrheit erkennen. Wenn Sie aber diese Kraft in sich finden wollen, dann stehen Sie in der Tat vor einer Menge harter Arbeit.

An jene, die trauern

Die wunderbare Botschaft, die die Theosophie jenen geben kann, die trauern und sich grämen, bezieht sich nicht allein auf den Tod. Sie wendet sich auch nicht nur an die Hinterbliebenen von Verstorbenen. Sie gilt in gleichem Maße jenen, die mit dem Tod noch nicht in Berührung gekommen sind, allen, die auf dieser Erde leben müssen, wo mehr Gram, Verzweiflung und geistige Müdigkeit existieren als Glück und wirklicher Friede. Ich zweifle daran, ob ein weichherziger Mensch in einer Welt wie der unseren wirklich glücklich sein kann, wenn wir die entsetzlichen Beweise der Unmenschlichkeit sehen, die uns überall umgeben und die von Menschen an ihren Mitbrüdern begangen werden. Wie können wir uns in unsere unanfechtbaren Bastionen des Geistes und des Herzens in unseren Lebensbereichen zurückziehen, wenn wir sehen, was rund um uns herum passiert, nicht nur innerhalb der Menschheit, sondern ebenso unter den hilflosen Tieren: nur Leid, Schmerz und Kummer. An allen Ecken und Enden erhebt sich der Hilfeschrei dieser Märtyrer zum Himmel!

Wir sprechen über die Trauernden und beschränken uns dabei auf uns selbst, jeder einzelne von uns. Warum? Schätzen wir nicht die gütige Hand, die sich in Mitleid und Verständnis den anderen entgegenstreckt, die in Einsamkeit leiden? Der Tod an sich ist nichts, über das man sich grämen müßte. Wir sind ihm auf dieser Erde tausendmal begegnet. Wir kennen ihn gut. Er ist für uns eine alte Erfahrung und nun sind wir wieder hier. Aber wir fühlen mit jenen, die während ihres Lebens trauern: trauern um den Verlust eines geliebten Angehörigen; trauern um entschwundenes Glück. Vielleicht haben sie sogar Schwierigkeiten, das tägliche Brot für den Lebensunterhalt jener zu besorgen, die sie lieben. Dann sind da die anderen, die trauern, weil sie es schwer haben, eine ihnen entsprechende Arbeit zu finden, die es ihnen ermöglicht, ihre hungrigen Kinder zu ernähren. Oder die, die trauern, weil sie eine Freundschaft, eine Liebe, eine Hoffnung verloren haben oder vielleicht das Entsetzlichste von allem: weil sie das Vertrauen in ihre Mitmenschen verloren haben.

Jeder Mensch weiß, was es heißt, um etwas zu trauern, es sei denn, er wäre herzlos. Jemand, der nicht trauert und nicht trauern kann, ist meiner Meinung nach unmenschlich. So großartig und wundervoll ist die Natur beschaffen, daß wir gerade aufgrund dieser göttlichen Eigenschaft, trauern zu können, fähig sind, für andere Mitgefühl zu empfinden und ein verständnisvolles Herz für die Trauernden zu haben. Und welch seltsame Magie des menschlichen Geistes ist es, daß Trauer, Gram und Leid unsere weisesten Freunde sind. Wie sie unsere Herzen bereichern! Welch unvergleichlicher Schatz ist die Erweiterung des Bewußtseins, die erfolgt, wenn Trauer ihre oft brennende, aber stets heilende Hand auf unsere Herzen legt. Wir bringen ein Opfer; aber in diesem Opfer liegt Läuterung, es ist das Erwachen zu einem größeren Leben. Durch Gram, durch Trauer und durch das als Folge davon hervorquellende Erbarmen und Mitleid lernen wir wahrhaft zu leben. Selbst kleine Kinder wissen, was Leid ist. Welch wundervolle Erfahrung ist es für sie, wenn sie das größte, was das Leben zu bieten vermag, kennenlernen: zu lernen und dadurch bereichert zu werden, dadurch größer gemacht zu werden.

Wie erbärmlich ist ein Mensch, der nicht mit anderen fühlen kann. Er ist gänzlich im winzigen Gefängnis seines kleinen Selbst eingeschlossen. Wo in ihm ist Größe? Selbst wenn Sie danach suchen, können Sie keine finden. Der Mensch jedoch, der gelitten hat, fühlt mit der ganzen Welt. Jedes Wehklagen der Trauer fällt auf sein Herz wie eine heiße Träne, und er gewinnt dadurch an Größe. Die Natur arbeitet hier in einer magischen Weise, denn in diesem Prozeß ruht knospenhaft eine vielversprechende Hoffnung, eine von Sternenlicht erfüllte Inspiration, die aus dem erweiterten Bewußtsein entsteht.

Seliger Friede, unbeschreibliche Freude und alles Glück, das ein menschliches Herz und ein menschliches Bewußtsein ertragen können, sind das spirituelle Erbe jener, deren Herzen durch Leid geläutert wurden. Diejenigen, die niemals gelitten haben, sind hartherzig und unreif in ihrem beschränkten Bewußtsein. Wer als Mensch niemals gelitten hat, weiß nicht, was innerer Friede ist. Er hat ihn niemals erfahren. Wer nie Trübsal kennengelernt hat, kennt weder ihr Nachlassen noch die Seligkeit, die uns erfüllt, wenn sich die Ruhe auf uns legt.

Es sind die Trauernden – sie bilden eigentlich die gesamte menschliche Rasse – denen Theosophie ihre erhabene Lehre der Hoffnung und des Friedens vermittelt, denn sie lehrt uns, zu verstehen. Es gibt ein französisches Sprichwort, das besagt: Tout comprendre c’est tout pardonner, das heißt übersetzt: Alles verstehen heißt alles vergeben.

Ist es nicht klar, daß innere Größe aus einer Erweiterung kommt, und daß eine Erweiterung unseres Bewußtseins, unseres Verständnisses und unseres Herzens aus Leid entsteht? Auch Freude kann uns ein Lächeln auf die Lippen und einen Glanz von Glücklichsein in die Augen zaubern. Aber stimmt es nicht, daß sich sämtliche alltäglichen Lebensfreuden in unserem Mund zu Asche verwandeln? Stimmt es nicht ebenso, daß diese Lebensfreuden uns allzuoft selbstsüchtig werden lassen? Wir haschen nach den Freuden und erschrecken, wenn sie uns verlassen. Oft machen sie uns engherzig. Aber Mitgefühl und durch Leid erwachsene Sympathie lassen alle Welt gütig sein. Ein Mensch, der in seinem Leben nur Freude erlebt, hat vielleicht keine Bedenken, einem Mitmenschen Kummer zu bereiten. Er ist noch nicht erwacht und kann nicht begreifen. Er ist verwirrt und unwissend. Aber Menschen, die gelitten haben, die Trauer empfunden haben, sind in ihrer Güte und in ihrem Verständnis groß, denn sie verstehen und begreifen. Ihr Bewußtsein ist erweitert, und sie sind großherzig. Die höchste Verfeinerung davon ist, daß sie im buchstäblichen Sinne verklärt werden. Sie werden glorifiziert und den Gottmenschen auf Erden ähnlich.

Unsere segensreiche Botschaft an die Trauernden ist deshalb: Fürchtet die strahlende und heilige Flamme nicht. Sie wird Euch zu wahren Männern und Frauen machen, zu mehr als nur männlichen oder weiblichen Wesen. Was ist das große und hervorragende, charakteristische Merkmal der Gottmenschen, die von Zeit zu Zeit unter uns lebten? Es ist ihr verstehendes Herz, das sie befähigte, zu der Frau, die sich in Schwierigkeiten befindet, zu sprechen und ihr zu helfen; zu dem unwissenden Mann und ihm Beistand und Frieden zu geben; zu den kleinen Kindern und ihnen Verständnis zu bringen. Denn das einfache Herz des großen Mannes spricht zu dem einfachen, direkten Herzen des Kindes, bevor es noch verdorben wird, zugrunde gerichtet von der Falschheit, die es nur allzuoft lernt, wenn es heranwächst, und die es wieder verlernen muß, um ein wahrer Mann, eine wahre Frau zu sein.

Zu denen, die trauern, kommt die frohe Botschaft: Möge die heilige Flamme wie ein besuchender Gott in Ihre Herzen einkehren. Begegnen Sie ihm freundlich. Heißen Sie ihn willkommen. Empfangen Sie ihn wie einen Gast. Und jener leidgeprüfte Gast wird Sie der Trauergewänder entledigen. Sie werden erkennen, daß Sie unvermutet einem Gott gegenüberstehen. Und dieser Gott sind Sie selbst. Sie haben zu sich selbst gefunden.

Die Hingabe des Selbst

Keine Freiheit ist so groß, kein Glück so gewaltig und so weitreichend wie die Hingabe des Selbst im Dienen. Der Held ist es, der sich selbst gibt. Wenn er sich nicht völlig hingeben würde, läge kein Heroismus darin. Die Hingabe ist das Heroische.

So ist es auch mit der Liebe. Wo sie in Frage gestellt wird – nicht Unsicherheit, denn Unsicherheit ist in diesen Dingen immer sehr natürlich; man möchte sicher sein – wo die damit verbundenen Werte bezweifelt werden, wo selbstsüchtig nach dem gesucht wird, ‘was ich will’, da gibt es keinen Heroismus, keine Liebe, keine Selbsthingabe. Es gibt in einem solchen Falle nicht den Hauch eines Schattens einer Chance für die gottgleiche, heroische Eigenschaft der Selbstverleugnung.

Wenn das Jahr anfängt, wenn es beginnt, lasse ich immer dieses eine Mantram in meinem Herzen und in meinen Gedanken erklingen: Ein neues Jahr beginnt. Kann ich mich in diesem Jahr etwas mehr hingeben als im letzten Jahr? Ich bedaure aus tiefer Seele jeden Menschen, der nicht die außerordentliche Freude der Hingabe des Selbst kennengelernt hat. Es gibt nichts auf der Erde, was dem an Schönheit, an Größe, an Erhabenheit und Frieden und Reichtum gleicht, die sie für Herz und Verstand bringt.

Warum nicht über sich selbst lachen?

Viele Menschen sprechen über die heroische Tat der Selbstüberwindung – eine Sache, der wir alle zustimmen. Aber ich frage mich manches Mal, ob unsere Vorstellung vom heldenhaften Kampf mit uns selbst nicht etwas hysterisch, ja sogar töricht ist! Dabei meine ich nicht das Heroische, sondern unser niederes Ich, das arme kleine Ding! Es spielt die ganze Zeit verrückt mit uns, nur weil wir uns selbst mit ihm identifizieren und immer versuchen, es zu bekämpfen und es ebenso groß zu machen, wie wir sind. Ist es heroisch, gegen ein selbstgeschaffenes Gespenst zu kämpfen?

Was sagte doch der weise, alte Lao-tse? Wenn Du dein niederes Ich überwinden willst, lasse es beschämt sein über sich, lasse es lächerlich erscheinen. Lache es aus; lache über Dich selbst. Solange Du etwas beachtest, hebst Du es hervor und stellst es auf Dein eigenes Niveau, und wenn Du es dann zu bekämpfen versuchst, bekämpfst Du in Wirklichkeit einen anderen Teil Deiner selbst, der wirklich äußerst nützlich sein könnte.

Ich hörte jemanden sagen: Töte das niedere Selbst. Nehmen Sie einmal an, wir könnten dies tun. Wir wären dann die unglücklichsten Wesen. Ja, wir wären dann überhaupt nicht vorhanden. Das niedere Selbst ist, wenn es im Zaum gehalten wird, ein gutmütiges, kleines Tier. Es hilft uns. Unsere Pflicht besteht nur darin, es im Zaum zu halten. Wenn jemand einen launischen Hund oder ein störrisches Pferd oder ein anderes Haustier besitzt, was es auch immer sei, dann tritt er es nicht oder versetzt ihm Hiebe oder schlägt es auf den Kopf, um es gutmütig zu machen. Er würde es dadurch eher rebellisch, feige und hinterhältig machen. Er würde es erniedrigen. Daher sollte das niedere Selbst nie erniedrigt oder mit der falschen Würde eines Gegners ausgestattet werden, der irrtümlich in den Rang des höheren Selbst erhoben wird. Es sollte an seinem Platz gehalten werden und mit Freundlichkeit, Aufmerksamkeit und Höflichkeit behandelt werden, jedoch immer mit einer festen und führenden Hand. Wenn aber das niedere Selbst anmaßend wird, dann stellen Sie es an seinen ihm zustehenden Platz, aber nicht durch Brutalität oder durch Bevorzugung noch durch Bekämpfung. Verspotten Sie Ihr niederes Selbst, und Sie werden bald sehen, wie das niedere Selbst wieder seinen ihm zustehenden Platz einnimmt, weil es sich eine Zeitlang schämt und an Ansehen verloren hat – ‘es hat sein Gesicht verloren’, wie die Chinesen sagen.

Genauso ist es bei einem Hund. Haben Sie nicht schon erlebt, wie ein Hund seinen Schwanz zwischen die Beine einzieht, wenn man ihn auslacht? Die Hunde wissen es, wenn man sie auslacht, und es ist eine der besten Möglichkeiten, mit einem Tier umzugehen.

Ich glaube, daß Lao-tse aus China eine sehr weise Feststellung traf; er sagte: eine der besten Möglichkeiten, einen Feind zu überwinden, besteht darin, ihn lächerlich erscheinen zu lassen.

Nun, das schickt sich natürlich nicht zwischen Mensch und Mensch, weil es sehr oft hart und grausam ist. Beide stehen auf gleicher Stufe. Man kann einen Menschen schrecklich und ungerecht verletzen, wenn man ihn in eine falsche Lage bringt, indem man ihn lächerlich macht. Unmöglich! Aber versuchen Sie es bei sich selbst. Das nächste Mal, wenn das niedere Selbst Ihnen sagen will, was Sie tun sollen, dann lachen Sie darüber. Schenken Sie ihm keine Beachtung, geben Sie ihm nicht Rang, Kraft oder Stärke, indem Sie es bekämpfen. Beleidigen Sie es andererseits auch nicht und machen Sie es nicht schwach und hinterhältig und feige. Stellen Sie es an den richtigen Platz durch Spott und manchmal auch durch eine freundliche Geringschätzung. Lernen Sie den größeren Heroismus. Lachen Sie über die Sache, die Sie stört.

Die Rolle, die ein Sinn für Humor im menschlichen Leben spielt, das heißt, im menschlichen Denken und Fühlen und folglich auch im Verhalten, und die Rolle, die der Humor in spirituellen Dingen spielt, wird allzuoft übersehen. Wir mögen den Sinn für Humor definieren als ein Erkennen der harmonischen Beziehungen zwischen scheinbar nicht übereinstimmenden Dingen, zwischen den Übereinstimmungen und den Nichtübereinstimmungen, die den Sinn für das Komische in uns wecken.

Die Fähigkeit, Humor in dem zu erkennen, was uns widerfährt, ist eine spirituelle Eigenschaft, denn letzten Endes ist Humor ein Urbestandteil des Universums. Ich glaube, eine der größten Tragödien im persönlichen Dasein ist die Unfähigkeit, die komische Seite der Dinge zu sehen, wenn Schwierigkeiten auftreten. Wenn uns Unglück zustößt, sollten wir versuchen, das Komische daran zu sehen; damit ersparen wir uns aller Wahrscheinlichkeit nach nicht nur eine Menge Kummer, sondern gewinnen daraus auch noch großen Spaß.

Ich erinnere mich an den großen Spaß, den ich in meiner Kindheit bei einer Diskussion mit meinem lieben alten Vater hatte. Mein Vater hatte in einer theologischen Zeitschrift einen Artikel von einem bedeutenden christlichen Geistlichen gelesen, der dafür plädierte, daß der „allmächtige Gott“ einen Sinn für Humor habe. Ich sagte, das sei einfach großartig. Unser Sinn für Humor ist zwar menschlich und gering, weil wir gering sind, aber ist es möglich, daß der Mensch als Teil etwas besitzen kann, was das allmächtige Ganze, das Göttliche, nicht besitzt? Wenn das Göttliche einen Sinn für Humor hat, sagte ich, dann muß es natürlich ein Sinn für göttlichen Humor sein; aber es ist trotzdem Humor.

Es steckt sehr viel vernünftige Wissenschaft und Philosophie in der alten hinduistischen Idee, daß Brahma(n) das Universum im Spiel, in der Freude hervorgebracht hat. Die Worte unterscheiden sich von jenen des christlichen Geistlichen, aber die Idee ist die gleiche. Mit anderen Worten, die Hervorbringung aller Dinge war keine Tragödie, es lag Schönheit darin; es lag Harmonie darin; es steckte Humor darin; und wer in diesem Universum lebt, kann den Humor darin erkennen, wenn er will.

Betrachten Sie die Religionskriege und die religiösen Streitereien, die nie stattgefunden hätten, wenn die Menschen einen Sinn für Humor gehabt hätten. Wenn heutzutage die Menschen die humorvolle Seite der Dinge sehen würden, dann würden sie anfangen, miteinander zu leben, einander zu lieben, miteinander zu lachen und gegenseitigen Rat anzunehmen, anstatt einander zu mißtrauen.

Der Schutzengel

Ich bitte um Ihre ehrerbietige Aufmerksamkeit für eine tiefe und schöne Tatsache der Natur. Für mich ist dieser Gedanke einer der schönsten der theosophischen Lehren. Nämlich, daß die „Engel“ oder die „Schutzengel“, wie die Christen sagen, uns behüten. Diese wunderbare Lehre, die für Menschen in Zeiten der Not und Trübsal soviel Trost und Hilfe bedeutet, wird jedoch von den heutigen Christen nicht mehr verstanden, weil ihnen der ursprüngliche Sinn verlorengegangen ist. Sie scheinen anzunehmen, daß es ein Engel außerhalb von uns ist, den der allmächtige Gott beauftragt hat, für das Kind eine Art schützender Elternteil zu sein. Manche Christen nehmen wohl auch an, der Schutzengel trenne sich wieder von dem Kind, nachdem es erwachsen wurde. Diese Lehre von beschützenden und leitenden spirituellen Einflüssen in der Welt ist eine sehr alte Lehre der Weisheitsreligion. Sie wurde in Persien, Indien, Ägypten, bei den Druiden, ja, soweit mir bekannt ist, tatsächlich überall gelehrt.

Sie besagt einfach: In und über dem Menschen ist etwas Geistiges oder eine Macht, die ihn führt und die sein Herz und seinen Geist mit Hoffnung, Trost, Frieden und Rechtschaffenheit erfüllt. Wer aufnahmebereit ist und es einläßt, der wird den inneren Weisungen folgen und offen danach handeln. Die Gegenwart des Schutzengels wird ihm mehr oder weniger bewußt sein. Er wird ihn als Helfer ansehen, der Tag und Nacht bei ihm ist, der niemals versagt, der ihn immer leitet und lehrt, sich selbst zu schützen. Geist und Herz müssen jedoch empfangsbereit sein, andernfalls kann das Gehirn die Führung und Inspiration nicht wahrnehmen.

Was ist dieser Schutzengel? Man kann ihn einen Dhyāni-Chohan nennen. Unsere eigene, spezielle Fachbezeichnung für ihn ist das Sanskritwort Chitkāra: „Gedankenwirker“. Sie erinnern sich, daß von dem großen griechischen Philosophen Sokrates berichtet wurde, er sei von seinem inneren Daimon, seinem ständigen Begleiter, geführt worden, der ihm – seltsam genug – nie sagte, was er tun sollte, ihn aber stets davor warnte, was er nicht tun sollte. Es wurde berichtet, daß er oft, wenn er sich über den einzuschlagenden Weg nicht sicher war, beiseite ging, die Augen schloß, sich ganz ruhig verhielt und versuchte, seinen Geist von allem bruchstückhaften Gerede und von der Unruhe und Rastlosigkeit fahriger Gedanken zu befreien – mit anderen Worten, das Denkorgan leer und klar zu machen, damit der innere Schutzengel in das materielle Gehirn eindringen konnte. Das war in diesem Falle der Schutzengel.

Nun, was ist dieser Schutzengel? Befindet er sich außerhalb des Menschen? Er ist ein Teil des Geistes im Menschen, er gehört seiner Pneumatologie an; er ist nicht der menschliche Teil, sondern ein Teil seines spirituellen Wesens. Man kann ihn das Höhere Selbst nennen, aber ich bezeichne ihn lieber als das Spirituelle Selbst, weil der Ausdruck „Höheres Selbst“ eine bestimmte enger begrenzte Bedeutung in der Theosophie hat. Die innerste Wesenheit des Menschen, der Schutzengel, das Spirituelle Selbst, ist daher im Vergleich zu dem Menschen aus Fleisch und Blut, dem Gehirnmenschen, wie ein Gott. Verglichen mit seinem menschlichen Wissen, ist sie allwissend; verglichen mit seiner menschlichen Vision, hat sie die Vision der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft, die alle drei in Wirklichkeit nur ein ewiges JETZT in der ewigen Gegenwart sind.

Dieser Schutzengel wird stets und unaufhörlich danach streben und trachten, sein eigenwilliges irrendes Kind – den irdischen Menschen – zu leiten. Wenn Sie Ihren Verstand diesem inneren Lehrer öffnen und seinen Weisungen folgen, dann wird Ihr Leben sicher, glücklich und erfolgreich sein. Natürlich müssen wir durch alles hindurch, was Karma uns bringt, d. h. durch alles, was wir in der Vergangenheit geschaffen haben; dies muß sich auswirken. Wenn man seinen Finger in das Feuer hält, wird er verbrannt. Wenn man mit seinem Fuß in eine Maschine gerät, wird er gequetscht. Aber der innere Krieger, der Schutzengel, wird uns, wenn wir ihn erst einmal zum Gefährten gewonnen haben, mit der Zeit daran hindern, den Finger ins Feuer zu halten oder den Fuß dorthin zu setzen, wo er zerquetscht werden kann. Soweit es mich betrifft, ist mein Leben dadurch sechsmal gerettet worden. Ich muß mich nur tadeln, daß ich nicht eher, nicht schon als jüngerer Mensch, den Versuch unternommen habe, diesen wunderbaren Lehrer, diesen göttlichen Funken, dieses Spirituelle Selbst in mir, das wirklich aus dem Stoff der Göttlichkeit geschaffen ist, noch klarer zu erkennen und mir selbst noch bewußter zu machen. Im Vergleich zu mir, ist mein Beschützer ein Engel, ein Gott.

Der einzige Unterschied zwischen dem gewöhnlichen Menschen einerseits und dem Christus- und dem Buddhamenschen andererseits ist der, daß es uns gewöhnlichen Menschen noch nicht gelungen ist, mit dem Schutzengel in uns vollkommen eins zu werden, wie es die Buddhas und die Christusse geworden sind. Buddha oder Christus ist einer, der sich, sein ganzes Wesen, sein Herz, dem Eintritt des innwendigen Schutzengels so öffnete, daß dieser sich tatsächlich in ihm verkörpert hat, so daß der niedere Mensch kaum noch vorhanden ist. Es ist dann der Schutzengel, der mit den Lippen des Fleisches spricht, er ist der Bodhisattva, der innere Christus.

Dieses sind einige der vergessenen Werte im menschlichen Leben, und ich kenne keine größeren Werte als diese beiden: erstens, wir sind eins mit dem Universum, eins mit der Göttlichkeit, untrennbar von ihr. Damit wird es ziemlich unwichtig, was einem widerfährt. Was auch kommen mag, es ist ein Teil des universalen Schicksals. Mut und Hoffnung und Frieden werden uns erfüllen. Der andere vergessene Wert ist der vorhin erwähnte Chitkāra. Lassen Sie diesen Schutzengel in Ihnen lebendig werden und durch Sie sprechen, und das so bald wie möglich. Ich sage das, was ich weiß, nicht nur um vor Not und Gefahr zu bewahren, sondern auch vor Unheil aller Art. Er bringt Frieden und Trost, Glück und Weisheit und Liebe, denn diese sind seine Wesensart. Dieser Dinge bedarf die arme Menschheit heute ganz besonders, denn die meisten Menschen haben den Eindruck, daß all die Not in der Welt ganz zufällig entstanden ist, und daß es keinen Ausweg gibt, außer durch einen glücklichen Zufallstreffer. Das ist natürlich barer Unsinn. Diese Welt ist eine Welt von Gesetz und Ordnung, und wenn wir die Regeln dieser Gesetze und Ordnung brechen, müssen wir leiden.

Wenn doch die Menschen diese einfachen Wahrheiten der universalen Natur erkennen würden! Sie helfen so sehr. Sie geben dem Leben Inhalt und machen es wunderbar sinnvoll. Sie regen uns dazu an unsere Arbeit zu tun, und zwar so, wie es dem Menschen gebührt. Sie bewirken, daß wir unsere Mitmenschen lieben, und das veredelt uns. Wer nur sich selbst liebt, der beschränkt sein Bewußtsein auf einen kleinen Punkt, und es ist keine Weite oder Größe in ihm. Wer hingegen seine Mitmenschen liebt und damit beginnt, alle Dinge zu lieben, ob groß oder klein, dessen Bewußtsein wächst über sich selbst hinaus und fängt an, alles zu umfassen, zu verstehen und aufzunehmen. Es wird schließlich zu universaler Empfindung, zu universaler Sympathie, zu universalem Verständnis. Das ist groß, das ist göttlich!

Stärke durch Übung

Unser Schicksal liegt in unseren eigenen Händen, und wir können uns selbst fördern oder verderben. Kein Gott verbietet, kein Gott zwingt; wir sind Kinder des Göttlichen und daher Teilhaber an der göttlichen Willensfreiheit. Auf unsere eigene, schwache Weise als nur teilweise entwickelte Seelen erarbeiten wir unser Schicksal. So wie wir unser Leben gestalten, so wird unser Leben werden: Gut, schlecht, wohlgestaltet, entstellt, schön oder häßlich. Wir machen es so. Darin liegt kein Fatalismus. Die Natur, die uns umgibt, unterstützt uns nicht nur, sondern sie behindert uns seltsamerweise auch gleichzeitig in gewissem Maß, um uns die Gelegenheit zu geben, unsere Stärke an der Opposition zu üben; das ist der einzige Weg, mehr Kraft zu entwickeln!

Übung bringt Stärke heraus. Wenn die Natur uns keine Gelegenheit gäbe, den Gott in uns zu erproben, dann würden wir niemals wachsen. Daher ist die Natur nicht nur eine sehr schöne, hilfreiche Mutter, sondern auch eine strenge Amme, die mit unendlich mitleidvollem Auge über uns wacht. Und mit ihrem Wirken und mit ihren Reaktionen auf das, was wir tun oder mit unserem Willen verfolgen, drängt sie darauf, daß dieser Wille durch Übung an Stärke zunimmt, daß unser Verständnis durch Anwendung klarer und schärfer wird.

Die Ursachen für das Leid in der Welt und seine Heilung

Was ist heutzutage mit der Welt los? Das Problem ist der verzweifelte Wunsch der Menschen, anderen ihre Meinung aufzuzwingen. Seit dem Untergang des Heidentums war und ist das im Westen ein Grund für Unruhe. Es war der Schandfleck in der Geschichte der christlichen Kirche – ich sage dies mit Ehrfurcht vor den vielen nobel gesinnten Herzen, die in dieser Kirche wirkten und sie durch ihr Leben mit Licht erfüllten. Seit der Zeit des Niedergangs von Rom war der große Fehler der Menschen aller europäischen Länder, natürlich auch der unserer beiden Kontinente, rücksichtslos darauf zu bestehen, daß andere genauso denken müssen wie sie, in der Religion, in der Politik, im Gesellschaftssystem, gleichgültig, worum es sich handelt.

Diese Geisteshaltung schürte die Scheiterhaufen der Märtyrer. Sie ist auch verantwortlich zu machen für die marodierenden Banden, die man schickte und beauftragte, andere Menschen umzubringen. Mit dieser Geisteshaltung wurden Verträge geschlossen, besiegelt und anderen Nationen aufgedrängt. Und heute beunruhigt uns das, man sieht es überall, genauso. Diese Haltung können Sie sogar in friedlichen Ländern beobachten. Sie sehen es zum Beispiel in unseren Gesellschaftsformen. Die Leute in der westlichen Hemisphäre scheinen nicht eher glücklich zu sein, als bis es ihnen mehr oder weniger gelingt, ihren Willen, ihr Denken und ihre Vorstellungen darüber, was richtig ist, anderen aufzuzwingen: So und so sollte die Welt funktionieren, dieses und jenes sollte auf solche Weise getan werden, und vor allem sollten andere Völker nur bestimmte Dinge glauben und für richtig halten. Wenn Sie sich vergegenwärtigen, wie hoch wir selbst das Heiligtum unserer eigenen Herzen schätzen, die Freiheit unseres eigenen Lebens und unser Recht, frei zu denken, dann können Sie leicht erkennen, wie tragisch die Konsequenzen immer sind.

Ich sah dasselbe falsche Verhalten sogar im Denken von Theosophen. Diese schienen zu glauben, alle anderen Theosophen, die ihre theosophischen Meinungen nicht akzeptierten, seien allesamt auf dem falschen Pfad. Das ist eine Wiederholung desselben alten und üblen Wunsches, andere Weggefährten müßten ebenso denken wie sie.

Was Sie auch immer versuchen, Sie können damit niemals vollen Erfolg haben. Sie können die Menschen töten, ihre Körper in Ketten legen, ihren Verstand und ihr Herz quälen und versuchen, sie zu verwirren. Aber die menschliche Seele läßt sich nicht in Ketten legen. Sie wird sich immer befreien. Dann beginnt dieselbe alte Tragödie von neuem. Das ist erschütternd. Das Pathos liegt keinesfalls nur in dem großen menschlichen Leid, das damit verbunden ist. Mindestens ebenso bedauerlich ist, daß die Menschheit freiwillig auf die immensen Schätze verzichtet, die in den Herzen und im Denken anderer Mitmenschen verborgen sind. Bedenken Sie, ob es für einen Menschen etwas Schöneres geben kann, als die Denkprozesse seines Freundes oder seines Mitgefährten zu studieren, ihm dabei zu helfen, sie zu artikulieren und wachsen zu sehen und seinen ganzen Gedankenreichtum zu entfalten. Das ist produktiv. Alles andere zerstört nur. Der eine macht die Schätze fruchtbar, die im menschlichen Denken und Fühlen enthalten sind. Die Folge davon sind Großherzigkeit sowie Friedfertigkeit und Milde im Umgang mit anderen Menschen. Der andere erzeugt Haß, Argwohn, nicht zu bändigenden Unwillen und fördert den Drang, sich von der Sklaverei auferlegter Glaubensüberzeugungen, auferlegter Ideen und Denkformen zu befreien.

Wissen Sie, warum das alles passiert? Einfach deshalb, weil die meisten Menschen unbeseelt sind. Ich meine damit nicht, daß sie keine Seelen besitzen. Aber ihre Seelen sind nicht aktiv, sie arbeiten nicht und sind nicht produktiv. Sie schlummern. Die meisten Menschen leben wie menschliche Tiere. Tatsächlich schlimmer, denn Tiere werden mehr oder weniger durch einen Instinkt geleitet, so daß sie gewissermaßen anderen Tieren gegenüber Respekt zeigen. Aber die Menschen denken mit List und Tücke. Wenn sie das noch unter Einsatz ihres Verstandes tun, dann ist das Ergebnis in jeder Weise religiöse, soziale und politische Tyrannei. Es ist meines Erachtens nach Tyrannei, wenn eine Minorität oder Majorität, ein einzelner oder viele aus einer bestimmten Gruppe versuchen, bestimmte Ideen, Denkformen oder Führungssysteme anderen aufzuzwingen, die dann zustimmen müssen – und das nennen wir „die Freiheit des Okzidents“!

Freiheit! Sie ist eine der segensreichsten Himmelsgaben und eines jener Geschenke, die wir am schlimmsten mißbraucht haben. Denn wir waren der Meinung, daß andere Menschen erst dann Freiheit hätten, wenn sie sich entschließen würden, unsere Überzeugungen, unsere Institutionen und unsere Lebensweise zu übernehmen. Und das Resultat: die Unterdrückung von Millionen blühender menschlicher Seelen, die sonst vielfach Frucht getragen hätten und auf wunderbare Weise ihren Beitrag zur Bereicherung unseres gemeinsamen menschlichen Schatzes geleistet hätten.

Bin ich mit diesen Ideen zu revolutionär? Niemals. Damit würde ich mich nämlich desselben moralischen Verbrechens schuldig machen, das ich gerade verurteilt habe. Ich würde versuchen, meine Anschauung anderen aufzudrängen. Evolutionär? Ja! Ich appelliere an die Herzen und an den Verstand der Menschen, sich stets zu vergegenwärtigen, daß man niemals vollständig glücklich sein, niemals sein Bestes geben und seine Mitmenschen nie anregen kann, dasselbe zu tun, wenn man andere bekämpft. Das hat nie funktioniert und wird es auch in der Zukunft nicht. Dem stehen alle Gesetze der menschlichen Natur entgegen. Es widerspricht allen Gesetzen der höheren und der niedrigeren Psychologie. Es ist jedermanns Pflicht, den Gesetzen seines Landes zu gehorchen. Dabei spielt es keine Rolle, um welches Land es sich handelt und um welche Gesetze. Solange man in dem betreffenden Land lebt, muß man seinen Gesetzen gehorchen. Falls jemand jedoch mit seinem Leben bezeugt, daß er ein besserer Mensch ist, bereit, als Märtyrer für eine gerechte Sache sein Leben zu opfern, dann wird die Welt von seinem Vorbild erfahren, und um eine alte christliche Ausdrucksweise zu gebrauchen, er wird zum „Samenkorn seiner Kirche“; es ist doch eine seltsame Sache mit der menschlichen Psychologie, daß selbst jemand, der elendig sein Leben verliert, damit noch Propaganda machen kann.

Im Leben ist es ein Ausdruck höchster Weisheit, so lehren die Meister der Weisheit, für die Seelen aller Menschen Sympathie zu empfinden. Machen Sie Ihr Leben zu einem Beispiel dessen, was Sie predigen: von Gerechtigkeit, brüderlicher Liebe, Sympathie, Mitgefühl, Mitleid, Erbarmen, Hilfsbereitschaft und von der Unfähigkeit, gegenüber einem anderen Menschen eine unehrenhafte Handlung zu begehen. Andere werden dann Ihrem Beispiel folgen, weil Sie wie ein Leuchtfeuer die dunkle Nacht erhellen.

Dies ist das Ideal; ich werde es mir stets vor Augen halten. Seit meiner Kindheit weiß ich, daß das interessanteste aller menschlichen Dinge, das interessanteste Ereignis in den menschlichen Beziehungen, im täglichen Geben und Nehmen, das Herausarbeiten der inneren Fähigkeiten des anderen ist, die er zu zeigen und auszudrücken versucht. Es ist ein faszinierender Vorgang. Der schnellste Weg, ihn zu beenden und die Entfaltung dieses Vorgangs zu unterbinden, ist der Versuch, dem anderen seine eigenen Ideen aufzunötigen. Sie töten damit tatsächlich etwas wunderbar Schönes. Anstatt einfühlend dabei zu helfen, daß sich diese inneren Fähigkeiten entfalten können, zerstören Sie das Edelste, was das menschliche Leben zu bieten vermag. Es ist ein Verbrechen, so zu handeln. Wenn Sie andererseits dabei helfen, die inneren Qualitäten einer menschlichen Seele zu entfalten, bereichern Sie diese und ebenso sich selbst. Dies ist das Kennzeichen echter Führung. Das bedeutet Führung der Herzen der Menschen: das Beste in anderen hervorzubringen, so daß sie selbst die Schönheit lieben lernen, die so zur Entfaltung kommt und vom Feuer des Enthusiasmus entflammt wird. Anderen Ideen aufzuzwingen, ist Tyrannei.

Wir leben unter einer Herrschaft der Gewalt. Überall werden Menschen gewaltsam unterdrückt. Sie kennen die Auswirkungen von Gewalt im Bereich der Technik; gleichermaßen bewirkt die Unterdrückung des Strebens der menschlichen Seele, das Niederhalten dessen, was eines Tages zum Vorschein kommen muß, Explosionen. Fragen Sie sich deshalb, warum uns die größten Menschen lehrten, die je auf Erden gelebt haben, daß der einzige Weg zu Frieden, Glücklichsein, Wachstum, Wohlstand, Reichtum und all den anderen schönen Dingen des Lebens darin besteht, gegenseitige Liebe und Gerechtigkeit zu praktizieren? Die Seelen der Menschen hungern nach Liebe und Sympathie. Fügen Sie anderen nichts zu, was Sie nicht wollen, daß man es Ihnen zufügt – diese negative Formulierung ist die klügere. Anderen das anzutun, von dem Sie wünschen, daß man es auch Ihnen antut – „Menschenseelen zu retten“ –, ist eine Regel, die nur die Ausübung von Dummheit und Fanatismus zuläßt.

Behandeln Sie andere – formulieren Sie es positiv, wenn Sie mögen –, behandeln Sie andere, wie Sie selbst von anderen behandelt werden möchten und sie werden nach und nach sehen, wie sich als Folge davon deren und Ihre Ideale zu voller Blüte entfalten. Wem das gelingt, der ist wahrlich seelenvoll. In ihm überwiegen die Qualitäten der Seele. Er liebt, weil Liebe etwas Wunderbares ist. Wer das Leben seiner Mitmenschen reicher macht, bereichert sein eigenes Leben. Er behandelt die anderen Menschen voller Edelmut und läßt ihnen den Vortritt. Das ist nicht nur ritterlich, sondern es läßt auch die eigene Kraft und Stärke wachsen, weil es Willenskraft erfordert, dies beständig zu tun. Das ist ein Prozeß, sich selbst immer mehr zu beseelen. Die größten Menschen auf der Welt waren die in diesem Sinne am meisten beseelten. Ihre Herzen empfanden die umfassendste Liebe. Ihr Verstand arbeitete am schärfsten, am lebendigsten, am stärksten und am aufrichtigsten. Ihr ethisches Empfinden war am subtilsten, am lebhaftesten und am beständigsten. Sie waren diejenigen, denen es niemals in den Sinn kam, ihren Willen anderen aufzuzwingen, sondern anderen dabei behilflich zu sein, die Schönheit ihrer eigenen Seele zum Ausdruck zu bringen.

Überwachen Sie Ihre Denkprozesse

Beim Überwachen meiner Denkprozesse stellte ich fest, daß ich sehr oft davor bewahrt wurde, eine falsche Schlußfolgerung zu ziehen, wenn ich diese Schlußfolgerung so lange nicht als endgültig akzeptierte, bis ich sie nicht gründlich überprüft hatte. Dies ist eine exzellente Regel, die wir alle befolgen sollten. Ich entdeckte außerdem, daß ich allein der Leidtragende bin, wenn ich zaghaft oder lässig an eine Sache herangehe und vor einem schwierigen Problem oder einem komplizierten Gedankengang zurückschrecke. Ich bin der Verlierer. So lernte ich denken und zu versuchen, klar zu denken, mich davor zu fürchten, unbedachte Gedanken zu haben und ich lernte immer danach zu trachten, daß die Gedanken, die durch meinen Verstand als ein Instrument des Erkennens ziehen, hoher Natur sein sollen; nicht einem vorschnellen Urteil nachzugeben, nicht von emotionalen, vulkanischen Ausbrüchen abgelenkt zu werden, oder, was meiner Ansicht nach schlimmer ist, dazu verleitet zu werden, andere ungerecht zu beurteilen. Das ist eine Übung, die die Hindus Yoga nennen würden. Es ist eine Übung, die ich jedem empfehle, der sich verbessern möchte. Überwachen Sie Ihre Gedanken! Überwachen Sie diese Prozesse, während Sie die Gedanken denken! Weisen Sie die Gedanken zurück, die Sie nicht lieben! Aber sind Sie sorgfältig damit, damit Sie nicht einer Göttlichkeit, die an die Pforte Ihres Herzens klopft, den Eintritt verweigern, wenn Sie zunächst zu blind sind, um ihren göttlichen Charakter zu erkennen!


Initiation und Leiden

Jede Initiation ist wirklich ein Test oder eine Prüfung, aber die Vorbereitung für diesen Test oder diese Prüfung ist das tägliche Leben – vom l. Januar zum 2. Januar zum 3. Januar, alle Tage bis zum 31. Dezember. Was wir Einweihung nennen, bedeutet einfach, daß der Neophyt bei den Tests, die ihm hier und dort auferlegt werden, zeigen muß, ob sein tägliches Lebenstraining stark genug war, ihn zu befähigen, seinen Streitwagen zu den Sternen emporzuziehen.

Darum haben uns die Meister gesagt, daß den Chelas keine besonderen Prüfungen auferlegt werden, außer wenn die Einweihung kommt und sie eine Gelegenheit erhalten, sich der großen Prüfung zu unterziehen. Die Prüfungen erfolgen im täglichen Leben. Erkennen Sie, welche Lehre man hieraus ziehen muß? Machen Sie sich bereit, solange es Tag ist und ehe die Nacht kommt. Wissen Sie, worin einige der Prüfungen bestehen? Es wurden von einigen Leuten viele romantische Geschichten darüber geschrieben. Die meisten bestehen nur aus Vermutungen, doch die zugrundeliegende Idee ist oft richtig. Dies sind die Prüfungen: Können Sie den Bewohnern anderer Ebenen begegnen und mit ihnen in Frieden verweilen? Wissen Sie, was dies bedeutet? Sind Sie sich Ihrer selbst absolut sicher? Wie kann ein Mensch, der nicht einmal sich selbst entgegentreten und sich selbst überwinden kann, wenn es auf dieser vertrauten Ebene nötig ist, auf der er lebt – wie kann er dann erwarten, den Bewohnern anderer Ebenen gefahrlos zu begegnen, nicht nur den Elementalen – sie sind bei weitem nicht die Schlimmsten –, sondern den intelligenten Geschöpfen und Wesen, die auf anderen Ebenen leben?

Nun, jeder, der Herr über sich selbst geworden ist – nicht ganz vielleicht –, der aber weiß, daß er alle Seiten seines Charakters beherrschen kann, wenn er seinen Willen einsetzt, und der dies aus Erprobung weiß, ist bereit, die Initiation zu erleben. Wenn er diese Erkenntnis gewonnen hat, wird ihm die Chance gegeben.

So viele Menschen scheinen zu glauben, Initiationen seien Privilegien, die Leuten gewährt werden, die vorgeben, das heilige Leben zu führen und derlei mehr. Ich will Ihnen noch mehr sagen, was ich selbst weiß, weil ich es bei meinen Mitmenschen gesehen habe: die Chance ist größer für die Menschen, die ehrlich gestrebt haben und strauchelten und wieder aufstanden – mit anderen Worten, für diejenigen, die vom Brot der Bitterkeit aßen und die dadurch sanftmütig und stark wurden –, als für jemand, der nie durchs Feuer ging. So mitfühlend und mitleidvoll ist die universale Natur, daß gerade jene, die auf dem Pfad stolpern, am Ende oft die Stärkeren sind. Heiligkeit kommt aus den Kämpfen, die man mit sich selbst ausgefochten und verloren, und ausgefochten und verloren, und ausgefochten und gewonnen hat. Dann ziehen Mitgefühl und Mitleid und Verständnis ins Herz ein. Wir werden anderen gegenüber sanftmütig sein.

Sie sehen jetzt, warum gerade solche Menschen, die schnell über die Fehler anderer urteilen, zu jenen zählen, die selbst nie auf dem Pfad gestrauchelt und deshalb nicht fähig und bereit sind. Mitgefühl und Mitleid sind Zeichen von Charakter und von Stärke, die aus dem Leiden gewonnen wurden. „Nur wenn die Füße im Herzensblut gewaschen werden“ – das ist es! Seht, wie mitleidvoll Christus und Buddha waren. Laßt uns lernen und ebenso handeln.

Ich bin mündlich und schriftlich oft gefragt worden, wie ich über einen Menschen denke, der auf seinem Lebensweg Unglück hatte, der von dem schmalen, steilen Pfad abgekommen ist. Und ich habe mich gefragt, wie mir ein Theosoph eine solche Frage überhaupt stellen kann. Ist es denn nicht offensichtlich, daß gerade die Menschen, die durch Leid gelernt haben, stärker sind, als diejenigen, die es nicht taten? – Hiermit meine ich jene, die gelitten und sich selbst überwunden haben. „Richtet nicht, auf daß Ihr nicht gerichtet werdet.“ Wer selbst durch das Feuer gegangen ist, wird keinen richten, der durchs Feuer geht. Er weiß, was das heißt. Die Unreifen, die geistig unentwickelten Menschen, die nie durch das Feuer des Schmerzes gegangen sind, sind es, die andere rasch kritisieren und richten. Richtet nicht, damit Ihr nicht eines Tages gerichtet werdet.

Das Herz wird gewogen

Unser Leben, unsere menschlichen Schicksale, sind nicht Strand- und Treibgut eines willkürlichen Schicksals, vielmehr werden alle unsere Gedanken, Gefühle und Handlungen – wie in der ägyptischen Zeremonie oder dem Ritus des Wiegens des Herzens des Verstorbenen symbolisch dargestellt – auf der Waage des Schicksals gewogen. Diese Waage wiegt, wie der wunderbare ägyptische Ritus so großartig zeigt, zwei Dinge: Auf der einen Waagschale liegt das Lebenszentrum, das menschliche Herz des Menschen, der gelebt hat und jetzt tot ist; und auf der anderen Waagschale liegt die Feder der Wahrheit, der Wirklichkeit, die durch nichts bestochen, durch nichts beeinflußt, durch nichts beschwichtigt oder verleitet werden kann. Wir erkennen daher in diesem symbolischen Ritus eine wunderbare Veranschaulichung der Lehre von Karma, dem unentrinnbaren Schicksal, das bis in alle Unendlichkeit von niemand und nichts geändert werden kann, denn es ist das göttliche Gesetz selbst, das wir Wiedervergeltung nennen, wenn es unsere Missetaten ausgleicht, und Entschädigung, wenn es unsere Güte oder guten Werke ausgleicht. In der majestätischen Atmosphäre, die diesen ganzen Ritus umgibt, erwartet den Menschen jedoch kein Richter oder Gerichtsbeschluß, noch gibt es irgendeine Begnadigung. Er unterliegt voll und ganz nur den Gesetzen des Seins. Die Waage wiegt mit äußerster Genauigkeit, nichts beeinflußt sie, nichts verursacht ihre Hebung, nichts ihre Senkung. Der Mensch wird gewogen – bedenken Sie jetzt –, er wird gegen die Wahrheit selbst aufgewogen; und haben Sie je gehört, daß die Wahrheit bestochen, beeinflußt, bewegt, verändert, umgestimmt oder umgewandelt werden kann?

Dies ist die Lehre vom Ausgleich und von der Vergeltung, die wir Karma nennen: ein Mensch erntet, was er gesät hat, und nichts anderes. Dieser Ernte kann er nicht entfliehen, denn er selbst wird – symbolisiert durch sein Herz auf der Waagschale – gegen die Wahrheit aufgewogen. Und wenn das Herz und die Feder der Wahrheit im Gleichgewicht stehen, ist das Herz so leicht und so spirituell wie die Wahrheit selbst und ihr gleich. Aber wenn das Herz durch böse Taten und durch den Hang zu niederen, irdischen Dingen herabgezogen wird, dann senkt es sich und die nach oben steigende Feder in der anderen Schale ist der Zeuge, das Zeugnis gegen das dem Irdischen verhaftete Herz, das nicht aufsteigen und mit der Feder der Wahrheit ins Gleichgewicht kommen kann.

In diesem symbolischen Ritus liegt etwas wahrhaftig Majestätisches. Es ist voll wunderbarer Bedeutung, und die edelste ist meiner Ansicht nach seine Wirkung für uns Menschen im täglichen Leben. Was Ihr sät, das werdet Ihr ernten. Da ist kein Wort von Begnadigung, und wenn es irgendeine Vergebung im Universum gäbe, dann würde das Universum selbst aus dem Geleise unendlicher Gerechtigkeit gebracht werden. Kein Mensch kann eine unendliche Sünde begehen, denn weder sein Geist noch seine Seele noch wiederum seine Kraft sind in ihrer Reichweite unendlich. Seine Sünden sind menschlich, und daher ist auch das Wiegen auf der Waage menschlich, und die Vergeltung und die Wiedergutmachung sind daher ihrer Größenordnung nach menschlich. Dies ist die grenzenlose Gerechtigkeit der Mutter Natur – der Natur, die Geist ist, die Göttlichkeit ist, und der Natur, die uns umgibt, denn beide bilden eine Einheit.

Wenn ein Mensch von dieser größten Tatsache im menschlichen Leben überzeugt ist, wird er sein ganzes Leben als Mensch demgemäß ändern. Er fängt an, sich für seine Handlungen zu interessieren, er empfindet allmählich Interesse für seine Gedanken. Er beschäftigt sich damit, welchen Gefühlen er Raum gibt, denn vor seinem Hinscheiden, das die Menschen Tod nennen, ist er selbst der Halter der Waage und des Gleichgewichtes; und mit seinen Gedanken und seinen Gefühlen und seinen Handlungen, die alle in sein Herz eingehen, und mit den nachfolgenden Handlungen, die aus seinen Gedanken und Gefühlen hervorgehen, belastet er sein Herz mit entsprechenden Gewichten. Nach seinem Tod wird er auf der Waage gewogen, nicht auf eine theatralische Weise, wie es das symbolische Bild zeigt, sondern auf der Waage des Schicksals, auf genau der gleichen Waage, die mich oder Sie in diesen oder jenen Körper, in dieses oder jenes Land brachte, streng nach dem, was jeder Mensch in früheren Leben an Gedanken, Gefühlen und Bestrebungen und von allen anderen menschlichen Empfindungen und Emotionen in sich selbst eingebracht hat. Diese Dinge sind weder Glückssache noch Zufall.

Ist es also nicht klar, daß sich das Verhalten eines Menschen notwendigerweise ändert, wenn er sich all diese Dinge vergegenwärtigt und sie in sein Herz einfließen und in ihm wirken? Ist es nicht wie bei einem Kind, das in seiner kindlichen Unwissenheit seinen Finger in die Kerzenflamme hält? Lernt es nicht daraus? Es hat gelernt. Erkennen Sie die gewaltige moralische Bedeutung dieser symbolischen Darstellung eines Menschenherzens, das seine Individualität repräsentiert, die auf der Waage kosmischer Gerechtigkeit gewogen wird, auf der Waage, die durch keine Gebete beeinflußt werden kann, die äußerst wahr ist, denn die Feder der Wahrheit liegt in der anderen Waagschale. Kein Mensch wird je ungerecht verdammt, noch muß er das Gewicht eines Haares erleiden, das er nicht selbst verdient hat; und kein Mensch wird je unangemessen für etwas entschädigt, was er sich nicht selbst verdient hat, denn das wäre unsinnig. Das Universum ist unvergleichlich vernünftig und großartig.

Das Wiegen des Herzens – des Menschen eigenes Selbst – auf der Waage des Schicksals zeigt uns auch, daß wir unser Leben in exakter Übereinstimmung mit unseren eigenen Wünschen, unserem Wollen und Streben großartig oder niedrig gestalten. Unser Schicksal liegt in unseren eigenen Händen. Der Mensch wird nicht mit der Kraft x begabt, die zum Erfolg führt, und der andere mit der Kraft y, die zum Versagen führt. Wir sind alle Funken des göttlichen Herzens, wir haben alle die gleichen Chancen, für ewig die gleichen Chancen. Wenn wir fehlgehen, versagen wir selbst und müssen die Strafe zahlen; aber sobald diese bezahlt ist, beginnen wir wieder mit einer neuen Hoffnung, mit einer weiteren Chance: ich habe meine Schuld beglichen, ich bin jetzt frei, ich fange wieder an. Sehen Sie nun, wie hochherzig diese Lehre ist und wie sie uns ermutigt. Es ist eine Lehre der Hoffnung, denn es gibt kein menschliches Schicksal, das so gering oder so verachtungswürdig ist, daß es nicht von dem Augenblick des Neubeginns an wunderbar zum Besseren verändert werden könnte, wenn man es will, denn mit dem Wunsch nach Besserung beginnt das Herz sofort zu arbeiten und auf uns einzuwirken, und es erfüllt unseren Geist mit edleren Ideen als den bisherigen und mit Gefühlen, die bei weitem höher, lieblicher und reiner sind, als die zuvor gehegten.

Dies ist ein wundervolles symbolisches Bild der Wirklichkeit. Und was ist diese Waage, und wie führt die Natur ihre Arbeit aus? Nun, wir sehen es doch die ganze Zeit um uns. Wie kam ich in diesen Körper und in diese Verkörperung? Durch viele Wohnungen des Vaters, wie der Avatāra Jesus sagen würde. Ich kam aus der Himmelswelt, aus Devachan, durch viele Ebenen des Seins in diese Welt und sank in diese materielle Welt herab, weil ich hierher angezogen wurde. Wer ist der Wegbegleiter und Lenker? Der ägyptischen Tradition folgend ist es Horus, der göttliche Geist, der Hauptlenker meiner Schritte, wenn ich es zulasse. Alles wird gewissermaßen von den gleichen Kräften bewirkt, die in diesen materiellen Sphären vorherrschen, die bewirken, daß die Sonnen leuchten und die Himmelskörper wie unsere Erde rotieren, und die verursachen, daß alles in übereinstimmender Bewegung von einer Sphäre der kosmischen Schicksalsebenen auf eine andere Ebene gelangt. Das alles geschieht, weil alles innerhalb des Naturgesetzes steht, innerhalb der Gesetze der Natur.

Wie finde ich nun meinen Weg durch dieses Leben? Durch Anziehung. Durch das, was ich aus mir selbst gemacht habe. Ich werde hierher gezogen, und diese Anziehung würde mir nicht gestatten, woanders hinzugehen. Ich selbst habe mein eigenes Schicksal geschmiedet, und ich schmiede es jetzt, und ich werde es im nächsten Leben erneut schmieden; hoffentlich symmetrischer als ich im vorigen Leben das jetzige schmiedete.

Was sind diese Hallen oder Wohnungen, durch die Anu, Jedermann, nach ägyptischem Ritus schreiten muß, bevor sein Herz aufgewogen wird gegen die Feder der Wahrheit, die so leicht wie eine Feder ist und dennoch das Universum in Banden hält, die niemals zerreißen? Was sind das für Wohnungen und Hallen, durch die die göttliche Seele geht? Es sind die verschiedenen Ebenen, die verschiedenen Welten, durch die die Menschen ihren Weg nach dem Tode gehen. Woher kennt die abgeschiedene Seele, wenn sie an ein Tor gelangt und durch Anklopfen Einlaß begehrt, das passende Losungswort? Durch genau die gleiche instinktive Erkenntnis und Anziehung, mit der die inkarnierte Seele ihren Weg zu ihrer gegenwärtigen Familie und in ihren gegenwärtigen Körper fand, als sie aus Devachan kam. Sie kann ihren Weg nicht verfehlen. Und was bedeutet das Anklopfen des Verstorbenen – wiederum ein schönes Symbol? Die Seele steht einfach vor einer neuen Ebene, vor einer neuen Welt, vor einem neuen Zustand auf dem Wege ihrer Pilgerreise, und sie weiß instinktiv, wie sie sich nähern und wie sie eintreten kann, und wie sie – dem ägyptischen Ritus folgend – die Losungsworte sagen muß. Sie liegen in der Seele selbst. Es ist Erfahrung, Intuition, Wissen, alles, was wir auch hier anwenden, um uns gegenseitig zu verstehen und miteinander zu sprechen, miteinander zu lesen und zu studieren. Wir verstehen einander; aber wie könnte man einem Menschen Verständnis beibringen, der nicht versteht, was Verständnis ist? Wenn ich Worte gebrauche, die an Ihren Geist anklopfen, wenn ein Redner an Ihre Herzen anklopft, so geschieht dies durch einen Gedanken, es geschieht durch eine Empfindung, es geschieht durch Wissen, und die Tore des Verständnisses springen weit auf, und Ideen und Gedanken treten in Ihren Geist, in Ihre Seele, ein. Das richtige Klopfzeichen wurde gegeben.

Das ist mit den Wohnungen oder Hallen gemeint, durch die die Seele wandert und zu den verschiedenen Toren kommt und machtvoll anklopft und nach Aufforderung die Losungsworte spricht, die ihr den Eintritt gestatten. Wenn Sie diese Worte bereits in sich selbst verankert haben, dann passieren Sie unaufgefordert. Wenn Sie sich noch nicht bis zu diesem Punkte entwickelt haben oder nicht würdig sind, wenn Sie die Worte noch nicht in Ihre Seele eingeprägt haben, werden Sie zurückgewiesen und aufgehalten und müssen zurückgehen.

Es ist eine alte Wahrheit der Gottesweisheit, daß die Großtaten der Welt aus dem Menschenherzen kommen. Sie wohnen nicht im Gehirnverstand, denn der Verstand ist der große Trenner der Menschen, der große Täuscher. Es ist das Herz, das die Menschen vereint. Und der Grund dafür? Weil das Herz eine universale Sprache spricht, die keiner Worte bedarf. Aber der Gehirnverstand spricht eine Sprache in Worten, die von Kopf zu Kopf interpretiert werden müssen. Daher steht das Herz um so vieles höher. Aus dem Herzen kommen die großen Dinge des Lebens, denn im Herzen wohnen Liebe, Intuition, Unterscheidungskraft, Verständnis, Selbstaufopferung, Erbarmen, Mitleid, Lauterkeit, Güte, Wahrheit, Treue, Zuverlässigkeit und Würde; und aus dem Verstand des Menschen kommen Meinungsverschiedenheiten, Zank, Streit, Abneigung, den anderen Menschen verstehen zu wollen, Haß und die ganze garstige Brut der niederen Natur des Menschen, weil sich die Menschen endlos über die aus dem Gehirnverstand kommenden Dinge streiten. Sie streiten nie über Herzensdinge, denn diese sind Angelegenheiten unserer gemeinsamen Menschlichkeit.

Ein Beispiel: Ich liebe die Wahrheit, so wie jeder andere auch. Dies ist eine direkt aus dem Herzen kommende Feststellung. Der Verstand sagt darauf unmittelbar: „Gut, welche Art von Wahrheit, was verstehen Sie unter Wahrheit? Georgs Wahrheit oder Karls Wahrheit?“ Sie sehen, es geht schief und nur noch um Argumente und Auseinandersetzungen über bloße Einzelheiten und um ihre Ausbreitung und Diskussion. Das Herz sagt jedoch einfach: „Ich verehre die Wahrheit“, und jedes andere Herz unter den Zuhörern versteht das. Das Herz spricht: „Ich liebe sie.“ Der Gehirnverstand beginnt sofort darüber zu argumentieren, und jeder Mensch hat andere Vorstellungen darüber, was Liebe ist, und wie weit man gehen oder nicht gehen sollte, wie weit man vertrauen oder nicht vertrauen sollte, welche Art von Menschen ich liebe und welche nicht. Das Herz steht unendlich weit darüber. Es sagt einfach: „Ich liebe.“ Es ist eine universale Sprache, die jeder Mensch versteht. Man muß nicht darüber streiten. Man stimmt zu. Der Gehirnverstand formuliert Argumente. Das Herz sagt: „Treue ist eine der schönsten Handlungen im menschlichen Benehmen, erfüllt zu sein von Treue.“ Wo lieben und bewundern wir diese Eigenschaft? Mit welchem Teil von uns halten wir Treue und hegen wir Ehrfurcht? Mit dem Herzen. Es spricht eine universale Sprache. Deshalb behaupten wir: Aus dem Menschenherzen entspringen alle großen Taten im menschlichen Leben.

Ich will noch etwas weiter gehen. Ich will Ihnen sagen, daß das menschliche Herz der Tempel oder die Wohnung oder die Heilige Stätte einer Gottheit ist; es ist die Wohnung des Horus, um der ägyptischen Tradition zu folgen. Jedesmal, wenn Ihnen ein Mensch sein Wort gibt und es hält, selbst wenn es ihm zu seinem Nachteil gereicht, ist dieser Mensch aufgrund einer solchen Handlung ein beseelter Mensch. Immer, wenn Ihnen ein Mensch sein Wort gibt und es bricht, weil es für ihn bequemer ist, es zu brechen, dann ist dieser Mensch während dieser Zeit unbeseelt. Seine Seele schläft. Immer, wenn ein Mensch aus seinem Mitmenschen Nutzen ziehen will, schläft seine Seele, ist sie untätig. Er ist unbeseelt. Jedesmal, wenn ein Mensch irgendeine Tat vollbringt oder große Gedanken hegt, die anderen helfen, ist er ein Mensch, denn er ist dann beseelt. Und wenn ein Mensch voll beseelt ist, wie es alle Menschen auf dieser Erde eines Tages sein werden, wenn ein Mensch eine befreite Seele ist, dann haben wir nicht länger einen Menschen, sondern einen lebendigen Gott unter uns. Ich glaube, der schönste Anblick, den wir Menschen je wahrnehmen können, ist das Licht der Beseelung, das in den Augen eines Mitmenschen aufleuchtet. Wenn Sie es noch nie gesehen und nie verstanden haben, dann deshalb, weil Ihre eigene Seele schlummert, denn in diesen Dingen spricht Geist zu Geist, erkennt Geist den Geist, erkennt Göttliches die Göttlichkeit. Der Mensch in mir erkennt den Menschen in Ihnen, und das ist Beseelung. Würden doch alle Menschen so leben, daß sie die Gottheit im Inneren zum Ausdruck bringen, und, indem sie das tun, die göttliche Quelle ihres eigenen inneren Lichtes erwidern!

Die Beseelung des Menschen

Bei vielen Gelegenheiten habe ich über jene Großen gesprochen, die voll beseelte Menschen sind, und auch von der Mehrheit der Menschen, die bis jetzt seelenlos sind. Mit letzterem Begriff meine ich nicht ‘verlorene Seelen’. Wenn Sie verstehen, was mit ‘beseelen’ gemeint ist, dann verstehen Sie die Bedeutung und das Wesen des Chelapfades. Der Chela ist ein Mensch, der sich selbst beseelt. Der Meister ist ein voll beseelter Mensch. Der Buddha ist ein Meister, dessen geistiges Licht seine Seele erleuchtet; er ist jemand, in dem der Geist mit seiner strahlenden Herrlichkeit den bereits großen Glanz des beseelten Menschen noch erhöht.

Der Pfad der Chelaschaft ist ein Beseelungsprozeß ‘seelenloser’ Menschen. Solche ‘seelenlosen’ Menschen füllen unsere Großstädte, unsere Städte, unsere Dörfer und unsere Häuser. Jeder von uns ist in den Augenblicken, wenn er keine ‘Seele’ mehr ist, sondern nur in den vier niederen Prinzipien seines Wesens lebt, für diese Zeit seelenlos. Das heißt: Die menschliche Monade ist dann nicht mehr aktiv in ihm. Eine verlorene Seele andererseits ist eine Seele, die überhaupt nicht mehr die Möglichkeit hat, sich mit dem Göttlichen, dem Geist, dem Buddha, dem Christus in ihrem Inneren zu vereinigen. Eine verlorene Seele fällt in den Abgrund.

Als Jesus, der große syrische Weise, sagte: „Wer sein Leben um meinetwillen aufgibt“ – für den Buddha, den Christus in seinem Innern, in jedem von uns – „wird sein Leben gewinnen“, dann meinte er damit, daß selbst im allereinfachsten Menschen unter uns, zu Beginn nur schwach, der Christus im Innern lebt, der auch weiterhin als innerstes Wesen leben wird. Und daß im Verlauf der Zeit der Mensch, wenn er sich dem innersten Zentrum seines Wesens nähert, langsam beseelt wird. Er wird ein Vorbild, dann ein Buddha, und auf die Buddhas scheint das Licht der Ewigkeit. So einfach ist das.

Seelenlose Menschen sind nicht böse. Sie treiben nur dahin, schlafen, sind unerweckt. Sie leben mehr oder weniger in den vier niederen Prinzipien ihrer Konstitution. Der Chela ist jedoch der Mensch, der durch Wollen und Anstrengung und Denken und Ergebenheit und Liebe für alles Seiende – groß oder klein – sich selbst zu beseelen beginnt. Er steigt auf dem Chelapfad genau in dem Verhältnis empor, in dem er sich mehr und mehr beseelt.

Ich verwende das Wort ‘beseelen’, weil es ein einfaches Wort ist, das leicht zu verstehen ist. Ich habe absichtlich vermieden, ein Wort zu gebrauchen, das einen längeren, erläuternden Kommentar erfordert. Ich möchte mehr eine Anregung geben als eine ausführliche Lehre.

Ich will versuchen, Ihnen eine meiner Ansicht nach anschauliche Beschreibung davon zu geben, was ‘beseelen’ bedeutet. Wir Menschen sind zusammengesetzte Wesenheiten. Wir haben eine göttliche, eine spirituelle, eine menschliche und eine tierische Seite sowie den physischen Körper, der so oft ungerecht leidet wegen der Untaten, die wir ihm mit unserem launenhaften, nichtsnutzigen, flatterhaften, leidenschaftlichen niederen menschlichen Wesensteil antun: mit den niederen emotionalen und mentalen Prinzipien in uns. Diese vier niederen Prinzipien sind das menschliche Tier. Da es sich um ein menschliches Tier handelt, steht es höher als das tierische Tier, weil sich durch ersteres ein menschlicher Instinkt hindurchzieht. Nichtsdestoweniger sollte dieses menschliche Tier, wenn der Mensch als Mensch lebt, von der Menschlichkeit des Menschen beseelt sein. Wenn ein Mensch nur in seinen vier niederen Prinzipien lebt, ist er weniger als ein echter Mensch. Er vegetiert nur. Er existiert. Er hat keine Chance, Unsterblichkeit zu erlangen, nicht die geringste, weil nichts Unsterbliches in unseren vier niederen Prinzipien ist. Aber die menschliche Monade, das Vehikel der spirituellen Monade, oder um es anders zu sagen, die menschliche Seele, das Vehikel der spirituellen Seele, hat eine große Chance, bewußt Unsterblichkeit zu erlangen.

Wenn ein Mensch in seiner menschlichen Monade lebt, dann sind die vier niederen Prinzipien beseelt. Er ist dann ein ganzer Mensch, der bewußt lebt und glücklich lebt, in einer Art und Weise, daß kein bitteres Bedauern daraus entsteht. Darin liegt die Prüfung. Es bedeutet nicht, daß er ein vollkommener Mensch ist oder daß er keine Versuchungen hat. Ganz bestimmt nicht, denn wir sind alle menschlich. Der vierprinzipige Mensch unterliegt gewöhnlich den Versuchungen, weil er nicht von seiner Menschlichkeit beseelt ist. Unser menschlicher Teil, um eine leicht verständliche Sprache zu verwenden, die menschliche Monade hat eher die Aussicht, Versuchungen zu überwinden, als ihnen zu unterliegen. Und wenn ich Versuchungen sage, meine ich nicht nur physische Leidenschaften, ich meine alle Arten von Versuchungen. Arroganter Ehrgeiz, um auf Kosten anderer Befriedigung zu finden, ist heute ein allgemeines Laster; Selbstsucht in allen ihren vielfältigen Formen; Egoismus, eine hydraköpfige Sache; unbeherrschter Zorn – alle diese Dinge sind das Niedere-Menschliche; weniger das Höhere-Menschliche, weniger als das wirklich Menschliche.

Beseelen bedeutet also, die Dinge zu leben, von denen wir intuitiv und instinktiv fühlen, daß sie zu unserem besseren Teil gehören. Es bedeutet ganz einfach: in der menschlichen Seele zu leben statt in der menschlich-tierischen Seele; um es fachlich zu sagen: in Buddhi-Manas zu leben statt in Kāma-Manas.

Unsere Straßen sind in diesem Sinne mit seelenlosen Wesen angefüllt. Ihr Charakter ist veränderlich wie die Winde des Himmels. Sie sind ohne Willensstärke, ja, ohne Überzeugungen – besonders moralischen –, veränderlich wie Wetterhähne und werden von jedem vorüberziehenden Hauch der Versuchung hin- und hergeweht. Sie sind weniger als menschlich. Sie sind seelenlos – was nicht bedeutet, daß sie keine Seele haben, sondern daß die Seele in ihnen nicht wirksam ist. Sie ist nicht aktiv, sie offenbart sich nicht. Blicken Sie in die Augen dieser Menschen. Es fehlt darin das wundervolle Leuchten der Seele, das Sie, wenn Sie es einmal gesehen haben, immer erkennen werden.

Jede freundliche Handlung, die Sie ausführen, kennzeichnet Sie insoweit als beseelt, wenn es eine Handlung ist, die aus dem Herzen kommt und nicht nur aus dem egoistischen Wunsch zu prahlen. Jedesmal, wenn Sie eine Versuchung überwinden, die Sie, wie Sie genau wissen, in Ihren eigenen Augen herabsetzt, wenn Sie ihr nachgeben, selbst wenn Ihre Mitmenschen nichts von Ihrem Fall wissen; jedesmal, wenn Sie sie überwinden, leben Sie in der menschlichen Seele und beseelen sich in diesem Maße. Jedesmal, wenn Sie einen Impuls zu einer egoistischen Handlung überwinden, zu einer Tat mit selbstsüchtigen Gedanken zum eigenen Vorteil, dann beseelen Sie sich entsprechend selbst.

Voll menschlich, ganz beseelt, werden wir in der fünften Runde sein. Gegenwärtig können wir es nur durch Anstrengung und Streben sein. Die große Mehrheit der Menschheit ist in dem so verstandenen technischen Sinne seelenlos. Die Seele ist vorhanden, aber die Menschen möchten nicht darin leben, sie wollen es nicht aus eigenem Antrieb. Sie ziehen es vor, im Tierischen zu leben. Und beachten Sie bitte, das Tierische bedeutet nicht nur Sexualität. Diese ist nur eine Seite davon und eine relativ unwichtige. Das Tierische ist der geizige, gierige, selbstsüchtige, begehrende, nachgiebige Teil von uns, der ohne Charakterfestigkeit diesem und jenem nachjagt, mit anderen Worten, der ohne Seele ist.

Fangen Sie an, sich mit der Seele zu beseelen, die Sie selbst sind. Das ist der Chelapfad. Der Mensch, dem dies gelingt, ist ein Chela. Der Pfad ist für alle Menschen der gleiche, aber für jeden einzelnen verschieden. Finden Sie ihn.

Die Überwindung des Zweifels

Wenn Sie studieren, werden Sie nie irgendwelche Zweifel in bezug auf die Gottesweisheit haben. Dieses Studium ist so überzeugend, es nimmt Sie gefangen. Sobald Sie einmal die Gottesweisheit verstehen, verschwinden Ihre Zweifel. Das Studium umfaßt nicht nur die intellektuelle Verarbeitung und Assimilation und natürlich auch die Wertschätzung dieser göttlichen Lehren, sondern es bestimmt auch die Lebensführung. Solange Sie in Ihrer inneren Natur nicht gottgleich sind, unterliegen Sie dem Zweifel und werden durch jagende Gedanken und Gefühle in Stücke gerissen. Der Mensch wird durch die göttliche Rache verfolgt, wie es die Alten Griechen auf ihre Weise ausdrückten. Die Verfolger sind das niedere Selbst im Menschen, das, was in ihm ist: Es ist die Unfähigkeit, die eigene Seele und den Geist zu einer kompakten göttlichen Einheit zusammenzuweben, zu einem Ganzen, zur Verbindung mit dem Göttlichen. Die Verfolger sind die Unentschlossenheit, die Zweifel, die Schrecken und Ängste.

Die Essenz von H. P. Blavatskys Botschaft

Wir sprechen über Huldigung. Es gibt verschiedene Wege, jemandem zu huldigen. Es gibt die Huldigung mit Worten, und es gibt die Huldigung mit dem Herzen, die zur Nachahmung anregt. Die Huldigung mit Worten ist gut, wenn das Herz dahintersteht, aber die Huldigung, die großherziges Handeln imitiert, ist edler und noch höher.

Ich denke, die beste Huldigung, die wir H. P. B. zollen können – außer den Worten, mit denen wir unsere tiefe Dankbarkeit zum Ausdruck bringen –, besteht darin, daß wir in ihre Fußstapfen treten, daß wir ihrem Leben und ihrem Werk für die Menschheit folgen: daß wir ihrem Beispiel, so weit es uns möglich ist, nahekommen. Tatsächlich sagte sie bezüglich ihrer Beziehung zu ihren eigenen Lehrern das gleiche: sie lehren, ich folge. Meine Botschaft ist nicht meine eigene, sondern die Botschaft jener, die mich gesandt haben.

Seitdem H. P. B. heimging, gab es in der theosophischen Welt viel Gerede über ihre Nachfolger. Das Ganze erschien mir völlig trivial; ein Spiel mit Worten und mit den heiligsten Gefühlen und Impulsen des menschlichen Herzens. Denn jeder echte Theosoph ist ein Nachfolger von H. P. B. und sollte froh und stolz darüber sein. Wir sind alle Nachfolger von H. P. B., jeder einzelne von uns, ohne Ausnahme. Und der Geringste ist oft der Größte unter uns. In diesem Fall handelt es sich nicht um Selbstgefälligkeit oder Arroganz, sondern um den Impuls eines liebenden und dankbaren Herzens, vorzutreten und zu dienen und sein Leben der Sache zu widmen, der unsere Lehrer gedient haben und der sie noch immer dienen. Was ist größer als dies? In Wirklichkeit ist es das Aufgeben, die Zurückweisung des Niederen und Persönlichen. Es ist das Vergessen des Persönlichen und das Versenken des Selbst in das unendlich größere Selbst des Universums. Wenn wir uns selbst vergessen, dann wird etwas überaus Großes in uns geboren, denn das Spirituelle, für das wir Menschen so schwache Vertreter sind, hat dann die Gelegenheit, in uns hervorzukommen, zu sprechen und in uns und durch uns zu wirken, denn es beginnt nun, sich einen Weg in und durch das menschliche Herz und den Verstand zu bahnen.

Für mich hat die große Arbeit H. P. B.s von jeher darin bestanden, die Menschen zu beseelen – Worte, die tief und sehr bedeutungsvoll sind; den Männern und Frauen eine Philosophie-Religion-Wissenschaft zu geben, die Herz und Verstand so machtvoll überzeugen kann, daß sie erkennen, daß das Universum lebendig und bewußt ist und daß wir, seine Kinder, basierend auf dieser Tatsache selbst lebendig und bewußt und genauso ewig und ebenso alt wie das Universum sind, von dem wir kommen, in dem wir leben und in dessen spirituelle Teile wir selbst wieder zurückkehren werden.

Wenn Sie diesen einfachen Gedanken verstehen und auch mit dem Herzen begreifen, so daß er zu einer inneren Überzeugung wird, dann sind Sie bereits auf dem Wege der Wiederbeseelung. Die Seele oder vielmehr der Geist in Ihnen beginnt dann Besitz von Ihnen zu ergreifen, und von diesem Augenblick an wird Ihr Leben verändert sein. Neue und größere Perspektiven werden sich für Ihre Vision öffnen, Perspektiven, die uns unser Intellekt und unsere Intuition als Wahrheiten zeigen werden; und wir werden beginnen, unser Leben in Übereinstimmung mit den lebendigen, leuchtenden Gedanken zu führen, die dann unser Herz zu ihrem Heiligtum machen werden. Wir werden dann beginnen, wirklich zu leben. Wir werden nicht länger zu denen gehören, die Pythagoras „die lebendig Toten“ nannte – die zwar in ihren Körpern leben, in ihren Seelen jedoch relativ unbewußt sind. Wir werden dann tatsächlich verkörperte Seelen sein.

Für mich ist das immer einer der erhabensten und schönsten Teile der Arbeit H. P. B.s gewesen, die sie in die Wege leitete: die Menschen zu beseelen, damit sie erneut mit der herrlichen Vision und mit ewiger Hoffnung leben können.

Kein Mensch wird gegen den dominierenden Impuls in seinem Inneren handeln. Der Mensch sollte diesen beherrschenden Impuls von selbstsüchtigen Interessen verwandeln in selbstloses Dienen für alle. Dann wird das Leben eine Größe annehmen, die er bis zu diesem Moment weder gesehen noch verstanden hat. Solch ein Mensch ist auf dem Wege zu wirklicher Beseelung. Er sieht den Grund für sein Leben. Er sieht den Grund für das Universum, das um ihn ist. Er begreift den Grund für seine eigenen Gedanken. Er versteht kausale Beziehungen und daraus bewirkte Folgen. Er sieht weite und äußerst grandiose Visionen, die vor seinem geistigen Auge entstehen. Er weiß, daß alles, was er zu tun hat, um noch größere Visionen zu gewinnen und von noch größerer Hilfe zu sein, darin besteht, die Kraft seines Intellekts in diese Intuitionen und erhabenen Gefühle hineinzulegen und diese zum Mittelpunkt seines Handelns zu machen, um auf diese Weise mit steter Zunahme an innerer Größe und innerem Verständnis zu wachsen. Sein Leben wird dann verändert sein, weil er sich als Mensch verändert hat. Er wird erwacht sein. Und er wird dann sein Leben so lenken und so mit dem Leben des Universums und dem Leben seiner Mitmenschen koordinieren, daß universale Bruderschaft seine dominierende Neigung und der beherrschende Impuls für sein Denken und Handeln sein werden. Das ist für mich die Essenz der Botschaft von H. P. B.

Der Yoga der Theosophie

Theosophen gebrauchen das Wort Yoga als ein passendes Wort, wir verwenden es aber weniger zur Bezeichnung der theosophischen Schulung. Weshalb? Weil wir mit diesem Wort im Westen jetzt die eine oder andere der fünf verschiedenen hinduistischen Yogaschulen bezeichnen; Yoga im theosophischen Sinn umfaßt jedoch alle Yogaschulen und krönt sie mit einer edleren, einer sechsten.

Welches sind nun diese fünf indischen Yogaschulen? Es sind folgende, angefangen mit der einfachsten und niedrigsten: Hatha-Yoga, der Yoga der physiologisch-psychischen Schulung, der sich fast ausschließlich mit dem Körper und dem niederen Bewußtsein befaßt. Als nächstes Karma-Yoga, von dem Wort Karman, „Handlung“. Drittens Bhakti-Yoga, der Yoga der Liebe und Hingabe. Viertens Jñāna-Yoga, der Yoga der Weisheit oder des Wissens, des Studiums. Fünftens Rāja-Yoga, der Yoga der selbst erdachten Bemühung, mit dem Gott im Inneren eins zu werden, der Yoga der Disziplin, dessen Ausübung von den Königen der Kshattriya- oder Kriegerkaste als den Führern ihrer Staaten erwartet wurde; und der sechste, den wir Theosophen hinzufügen, ist der Brahma-Yoga, der Yoga des Geistes, der die anderen fünf praktisch mit einschließt.

Es ist ein völlig absurder Gedanke, zu glauben, daß Indien in bezug auf die menschliche Psychologie und Natur das einzige Land ist, das jemals Kenntnisse über Yoga besessen hat; Yoga bedeutet hier Schulung, Training um eine bewußte „Vereinigung“ mit dem Gott im Inneren zu erreichen, mit dem Inneren Buddha oder dem immanenten Christus – man kann es bezeichnen, wie man will.

Nehmen Sie Karma-Yoga: Eine Abart dieser Form der Schulung ist seit Jahrhunderten in der christlichen Kirche als „Erlösung durch gute Werke“ bekannt. Es ist eine wohlbekannte Übung in der christlichen Schulung, genauso wie Bhakti-Yoga: bekannt als „Erlösung durch Frömmigkeit“ oder „Liebe“ oder „Selbsthingabe“, was genau dem entspricht, was der Hindu mit diesen Worten meint und was der Theosoph damit meint; eine Sache, die sich spontan im Herzen des Christentums entwickelte, wie sie auch im Herzen Hindustans und in jedem anderen Land entstand. Dann gab es auch die Schulung der Stoiker – sie und andere sind alle verschiedene Arten von Yoga. Man bezeichnete diese Schulungsarten nicht mit dem Wort „Yoga“. Das ist ein Sanskritbegriff, der aus Hindustan stammt; aber die Lehren waren bekannt. Die Christen sagten dazu „Erlösung“ durch dieses, „Erlösung“ durch jenes. Die Hindus sagten „Vereinigung“ durch diese Schulung, „Vereinigung“ durch jene Schulung, und so weiter.

Die okkulte theosophische Schulung umfaßt sie alle, weil diese verschiedenen Arten der Schulung oder Vereinigung den fünf Haupttypen des Bewußtseins oder der Psychologie des Menschen entsprechen. Manche Menschen finden Erlösung durch Werke, um die christliche Formulierung zu gebrauchen; andere durch Liebe oder Hingabe; andere durch Theologie oder hohe Gedanken. Ja, das Christentum hat, besonders in den Klöstern, in der Vergangenheit auch eine Art von Hatha-Yoga in seinem psychologischen Trainingssystem gehabt – die Geißelungen, Auspeitschungen, das Tragen von Sackleinen und andere Praktiken der Kasteiung und Selbstverleugnung, um, wie sie sagten, die niederen Leidenschaften und den Körper zu beherrschen und zu unterjochen. Das sind typische Hatha-Yoga-Beispiele niedrigster Stufe. Wenn ein Mensch jedoch eine glückliche Geisteshaltung besitzt, die ihn zu einer Schulung des inneren Lebens führt, dann braucht er sich nicht um Atemübungen, Körperstellungen, Geißelungen und Kasteiungen zu kümmern. Wir wissen, daß wir zur Erfüllung unserer Pflicht hingebungsvoll arbeiten und uns um die kleinsten Dinge in pflichtbewußter Anstrengung bemühen müssen. Das ist Karma-Yoga. Wir müssen den Körper von innen kontrollieren, wie auch unsere psychischen Impulse und unsere Emotionen, wir müssen den Körper rein und gesund erhalten, damit er ein geeignetes Instrument für den menschlichen Geist und für die menschliche Seele ist. Das ist wirklicher Hatha-Yoga. Wir wissen ebenso, daß wir zur Erfüllung der Pflicht gegenüber uns und den Mitmenschen und der Bewegung, der wir uns zur Verfügung gestellt haben, lernen müssen, uns selbst in Ergebenheit, in höchster Liebe dem erhabenen Ziel zu widmen – und dies ist Bhakti-Yoga. Um das Leben um uns herum und unsere Mitmenschen und uns selbst und die glorreichen Wahrheiten der Naturgesetze, auf denen die Natur selbst beruht, zu verstehen, müssen wir die erhabene göttliche Weisheit intellektuell studieren – Jñāna-Yoga. Wir wissen ebenfalls, daß wir zur Ausübung all dieser niedrigeren Yogaformen eine Liebe zur Selbstdisziplin entwickeln müssen und dabei eine unvergleichliche Freude in der Tatsache finden müssen, daß wir uns selbst beherrschen können, daß wir Menschen sind, die danach streben, Meister des eigenen Selbst zu sein und nicht dessen Sklaven. Wir brauchen über diese Sache nicht zweimal nachzudenken. Man betrachte den Menschen, der sich selbst beherrschen kann, und den, der sich nicht beherrschen kann: Meister und Sklave.

Als richtig verstandenen Yoga könnten wir das sittliche, spirituelle, intellektuelle, psychische und okkulte Training bezeichnen, das der Theosoph hat, wenn er sich der Bezeichnung Theosoph würdig erweist. Wenn er allerdings die Philosophie nur annimmt, weil sie ihm zusagt, weil er sie für logisch und gut hält, und weil sie bis jetzt durch nichts übertroffen wurde, dann gehört er einfach zu jenen, die Pythagoras und die großen Vertreter seiner Schule als Akousmatikoi bezeichnet hätten: ‘Hörer’, ‘Zuhörer’. Dieser Standpunkt hat schon etwas für sich, aber er entbehrt in hohem Maße der höheren Grade an Verständnis und Entwicklung.

Der höchste Yoga, der sechste, Brahma-Yoga, ist derjenige, den die meisten Chelas, die Schüler, anstreben. Er bedeutet, daß man aus all den soeben behandelten niederen Yogaformen das Beste entnimmt und es sozusagen zu einer Einheit vereint, sie emporhebt und sie gleichsam an dem Geist im Inneren befestigt. Das Denken, die Gefühle, das Verlangen sind dann wie eine Flagge am Mast befestigt. Sie kann nicht niedergeholt werden: Brahma-Yoga, Vereinigung mit Brahma(n)n dem Geist, dem Atman.

Ich möchte noch auf einen weiteren Punkt hinweisen: Wie kommt es, daß diese besonderen Yogaformen immer in Indien existieren? Jeder Yoga in Indien – wie schon erwähnt – besteht aus Schulung, Trainingsmethode; und diese Methoden entstanden hauptsächlich aus der Grundidee, die in dem Vers enthalten ist, den die Hindus als den gewaltigsten, größten und als den umfassendsten aller Verse der Veden bezeichnen, Vers III, 62, 10 des Rig-Veda,Gāyatrī oder oft auch Sāvitrī genannt. Er wird von dem Hindu nach dem Aufstehen am Morgen aufgesagt, nach seinen Waschungen und bevor er abends schlafen geht. Der Rig-Veda ist der bedeutendste der Veden und die Hindus betrachten diese beiden Zeilen als das Herz des Rig-Veda. In Sanskrit lauten sie wie folgt:

Tat savitur vareṇyam bhargo devasya dhīmahi,
Dhiyo yo nah prachodayāt.

Und sie bedeuten Folgendes – ich werde eine nur wenig umschreibende Übersetzung geben, so daß man den Kern des großen Verses des Rig-Veda erfassen kann, aus dem sich die ganze Hindu-Philosophie und jeder Hindu-Yoga entwickelte:

„Jene erhabene innere Seele der Sonne Gottes, möge sie unsere Gedanken und die unserer Nachkommen vereinigen, und uns zu dieser Vereinigung drängen, zu der Vereinigung des Niederen mit dem Höheren, des Individuums mit dem Geist des Menschen, mit der Göttlichkeit.“ Wenn diese Vereinigung, dieser Yoga erreicht, erzielt wird, dann haben wir die großen Beispiele der Gottmenschen oder Menschengötter: Jesus, den Avatāra, Krishna, Buddha-Gautama und all die anderen Buddhas; Apollonius von Tyana – es gab Hunderte. Wenn diese Vereinigung weniger vollständig ist, haben wir die großen Lehrer, weniger groß als die vorgenannten, aber groß.

Aus dieser einen Redewendung, aus diesem einen Yoga des Rig-Veda, entstand die gesamte Philosophie, Religion und okkulte Wissenschaft des archaischen Indien, alle Schulungssysteme, mit welchen die Menschen versucht haben, jenen göttlichen solaren Funken mit sich selbst zu verbinden, um in individuelle Vereinigung mit dem kosmischen Geist zu kommen – zuerst mit Vater Sonne, dann mit dem Universalen Geist; denn die Verehrung dieser alten Weisen ging so weit, daß für sie nichts von der Gottheit getrennt war. Jedes Atom, jeder Stein, jedes Tier, jeder Mensch, jeder Deva oder Gott, was es auch sei, hoch, tief oder in der Mitte stehend, war ein Kind des kosmischen Herzens des Seins, das sich allmählich höher und höher zur selbstbewußten Vereinigung, Yoga, mit Jenem erheben konnte. Wenn dieser glorreiche Vollzug erreicht ist, dann haben wir einen Menschengott, einen Gottmenschen.

Diese Gedanken sind keine einzigartige Besonderheit Hindustans. Im Gegenteil, sie sind Allgemeingut der archaischen und modernen Theosophie. Sie waren Allgemeingut der Stoiker, der Platoniker und anderer Schulen Griechenlands und Roms. Sie waren seit unvorstellbaren Zeiten in Ägypten und Persien bekannt. Lesen Sie die alten Schriften dieser Völker.

Yoga ist daher Schulung, Disziplin, durch die die heiligste aller menschlichen Möglichkeiten erreicht werden kann: Wachstum des Menschlichen, Erweiterung des Menschlichen zum Göttlichen, zur Göttlichkeit, die wir in unserem Höchsten bereits sind. Wir werden einfach unser Höchstes Selbst. Das ist erfüllter Yoga. Ich und mein Vater sind eins. Jeder Christus sagt dasselbe. Jeder Buddha trifft die gleiche Feststellung. Wenn man die darin verborgene tiefe Weisheit begreift, dann liegt nichts Egoistisches darin. Es ist der Geist, der durch den Mund des ergebenen Menschen spricht.

Schönheit und Wissenschaft

Es gibt so viele wunderbare, heilige und erhabene Dinge im menschlichen Leben, und sie sind Balsam für die Herzen der Menschen. Sie sollten kultiviert und begehrt werden; nicht begierig und selbstsüchtig für eigene Zwecke, sondern allein deswegen, damit wir, indem wir im Inneren selbst erhabener werden, das Licht unserer Liebe mit seinem sanften und veredelnden Einfluß weitergeben können. Liebe ist immer wunderbar und deshalb immer groß. In besonderem Maße trifft das für die höhere Liebe zu, denn sie ist universal.

Ich möchte manchmal wissen, ob die großen Wissenschaftler, ich meine jene, die ihr Leben dem unpersönlichen Studium der Natur widmen, verstehen, daß sie in sich selbst einen Aspekt der Schönheit in der Natur kultivieren; wenn sie sich nämlich in ihrem Studium verlieren, werden sie in ihren Gedanken zunehmend universaler, weniger konzentriert auf das Selbst. Selbstsüchtige Liebe kann sogar verdammen, und sie ist ein Beispiel für böse Spiritualität. Eine schöne Liebe kann jedoch erheben.

Das verständnisvolle Herz

Verehrung ist eine gottgleiche Qualität. Ich bin der Ansicht, daß die Götter Verehrung empfinden, wo wir uns lediglich wundern, und ich glaube, daß ein Erwachsener Verehrung empfindet, wo sich das Kind immer nur wundert. Für mich ist Verehrung ein Kennzeichen für den Fortschritt in der Evolution. Der Mensch, der keine Ehrerbietung kennt, hat für mich wenig Verstand. Es ist viel leichter, etwas zu kritisieren und lächerlich zu machen, als es zu verstehen und in diesem Verständnis Verehrung zu fühlen. Verehrung wächst rasch in dem Menschen, der ein verständnisvolles Herz hat.

Wenn wir alle ein verständnisvolles Herz hätten, würden die schwierigsten Punkte der Philosophie für uns leicht werden. Ich habe außerdem festgestellt, daß ich dann, wenn ich verwirrt, verzweifelt und in ein Problem verstrickt war, niemals Hilfe vom Gehirn, sondern immer nur vom Herzen empfing. Der Kopf scheint allzuoft die Last zu erschweren, weil er voller Einbildungen und oft voller nichtssagender Probleme ist. Das Herz jedoch versteht, denn in ihm wohnt ein höherer Intellekt als im Kopf. Denn, wenn ich so sagen darf, im Herzensleben ist mehr intellektuelle Kraft als Herzensleben im Denken.

Es ist kein Wunder, daß die Alten den Sitz der alltäglichen Aufmerksamkeit des Menschen in den Kopf verlegten; seinen wirklichen Intellekt, sein Verständnis, seine Intuition, sein spirituelles Begriffsvermögen, seinen Sinn für ethische Verantwortlichkeiten aber in das Herz.

Deshalb zeigten die Ägypter in ihren von Hieroglyphen umrahmten Darstellungen auch niemals das Wiegen des Gehirns oder des Kopfes. Sie wogen das Herz gegen die leichte Feder der Wahrheit. Das Herz allein wurde gewogen. Es ist bedeutsam, daß im alten Okkultismus angenommen wurde, das Herz enthalte die höheren Teile des menschlichen Wesens. Diese Gedanken sind dem Westen ziemlich neu, weil uns von der alten, idealen Weisheit nur wenig verblieb. Und dennoch haben wir bis heute die Wahrheit bewahrt, daß die Liebe im Herzen und nicht im Kopf wohnt.

Beachten Sie bitte die Gedankenrichtung: Wenn Sie im Zweifel sind, ob Sie jemand liebt, dann beobachten Sie ihn. Wenn Sie finden, daß jene Person nur von Vernunftgründen geleitet wird, wie: ist es weise, werde ich einen Vorteil haben, was wird man von mir denken?, dann können Sie gewiß sein, daß die Zuneigung dieses Menschen zu Ihnen nicht tief ist. Es gibt eine Weisheit des Herzens, die instinktiv, unmittelbar und unbestreitbar ist. Sie ist ein weit größerer Schutz für den Unwissenden und Aufrichtigen, als es das beständig zergliedernde und nur klügelnde Denken des Kopfes ist.

Ich meine, das größte Geschenk, das die Götter uns allen geben können, ist ein verständnisvolles Herz. Es ist immer vergebend, voller Hilfsbereitschaft und mitleidsvoll. Es denkt stets zuerst an andere. Es ist durch die Weisheit der Zeitalter weise geworden, denn es verkörpert den Atem der göttlichen Weisheit in uns.

Denken Sie daran, daß das Herz nicht das Gefühl ist. Gerade hier straucheln immer wieder so viele Menschen auf dem Pfade. Allzuoft sind die Gefühle, wie Sie finden werden oder schon herausgefunden haben, mit dem Kopf verbunden; das Herz jedoch hofft immer, daß die Wahrheit verstanden wird, daß andere verstehen und helfen werden. Die Gefühle sind voll heißen Feuers, voller Eifersucht, Argwohn und Empfindlichkeit. Sie haben keine Vision. Wenn wir also von einem verständnisvollen Herzen sprechen, meinen wir niemals die Gefühle, in denen manche Leute leben und damit prahlen, daß das ein reiches Leben ist. Es ist ein armes Leben, ein dünnes und hungriges Leben, denn die Gefühle sind niemals zu befriedigen. Sie gleichen den Piśāchas des alten Indien, die von den Visionären als Wesen mit ungeheuer großem (oder auch winzigem) Körper beschrieben werden, erfüllt von riesigem Durst oder Hunger und mit einem Mund von der Größe einer Nadelspitze, so klein, daß nicht einmal eine Nadel hineinginge. Sie hungern und dürsten und können niemals befriedigt werden. Dies ist eine gute bildliche Darstellung der Gefühle. Seltsamerweise sind diese Piśāchas die astralen Verkörperungen der im Kāma-Rūpa enthaltenen Emotionen verstorbener Menschen. Sie wurden während des Erdenlebens von jenen erzeugt, die in der psychischen Natur, dem Gehirnverstand und in den Emotionen gelebt haben.

Das Herz ist das Zentrum der spirituell-intellektuellen Fluide, die den vollständigen Menschen ausmachen in Verbindung mit dem mānasischen Ākāśa, das den Kopf erfüllt und das das Gehirn durchflutet; wenn sie völlig harmonisiert und vereinigt sind, machen sie den vollendeten Menschen aus. Oh, bitten Sie die Götter, Ihnen ein verständnisvolles Herz zu geben. Machen Sie dieses Gebet zu einer Wirklichkeit in Ihrem Leben, indem Sie sich selbst den Weg zu den Göttern, die es Ihnen geben können, öffnen. Dann wird Ihr Leben geleitet sein, voller Verehrung und reich an Frieden. Alle Segnungen werden Ihnen zukommen.

Karma: angenehm und unangenehm

Ich glaube, die Überschrift dieses kurzen Artikels beschreibt sehr gut die Art und Weise, wie die mit der majestätischen Lehre vom Karma vertrauten Menschen diese Lehre betrachten: nämlich daß Karma etwas ist, das in sich selbst angenehm oder unangenehm für uns ist. Vom psychologischen Standpunkt aus ist diese Einstellung natürlich, denn wenn Karma auf uns einwirkt, spüren wir alle, daß seine Schläge hart und unangenehm sind oder freundlich und besänftigend, was wir als angenehm bezeichnen.

Ist es aber nicht eher so, daß Karma in all seinen Tätigkeiten – inneren und äußeren, allgemeinen oder besonderen – von uns nur aufgrund unserer eigenen Reaktionen und Einstellungen zu den Dingen, die es uns auferlegt, als ‘angenehm’ oder ‘unangenehm’ empfunden wird? In Wirklichkeit sind alle Naturgesetze, von denen Karma eines der tiefgründigsten ist – das geheimnisvollste und in der Tat das tröstlichste –, völlig unpersönlich, und in ihnen gibt es weder Variation noch Abweichung noch irgendeinen Schatten von Unbeständigkeit.

Gerade in dieser vollkommenen Zuverlässigkeit der grundlegenden Gerechtigkeit in der universalen Natur finden oder entdecken wir unser Glück und unseren Seelenfrieden, und, was noch weit wichtiger ist, diese Gerechtigkeit führt dazu, daß wir unsere unbeugsamen Vorsätze so mit den spirituellen Harmonien in Übereinstimmung bringen, daß unser Leben ebenfalls damit übereinstimmt, und daß wir auf diese Weise Mitarbeiter der Natur werden, ihre intelligenten Gefährten. Wenn wir in größere menschliche Tätigkeitsebenen hineinwachsen und fähig sind, willige Mitarbeiter an den Plänen der Natur zu werden, werden wir unseren Platz an der Seite der Meister und der Götter der Hierarchie des Lichts einnehmen, die in ihren verschiedenen evolutionären Stufen zu bewußten und willigen Instrumenten der Lipikas oder „Aufzeichner“ geworden sind.

Diese Lipikas sind äußerst geheimnisvolle und okkulte Wesenheiten in den strukturellen Harmonien der Universalen Natur und tatsächlich im Aufbau des Kosmos. Nur wenig ist öffentlich über die Lipikas gesagt worden, und dennoch ist der Platz, den sie im Universum einnehmen, deutlich genug. Sie sind in der Tat Dhyāni-Chohans allerhöchsten Ranges in den sogenannten Arūpa-Welten. Weil sie tatsächlich die ersten Kanäle oder Vehikel sind, durch die die kosmische Ideenbildung zur Offenbarung kommt oder hindurchfließt, werden sie dadurch zu den höchsten und mächtigsten Instrumenten von Karma, das aus Samen hervorgeht, die in der Struktur der kosmischen Ideenbildung bewahrt werden. Daher werden die Lipikas als die Agenten Karmas bezeichnet. Und ferner, weil sie nicht nur kosmische Ideen nach unten an tiefer stehende Hierarchien verteilen, sondern karmische Ergebnisse hinauftragen, um sie sozusagen in der Sammlung der kosmischen Ideenbildung zu deponieren, werden sie, vor allem aus letzterem Grund, als Schreiber Karmas oder als Aufzeichner Karmas usw. bezeichnet.

Essentiell ist Karma nur eine Bezeichnung, die wir dem Wirken oder den Prozessen der universalen kosmischen Harmonie geben; dieses Wirken strebt nach Ausgleich, in moralischer und anderer Hinsicht, und das bedeutet kosmisches Gleichgewicht überall in der universalen Struktur.

Aus dem Vorhergehenden können wir leicht die höchst wichtige und bezeichnende Tatsache ableiten, daß das, was wir unser Karma nennen, ob wir es als angenehm oder unangenehm einstufen, in Wirklichkeit die vielgestaltigen und vielfältigen Wirkungen sind, die aus der Vergangenheit auf uns zukommen, hervorgegangen aus dem, was wir und andere um uns herum, hierarchisch gesprochen, gedacht, gefühlt und in jener Vergangenheit getan haben. Und daß in einer genau gleichen Weise unser zukünftiges Karma und das derjenigen um uns, hierarchisch gesprochen, aus dem bestehen wird, was wir jetzt durch unsere Gedanken, Gefühle und Handlungen als unser zukünftiges Schicksal aufbauen.

Wie H. P. B. so großartig unterstreicht, ist es nicht Karma, das willkürlich ausgleicht oder uns straft, was wir den Lohn oder die Strafe des Schicksals nennen, sondern wir selbst sind es und unsere Mitmenschen, die sich in der Vergangenheit zu dem gemacht haben, was sie jetzt sind, und die sich jetzt zu dem machen, was sie in der Zukunft sein werden. Lediglich unsere gegenwärtigen Reaktionen auf das karmische Schicksal oder auf die karmischen Umstände sind es, die uns Karma als angenehm oder unangenehm bezeichnen lassen.

Als abschließenden Gedanken möchte ich über Karma ganz einfach sagen, daß die karmischen Schicksalsschläge, die wir als unangenehm oder vielleicht als hart bezeichnen, sich meistens als die größten Segnungen der Götter herausstellen, die uns sozusagen in Verkleidung und im Alltagsgewand aufsuchen, und die wir einstweilen mit unguten Gefühlen betrachten und vielleicht oftmals auch mit Furcht. Dennoch ist es nur eine Binsenweisheit zu sagen, daß zuviel Wohlstand, zuviel Glück, die besten Anlagen in uns schwächen können. Wenn wir aber, oft gegen unseren Willen, zum Kampf gezwungen oder zu einer Handlung gedrängt werden, entwickeln wir dadurch nicht nur Willenskraft, sondern auch intellektuelle und moralische Charakterstärke, weil innere Fähigkeiten und latente Kräfte hervorgerufen und geübt werden.

Karma, in welcher Verkleidung es auch kommen mag, ist stets ein Segen, das sollten wir niemals vergessen.


Junge Menschen und Theosophie

Meiner Erfahrung nach wird die Jugend schneller von Theosophie gefesselt als wir älteren Menschen, mit unserem verdorbenen Denken, oftmals erfüllt von großer Spitzfindigkeit, falscher Bildung und schlechten Gedanken. Diese innere Verdunkelung unseres Denkapparates verhindert, daß das Licht hereindringt. Wir sind erfüllt von den Nebelschleiern falschen Fühlens und falschen Denkens aus vergangenen Jahrhunderten, vergangenen Lebenszeiten; während unsere Körper vollkommener werden, befällt uns diese Blasiertheit; wir haben eine bestimmte innere Wolke von Bewußtsein aufgebaut, eine Psychologie, für die wir unglücklicherweise büßen müssen.

In meiner Arbeit mit den jungen Leuten in der T. G. hatte ich häufig den Eindruck, daß sie viel schneller als Ältere fähig waren, göttliche Wahrheiten zu erkennen. Wenn man erfolglos darin ist, die Jugend für Theosophie zu interessieren, liegt das sehr oft daran, daß man dafür einen falschen Weg wählte. Das trifft natürlich auch für alle Bereiche der Arbeit mit älteren Menschen zu. Wer von den Menschen verstanden werden will, muß mit ihnen in einer Sprache reden, die sie verstehen können. Vor allem müssen Sie sich an ihr Herz und an ihren Verstand wenden. Hier müssen Sie den Hebel ansetzen. Gesetzt den Fall, Sie haben mit jemandem zu tun, der sich besonders für Astronomie interessiert und Sie versuchen beständig, ihn davon zu überzeugen, daß das Studium von Folklore für ihn noch wichtiger wäre. Dann werden Sie schnell herausfinden, daß er außerstande ist, irgendeinen Zusammenhang zwischen diesen unterschiedlichen Interessensgebieten zu erkennen. Vielleicht gelingt es ihm sogar mit der Zeit. Aber um einen Freund und Bruder dafür zu gewinnen, sich in der gleichen Gedankenrichtung zu bewegen, muß man alles daran setzen, sich mit ihm in seiner eigenen Sprache zu verständigen. Ebenso muß man bei Kindern verfahren. Deren Denken funktioniert vollkommen natürlich, spontan, unkompliziert und arglos. Meistens haben sie für die großen Dinge des Lebens mehr Intuition als wir Erwachsenen. Wir sind diesen Dingen gegenüber fast blind und neigen zu vielen Trugschlüssen.

Wirklich groß ist der Mensch, dem es Zeit seines Lebens gelingt, sich nicht in den mentalen Gifthauch von Gedanken hineinziehen zu lassen, den der Zeitgeist für die jeweilige Generation darstellt; die bedrückende astral-physische und nur scheinbar geistvolle Atmosphäre, die sich aus falschen, verworrenen und ungenauen Gedankengängen zusammensetzt und die für die Wahrheit angenommen wird. Da ist es wirklich kein Wunder, daß sich Kinder und Jugendliche dagegen auflehnen. Mir ist es noch gut im Gedächtnis, wie ich mit meiner ganzen Seele rebellierte – nicht gegen die ältere Generation oder die Welt mit ihren wunderbaren Geheimnissen – wie ich mich auflehnte, als ich in die Schule geschickt wurde und fast dazu gezwungen wurde, Dinge zu lernen, die meine Seele haßte und die ich später als junger Mann dann wieder verworfen habe. Wenn es Probleme oder Schwierigkeiten dabei gibt, der jüngeren Generation ein Verständnis für Theosophie nahezubringen, dann liegt das daran, daß unser erster Schritt falsch ist. Vielleicht sprechen wir mit den jungen Leuten zu kompliziert.

Mir gefallen die jungen Leute, weil das menschliche Herz ewig jung bleibt. Es altert niemals. Unsere Verstandestätigkeit hingegen unterliegt einem Alterungsprozeß und kristallisiert mit der Zeit. Die Folge davon sind schwindendes Mitgefühl und die Unfähigkeit, den Hilferuf in den Augen der Kinder und Jugendlichen zu erkennen. Wir versuchen ihn zwar wahrzunehmen, sind dazu jedoch nicht fähig, weil wir auf falschen Denkgeleisen fahren und eine Atmosphäre verbreiten, die eine undurchdringliche Mauer zwischen ihnen und uns errichtet. Wenn ich mit jungen Menschen spreche, dann betrachte ich sie als ebenbürtige Gesprächspartner. Ich versuche, einem Jungen oder Mädchen gegenüber niemals so herablassend zu sprechen, als wäre ich ein besonders kluger Erwachsener. Weshalb ich das nicht tue? Weil sich mein Herz mit der Jugend verbunden fühlt, und weil es für sie schlägt. Jedes normale menschliche Herz empfindet das. Wir nähern uns der Wahrheit am besten, wenn es gelingt, uns von einer falschen Weltklugheit des Denkens frei zu machen. Sie verwirrt uns. Wir sollten zu jener Einfachheit des Denkens zurückfinden, die für das kindliche Herz charakteristisch ist.

„Lasset die kleinen Kinder zu mir kommen“, sagte der Avatāra Jesus. Sie sind lernfähig. Der Ausdruck „kleine Kinder“ bezieht sich nicht auf die Anzahl der Lebensjahre, die jemand erreicht hat. Wer das Herz eines kleinen Kindes hat, wer ohne Arg und offen nach allen Seiten ist, wer bereit ist, ohne Vorbehalt zu empfangen und seine Entscheidung zu treffen und wer völlig damit aufgehört hat, sich gedanklich kompliziert auszudrücken, der allein ist ein würdiger Gesprächspartner und geeignet, Verständnis zu entwickeln. Erweisen Sie der jüngeren Generation die gleiche Wertschätzung, die Sie auch Ihren Altersgefährten entgegenbringen. Wie schnell werden sie antworten! Zeichnen Sie die jungen Leute aus, indem Sie mit ihnen Dinge erörtern, die Ihnen am Herzen liegen! Sie werden dann stets Zuhörer finden.

Es kann mir niemand erzählen, die Jugend hätte kein Interesse an Dingen, die mit dem Universum, der Wissenschaft oder mit den wunderbaren Entdeckungen, die fast tagtäglich gemacht werden, zu tun haben. Sie interessiert sich außerordentlich für die Forschung und möchte bereitwillig alles verstehen. Es ist Sache der älteren Generation, sich von ihrem früheren Wissensstoff zu trennen. Ihr fällt es schwerer als der Jugend, neue Gedanken aufzugreifen und zu verarbeiten, weil ihr Denken auf vielen vorgefaßten Meinungen beruht.

Ich begegne der Jugend mit höflicher Wertschätzung und mit dem Verständnis, das ich Menschen in meinem Alter entgegenbringe. Ich wurde dabei niemals enttäuscht. Natürlich mangelt es ihnen an einer Gelehrsamkeit, die die Älteren haben; in mancher Hinsicht ist dies jedoch ein Segen, denn wir müssen uns von vielen liebgewordenen Gedankengängen befreien, wenn sie uns genügend Leid gebracht haben. Trotzdem befähigen uns von einer höheren Warte aus gesehen unsere Gedankengänge zu einer Stärkung des Selbst, damit wir hohe und ehrenwerte Ziele in der Welt erreichen können, zumindest in einem gewissen Grad, und damit wir bessere Dinge erreichen können und uns auch zutrauen, sie zu erreichen. Doch dies geschieht nur dann, wenn unsere Gedankengänge von dem hellen, klaren Licht der inneren spirituellen Sonne überstrahlt werden. Nicht die Gedankengänge an sich sind verkehrt. Falsch ist es jedoch, wenn unser Denken zu deren Sklave wird, denn sie sind nur unsere eigene Schöpfung und die der Welt um uns herum.

Wecken Sie das Interesse der jungen Leute, indem Sie ihnen Theosophie auf wissenschaftlicher Basis anbieten. Sie werden sehen, wie schnell sie diese innerlich verarbeiten und behalten. Sie können solche Gedanken einem Jugendlichen anbieten (es sei denn, er ist oberflächlich und liebt Wortklaubereien, die seinem Alter voraus sind), und werden einen Bruder und Freund in ihm finden: Erzählen Sie ihm, daß er selbst der Pfad zum Göttlichen ist, daß das Höchste Leben das Leben des Göttlichen ist, nie vollständig erreichbar, weil es unbegrenzt ist, und dennoch sich immer weiter ausdehnend und mit einem unaufhörlichen Zunehmen an Verständnis, Wachstum, Ausdehnung, bis hin zu etwas Wunderbarem in seinem Inneren. Geben Sie diesem Göttlichen keinen Namen. Das würde sein Denken einengen. Erwecken Sie nur die Intuition, den Gedanken: Etwas in uns, ein Teil von uns, ist ein Tropfen, ein Funke des Göttlichen. Deshalb ist er es selbst. Sagt uns die Wissenschaft nicht, daß selbst unser Körper aus den gleichen chemischen Elementen aufgebaut ist, die auch die Blumen, die Bretter des Fußbodens, die Luft, die wir atmen und sogar die Steine zusammensetzen, die unter unseren Füßen knirschen, wenn wir auf dem Heimweg sind? Selbst die Sterne bestehen aus den gleichen Elementen.

Wie oft sah ich in den Augen eines Jugendlichen das Aufleuchten des Verstehens, wenn ich mit ihm sprach. Oftmals flossen aus dem Denken eines jungen Menschen wunderbare Gedanken in mein eigenes Bewußtsein. Es waren spontane Intuitionen, die aufblitzten, bevor der Denkapparat Gelegenheit fand, zu kristallisieren, zu verhärten und falschen Vorstellungen zu folgen. Wir können zuweilen sogar etwas von kleinen Kindern lernen, wenn wir klug und offenherzig genug sind, zu empfangen und uns über unseren weltklugen Intellekt zu erheben.

Wenn man Fehler macht

Ich glaube nicht, daß es jemals falsch ist, einen Fehler aus einer ehrenhaften Gesinnung heraus zu machen. Es ist für einen Menschen unendlich besser, mit einem lauteren Motiv, mit dem Wunsch, das Richtige zu tun und gerecht und großherzig sein zu wollen, einen Fehler zu begehen – weil man nicht in der Lage ist, den richtigen Weg zu sehen, der eingeschlagen werden muß –, als sich davor zu fürchten, einen Fehler zu machen. Wenn innere Stärke fehlt, werden wir schnell blindlings Fehler machen. Ein schwacher Mensch wird kaum Erfolg haben. Es ist viel besser, einen Fehler zu machen, durch ihn zu lernen und die Konsequenzen mannhaft durchzustehen und danach ein wenig reifer zu sein.

Verbessern Sie Ihre Fähigkeiten, indem Sie diese üben. Lassen Sie sich nicht verdrießen, wenn Sie einen Fehler in einer ehrenhaften Gesinnung machen. Achten Sie nur darauf, daß Ihr Motiv richtig ist. Ist das der Fall, dann werden Ihre Fehler andere nicht kränken und Sie werden sie bald korrigieren. Sie werden durch sie nur stärker und gütiger. Lassen Sie Ihr Herz für die Fehler anderer voller Mitgefühl sein. Wünschen Sie das Richtige zu tun. Sie können dann nicht viel falsch machen. Immer, wenn Sie Ihre innere Urteilskraft üben, wird sie sicherer, zuverlässiger und klarer werden. Das Licht wird heller. Dann sind Sie ein Mensch, ein richtiger Mensch.

Die verlorene Sache des Materialismus

Die Theosophische Bewegung fand ihren Ursprung nicht aufgrund willkürlicher Beschlüsse der herrschenden Mächte, sondern infolge zyklischer Notwendigkeit. Folglich kam H. P. Blavatsky, als es notwendig war, die spirituellen Intuitionen in den Menschen lebendig zu erhalten und dadurch die Menschen davor zu bewahren, unter den Einfluß einer Welt zu geraten, die von brutaler Gewalt beherrscht wird, in der Macht als Recht gilt und in der die Beute des Stärksten die einzige Gerechtigkeit ist. Sie wußte, daß brutaler Machtwille die Menschheit beherrschen würde, wenn er nicht kontrolliert und aufgehalten wird durch jene angeborenen Regeln des Rechts, die in den Seelen der Menschen wohnen.

Wie entstand diese Situation in unserer Welt? Dafür gibt es zwei Gründe: eine Religion, die durch und durch materialistisch geworden war, und zwar so sehr, daß die Menschen nicht mehr daran glaubten, daß dieses Universum durch geistige Mächte regiert wird, die die Herrschaft des Rechts durchsetzen. Daher glaubten die Menschen handeln zu können, wie es ihnen gerade gefiel, wenn sie nur einer kirchlichen Organisation mit den Lippen huldigten. Diese Vorstellung, die sich aus dem religiösen Aspekt des menschlichen Wissens, aus seiner Erziehung und seinen sozialen Kontakten herleitete, wurde durch einen gleichermaßen üblen Einfluß, der von den Reihen moderner Wissenschaftler ausging, noch mehr als verstärkt. Letztere Kraft hatte einen unvergleichlich größeren Einfluß auf das Denken der Menschen als die Diktate der Kirche und ihrer Hierarchie. Warum? Weil die Menschen anfingen zu glauben, daß die vortreffliche Erforschung der Natur, wie sie von der Wissenschaft unternommen wurde, uns Wahrheit brächte. Dieser menschliche Glaube war auch gerechtfertigt, denn es ist die eigentliche Aufgabe der Wissenschaftler, die Tatsachen zu erforschen und in einer leicht zu verstehenden philosophischen Form zusammenzufassen. Sehr viele Wissenschaftler arbeiten mit größter Ernsthaftigkeit, mit Energie und höchster Ausdauer für dieses edle Ziel. Aber es ist etwas ganz anderes, wenn Menschen, die selbst beinahe jeden Glauben an ein spirituell kontrolliertes Universum verloren haben, anfangen, Theorien zu bilden und theoretisch-spekulative Gesetze aufstellen über den Ursprung des Universums und den Ursprung des Menschen, über die Wirkungsweise des Universums und den Fortbestand der Menschheit darin und über die Zukunft des Universums und die Zukunft des Menschen in ihm. Das waren keine wissenschaftlichen Fakten, die durch Forschung entdeckt wurden. Das waren lediglich Theorien, nur Spekulationen und Hypothesen, die der Vorstellung von Menschen entstammten, die den Glauben an eine geistige Führung des Universums verloren hatten. Natürlich waren es ernsthafte Bemühungen, aber sie beruhten nicht auf spirituellem Glauben, und daher konnten diese Wissenschaftler die Tatsachen, die sie in der Natur entdeckt hatten, nicht zu einem umfassenden Ganzen, zu einem philosophischen Ganzen, zusammenfassen.

Betrachten Sie die Anfänge des totalen Materialismus, die um die Zeit Voltaires und anderer entstanden. Ich nehme Voltaire als ein Beispiel, nicht weil er diese Zeit hervorgebracht hat, sondern weil er eines ihrer frühesten Produkte war, und eines ihrer edelsten. Er war ein Kämpfer gegen Dogmatismus jeglicher Art. Dafür gebührt ihm noch mehr Ruhm! Aber auch sein Werk zerstörte den Glauben an ein spirituelles Universum.

Wie sahen nun diese wissenschaftlichen Theorien einerseits und die religiösen Theorien andererseits aus? Daß dieses Universum sich selbst entwickle, daß es keine geistige Kraft in ihm gäbe, die es kontrolliert oder führt, und daß die Dinge zufällig und nicht gesetzmäßig geschähen. Aber die Wissenschaftler sprachen mit gespaltener Zunge; auf der anderen Seite behaupteten sie nämlich leidenschaftlich: das Universum sei durch die Naturgesetze verursacht. Auf der einen Seite predigten sie Willkür und Zufall, auf der anderen die Gesetze. Es scheint ihnen nie aufgefallen zu sein, daß diese beiden Predigten sich gegenseitig aufheben.

Was waren also die Faktoren, die nach Darwins Behauptungen die Evolution bestimmten, oder was waren die Bedingungen, unter denen die Evolution stattfand, oder wiederum, was verursachte die Evolution? Es war ein Kampf – es war ein Kampf, in dem der Tauglichste überlebte, nicht der Beste, nicht der Edelste, sondern der Stärkste. Das wurde für ein Naturgesetz gehalten. Kein einziges Wort, kein einziger Hinweis steht bei Darwin, Lamarck, bei Haeckel, Huxley oder einem dieser sogenannten großen Männer des vergangenen Jahrhunderts, daß diese Welt durch ein innewohnendes moralisches Gesetz regiert würde, kein einziger Hinweis. Es war eine Herrschaft brutaler Gewalt, in der der Stärkste überlebte, ein Kampf, in dem der Tauglichste überlebte, und der Tauglichste war der brutal Stärkste, nicht der Beste. Daher: Ein Mensch und ein Hai im Meer – welcher ist zum Überleben geeigneter, wenn sich zwischen ihnen ein Konflikt ergeben sollte? Der Hai wird überleben, da er in seinem Element ist. Er ist der Tauglichere in diesem Element, und er wird den Menschen töten. Dennoch ist der Mensch das edlere Geschöpf, das bessere, das weiter entwickelte.

Das ist Darwinismus: zufällige Handlung der Natur in einem verzweifelten Kampf ums Überleben, in dem die Schwachen gefressen oder an die Wand gedrückt werden, und in dem nur brutale Kraft Ursache des Sieges ist. Diese Vorstellungen sind für das Seelenleben der Menschheit zerstörend, ganz gleich, ob sie von der Theologie oder von der Wissenschaft stammen. Erfassen Sie diese Tatsachen ganz klar und prüfen Sie die logischen Fehlschlüsse in unseren wissenschaftlichen Werken, die Fehlschlüsse in der Beweisführung unserer Wissenschaftler.

In eine solche Welt, die von dem Glauben geleitet war, daß Brutalität der einzige gangbare Weg der Natur sei, kam durch H. P. Blavatsky die Gottesweisheit, und ihre erste Arbeit war es, wie sie erklärte, die spirituellen Intuitionen im Menschen lebendig zu erhalten, damit er sich gegen die sogenannte oder falsch benannte „Regel“ wende, gegen diesen „Zufall“ in der Natur, gegen diese Regel brutaler Gewalt. Betrachten Sie die Handlungen der Völker der Erde während der letzten hundert Jahre – nein, der letzten drei- oder vierhundert Jahre. Sehen Sie sich die heutige Welt an. Das Ergebnis des Seelenverlustes, der Unterdrückung der spirituellen Instinkte des Menschen. Theosophen haben machtvoll gegen diese Lehre reagiert, ob sie nun von der theologischen oder wissenschaftlichen Seite kam. Wir haben die Schmähungen und den Spott einer Zeit auf uns genommen, in der es üblich war, daß bereits die Erwähnung der Seele gesellschaftliche Ächtung bedeutete.

Betrachten Sie, was H. P. Blavatsky tat. Fast allein und ohne Unterstützung forderte sie das Gedankenleben der Welt heraus und brachte durch ihren Mut und ihre Lehren die Gründung der Theosophischen Gesellschaft zuwege, indem sie jedermann laut verkündete, daß die Welt durch moralisches Gesetz geleitet würde, und daß derjenige, der dieses Gesetz verletzt, sei es unter der heuchlerischen Maske der Tugend oder offen und verzweifelt wie ein Verbrecher – daß der, der das Gesetz verletzt, bezahlen muß. Heute glaubt die Welt nicht mehr daran. Sie glaubt, der einzige Weg, eine ihrer Ansicht nach verbrecherische Schuld zu begleichen, bestünde darin, noch mehr brutale Gewalt anzuwenden als jeder andere. Die Menschen glauben nicht mehr an die Herrschaft spiritueller Gesetze. Sie glauben nicht mehr, daß unser Universum durch ein moralisches Gesetz geleitet wird. Sie nehmen das Gesetz in ihre eigenen Hände.

Ist das die Wahrheit? Ist das Religion? Ist das Philosophie? Ist das Wissenschaft? Das ist nicht Religion. Das ist nicht Philosophie. Das ist nicht Wissenschaft. Alle drei verkünden in ihrer Essenz die Herrschaft des Gesetzes in der Natur; daß dieses Gesetz spirituell und daher moralisch ist; daß es eine Ursache gibt, und daß diese eine Wirkung hervorruft; und diesen können wir nicht entrinnen, wir können sie nicht vermeiden. Sie sollen, können und werden Ihre Schritte verfolgen, wie der Wagen dem Fuß des Ochsen folgt, der ihn zieht – eine großartige, alte buddhistische Feststellung im Dhammapada, das zu einer Zeit geschrieben wurde, in der die Menschen glaubten, daß das Universum durch spirituelle und moralische Gesetze geleitet wird.

Tun wir etwas Böses, so wird uns so sicher, wie der Wagen dem Fuß des Ochsen folgt, der ihn zieht, diese böse Tat verfolgen und in diesem oder einem künftigen Leben einholen. Das ist Religion, das ist Philosophie, das ist Wissenschaft; ganz besonders Wissenschaft, die ja ihre Lehre von Ursache und Wirkung hat, ihre Lehre, daß die Wirkung der Ursache folgt und ihrer ursprünglichen Ursache entspricht. Die Welt glaubt nicht mehr an diese Dinge. Die Menschen glauben nicht mehr daran. Nur jene feinen Geister, deren Intuition heller brennt als bei der Mehrzahl unserer Mitmenschen, glauben nicht an diese jetzt verblassenden materialistischen Lehren, die in der Religion, in der Philosophie und in der Wissenschaft verlöschen, deren bösartige Folgen uns jedoch peinigen, so wie das atlantische Karma selbst heute noch schwer auf uns lastet.

Daher ist es wichtig, in der Wissenschaft unserer Zeit all jene Elemente zu unterstützen, die den Glauben an eine geistige Führung in der Welt hochhalten. Es ist wichtig für uns, in der Philosophie jene Elemente, jene philosophischen Elemente zu unterstützen, die lehren, daß das Universum durch ein innewohnendes moralisches Gesetz kontrolliert wird. Es ist wichtig für uns, mit höchster Sympathie und tiefstem Verständnis jene Elemente in der Religion zu unterstützen, die den Materialismus der letzten circa 1800 Jahre ablehnen und lehren, daß die Göttlichkeit alle Gefäße füllt, ob es würdige oder unwürdige Gefäße sind, denn für die Göttlichkeit ist weder das eine noch das andere unwürdig. Jene Göttlichkeit ist der universale Geist, aus dessen Schoß alle Wesen und Dinge kommen und an dessen himmlischen Zufluchtsort im Laufe der zyklischen Zeitalter alle Dinge und Wesen eines Tages wieder zurückkehren werden.

Folgendes ist für uns heute das Wichtigste: unser Äußerstes zu tun, um im Bewußtsein der Menschen eine Erneuerung und eine Wiedergeburt der Wahrheit zustandezubringen, daß unser Universum unter dem strengsten kosmischen Moralgesetz steht; mit anderen Worten, unter dem Gesetz der Harmonie, denn was im Universum Harmonie ist, nennen wir in der menschlichen Seele den ethischen Instinkt. Denken Sie daran, daß der Mensch, der aufrichtig davon überzeugt ist, daß seine Gedanken und Gefühle sich in Handlungen äußern, und daß er für diese Handlungen verantwortlich ist, nachdenken und lange eindringlich überlegen wird, bevor er handelt. Das ist es. Nur dieses einfache Gesetz, ein Glaube von uns Menschen, daß dieses Universum kein Zufallsprodukt ist; daß es von moralischer Kraft erfüllt ist, daß diese moralische Kraft in der menschlichen Seele uns bei unserem täglichen Verhalten leiten sollte. Wenn die Menschen nur dieser einfachen Regel folgen würden, wäre unser Leben hier auf der Erde ein Himmel im Vergleich zu dem, was es jetzt ist. Allzulange ist der denkende Mensch der māyāvischen Täuschung erlegen, er könne die Naturgesetze in seine eigenen Hände nehmen und in seiner kraftlose Art und mit seinem schwachen und unzuverlässigen Intellekt versuchen, kosmisches Recht zu sprechen.

Wie die Götter über uns lachen müssen! Und wenn sie weinen, wie manche sagen, wie müssen ihre himmlischen Augen manchmal mit Tränen göttlichen Mitleids für den Menschen erfüllt sein!

Die jungfräuliche Geburt

Das Weihnachtsfest und die Lehren, die seit frühchristlicher Zeit damit zusammenhängen, sind keineswegs christlichen Ursprungs. Sie wurden durchaus nicht von christlichen Theologen oder Gläubigen erfunden, vielmehr beruhten sie alle auf gebräuchlichen heidnischen Vorstellungen vom Allerheiligsten. Das war in der christlichen Geschichte durchaus nicht selten, es kam sehr häufig vor. Gerade von den damaligen Philosophien und Religionen, die später beschimpft und abgelehnt wurden, übernahmen die Christen die Mehrzahl jener Ideen, die später als christliche Theologie bekannt wurden.

Die ersten Christen wuchsen in der heidnischen Welt auf, in der es eine anerkannte Tatsache war, daß eine exoterische Religion oder eine Reihe solcher Religionen existiert und eine geheime Lehre, die nur jenen vorbehalten war, die sich als geeignet und würdig erwiesen, die Lehren der Mysterienschulen zu empfangen, die Geheimnisse des Göttlichen. Alle exoterischen Religionen bargen etwas Wundervolles in sich, etwas höchst Erhabenes, das in den Heiligtümern gelehrt wurde. Diese Tatsache müssen wir klar sehen, sie ist historisch. Frühchristliche Geschichtswissenschaftler haben diese Idee immer übersehen, vergessen oder übergangen, ohne auch nur auf sie hinzuweisen, obwohl sie gerade die Atmosphäre kennzeichnet, in der das Christentum entstand. Wenn wir diesen Schlüssel erfassen und im Gedächtnis behalten, dann besitzen wir etwas, mit dem wir Dinge entschlüsseln können, die selbst für christliche Theologen nicht nur schwer zu verstehen, sondern auch schwer erklärbar sind.

Die „jungfräuliche Geburt“ hat ihren Ursprung nicht im Christentum. Der Begriff ist seit undenklicher Zeit überall in der Welt Allgemeingut. Viele Völker lehrten in archaischer Zeit von Jungfrauen, die große Weise und Seher gebaren. Sie können die Geschichte Jesu, des Avatāra, genauso in anderen Sprachen und anderen Varianten lesen, die aber alle essentiell die gleiche fundamentale Wahrheit enthalten: wie ein großer Mensch durch eine neue Geburt menschliche Göttlichkeit erlangt. Diese Idee war so allgemein bekannt, daß sie sogar in der volkstümlichen exoterischen Sprache auf den Straßen und Märkten geläufig war.

Die Hindus sprachen von einem Dvija, einem „Zweimalgeborenen“. Die Idee ist, daß er wie alle Menschensöhne physisch zur Welt kam, von einer Mutter geboren wurde, daß er aber, wenn er nach der Schulung bereit ist, die innere Geburt und die innere Erleuchtung empfängt. Dies ist die zweite Geburt des Menschen, eine Neugeburt in das Licht des Geistes. Man sieht, wie erhaben diese Sache ist, sobald wir sie theosophisch beleuchten. Sie bleibt nicht länger eine christliche Angelegenheit, sondern sie wird universal. Erkennen Sie, wie das menschliche Herz und der menschliche Geist davon angesprochen werden! Wie hell scheint das Licht der Wahrheit auf das Gesicht des Menschen, dessen Herz erleuchtet ist von dem Gefühl seines Einsseins mit allem; und welches Leiden spiegelt sich darin, wenn ihn das Gefühl des Sonderseins aus seiner Einheit mit anderen Menschen hinwegträgt.

Was besagte diese Lehre im frühen Christentum? Das gleiche, was sie in allen anderen, großen heidnischen Ländern besagte. Sie stellte Szenen dar, die sich im Heiligtum abspielten, wo der Neophyth oder Schüler nach langer Schulung sein inneres Wesen, seine innere Wahrnehmung so entwickelt hatte, daß er an der Schwelle stand, Christos zu werden, ein Christus oder, wie der Mahāyāna-Buddhismus sagt, ein Bodhisattva. Der nächste Schritt wäre die Buddhaschaft. Selbst in exoterischen Schriften wurde diese wunderbare Wahrheit aus dem Heiligtum als jungfräuliche Geburt bezeichnet, als zweite Geburt; und alle Erlöser der Menschheit, gleich in welchem Land oder welcher Gegend oder in welcher Zeit, all diese Großen, die Weisen und Seher, die Buddhas und Bodhisattvas höchsten Ranges, die Größten, alle waren von der Mutter geboren, von dem inneren Heiligen Geist. Wie wunderbar, wie wahr! Es spricht uns sofort an und stimmt selbst mit dem wenigen exakt überein, was die moderne wissenschaftliche Forschung uns durch ihre sogenannte Psychologie berichtet. Wir alle anerkennen es, wenn das Leben eines Menschen durch eigenes Bemühen und Streben danach, größer zu werden, verbessert und erhabener wird. Es ist der erste schwache Schein im mystischen Osten, sozusagen der Beginn der heiligen Geburtswehen, wodurch ein Mensch zu einem Übermenschen wird. Mit der Zeit wird er ein inkarnierter Gott, der innere Gott, und danach manifestiert er sich durch das Christuskind, und der Mensch aus Fleisch wird empfänglich für die innere Flamme, für das innere Licht, für das innere Feuer. Sehen Sie nicht, welche Würde uns Menschen das verleiht? Welche Zukunftshoffnung für jene, die wagen, die streben, die stillschweigen!

Es gibt etwas sehr Bedeutsames in den frühchristlichen Schriften. Wenn Maria Jungfrau war, wie hätte sie dann Kinder gebären können? In der frühchristlichen Literatur kommt in den griechischen christlichen Schriften eine bemerkenswerte Stelle vor, die ins Deutsche übersetzt besagt: „Meine Mutter, der Heilige Geist (denn der Heilige Geist war bei den ersten Christen immer weiblich, nie männlich wie späterhin) meine Mutter, der Heilige Geist, nahm mich an meinem Haarschopf und brachte mich zum heiligen Berg Athor.“ Begreifen Sie? Hier ist der Geist in mir, der Heilige Geist, meine Mutter, von der ich geboren wurde, neu geboren, nicht länger vom Fleisch geboren, sondern vom Geist geboren: zuerst aus dem Wasser geboren, dem Fleisch entsprechend; dann aus dem Feuer geboren, dem Geist entsprechend: die erste Geburt und die zweite Geburt. Dies ist in Wirklichkeit die jungfräuliche Geburt; denn der Geist des Menschen, ein Strahl aus dem Göttlichen, aus dem Unaussprechlichen, ist ewig jungfräulich und doch ewig fruchtbar, ewig erzeugend. Der kosmische Christus wird geboren aus dem kosmischen Geist, der in alten Zeiten ebenfalls weiblich war, und in gleicher Weise ist der spirituelle Mensch weiblich, und in der heiligen Handlung gebiert er den Bodhisattva, das Christuskind, und von da an ist der Mensch erfüllt von der Heiligkeit des Geistes, der ihn aus der göttlichen Quelle durchströmt.

Welchen Zusammenhang hat dies mit der Sonne? Seit undenkbarer Zeit wurde Vater Sonne verehrt: nicht unbedingt der physische Globus, der in Schönheit und Licht und Glanz und vitaler Energie erstrahlt, der Lichtspender für sein eigenes Reich ist, sondern die Gottheit, die, wie bei allen anderen Sternen, im Innern und über und hinter jeder Sonne steht. Unsere Sonne war ein Sinnbild für den kosmischen Geist, denn durch diese Sonne ergießen sich diese Fluten vitalen Glanzes und Lebens und Lichts: Licht für den Geist und Liebe für das Herz, ohne die kein Mensch ein Mensch ist.

Selbst die Christen pflegten Hymnen an die Sonne zu singen, worüber es noch Aufzeichnungen gibt; neben anderen Hinweisen in einer Mitteilung von Plinius, dem Statthalter von Bithynien und Pontus, an den Kaiser Trajan in Rom. Er sagte, daß in seinem Amtsbezirk die Christen unschuldige und harmlose Leute zu sein scheinen, denn sie würden sich jeden Morgen bei Sonnenaufgang versammeln und Hymnen an diese Gottheit singen. Und in einer Sammlung altchristlicher Gesänge befindet sich immer noch eine jener Hymnen an die Sonne, die ich oft zitiert habe. Sie kann wie folgt übersetzt werden:

„Oh Du wahre Sonne,
Scheine für immer, leuchte mit ewigem Licht.
Erscheinungsform des Heiligen Geistes
[nicht nur eine Schöpfung des Heiligen Geistes, sondern seine Erscheinungsform],
Erfülle uns ganz.“

Kein Parse oder sogenannter Sonnenanbeter schuf eine typischere Hymne an die Sonne als diese frühen Christen. Die Frühchristen wußten, was sie meinten. Sie beteten nicht die physische Sonne an, es war das göttliche Licht. Sie lehrten, wofür die Sonne stand. Die Sonne war das Sinnbild, die Erscheinungsform des kosmischen Christus, keine Schöpfung Gottes, sondern die Verkörperung des Göttlichen. Oh, Du wahre Sonne – und es war unter den Christen gang und gäbe, ihren Retter Jesus, den Avatāra, mit der Sonne zu vergleichen.

Ich wünschte, daß ich die Zeit hätte und Ihnen mehr von den tiefgründigen Mysterien dieser Lehre erzählen könnte, aber ich will nur noch folgendes hinzufügen: daß sich in der Konstitution des Menschen ein solares Element befindet. Könnte es anders sein? Es gibt dort ein lunares Element und je ein Element von jedem der anderen Planeten. Selbst die Wissenschaft sagt uns, daß wir nicht nur am kosmischen Licht teilhaben, das uns von Vater Sonne erreicht, sondern daß selbst die Wärme, die wir aus der Kohle gewinnen, die wir verheizen, und aus dem Holz, das wir verbrennen, ursprünglich aus der Sonne kam; daß die Atome, die sie zusammensetzen, die gleichen sind, die durch uns wandern; daß der Sonnenkörper nicht nur die Erde erreicht, sondern alle anderen Planeten. Natürlich ist ein solares Element in uns und ein lunares Element und ein Element von jedem Planeten. Sonst wären wir unvollständig. Der Mensch hat alles in sich, was das Universum hat!

Selbst wenn ein Mensch alles Wissen hätte, aber keine Liebe in seinem Herzen, würde es ihm nichts nützen. Es würde einfach zeigen, daß dieser Mensch unvollständig ist, unentwickelt, weil er ja, da er ein Teil des Universums ist, nicht all das aufweist oder manifestiert, was im Universum ist, alles, was das Ganze hat. Ich könnte die ganze Wahrheit der Welt besitzen, aber ich könnte sie nicht richtig verstehen. Ich könnte daraus Schlüsse ziehen und darüber nachdenken, aber ich würde nicht den Zusammenhang mit der Wirklichkeit finden, weil das Herz in mir noch nicht wach ist. Der magische Schlüssel der Liebe glüht noch nicht in meiner Brust.

Stellen Sie einfach diese Frage: Sie kennen zwei Menschen. Der eine besitzt alles Wissen der Welt, aber er ist herzlos. Und der andere ist ein einfach denkender Mensch. Er ist nicht gelehrt, aber sein Herz ist groß, erfüllt von universaler Liebe und allumfassender Sympathie. Welchen von beiden würden Sie sich als Gefährten wählen, und an welchen könnten Sie sich in Zeiten der Not wenden?

Laßt das Christuskind leben

Theosophen sehen im Weihnachtsfest zwei Dinge: erstens, die Aufzeichnung einer erhabenen Tatsache in der okkulten Geschichte und dem Leben – eine erhabene Tatsache, die jeder Menschensohn eines Tages in seiner eigenen spirituellen Geschichte wiederholen wird, wenn er erfolgreich aufsteigt. Und das andere bedeutet mir noch mehr: in der Seele eines jeden von uns ist der ungeborene Christus, der Christos, der Fürst des Friedens und der Liebe. Wenn die zyklische Wiederkehr der Jahreszeiten die Tage der Weihnachtszeit näherbringt und die christliche Welt die angenommene Geburt des physischen Körpers ihres Meisters, ihres Oberhauptes, ihres Heilands feiert, dann können wir die Worte des Avatāra, des Christus, in ihrem höheren Sinne verstehen: daß wir Menschen die „Söhne Gottes“, des Göttlichen, sind und daß der Geist der Liebe und das Bewußtsein des Höchsten im Tempel jedes Menschenherzens wohnen – das heißt, daß in meinem Herzen und in Ihrem Herzen ein Christuskind ist. Gewisse Orientalen nennen ihn den Buddha, den Himmlischen Buddha in unserem Herzen. Die Idee stimmt überein, wenn auch nicht die Worte.

Wenn also die Weihnachtszeit naht, erkennen wir, daß es eine gute Zeit ist, das Christuskind in unserem Herzen sprechen zu lassen, zu versuchen es zu verstehen, ja noch mehr, eins mit ihm zu werden, so daß wir mit jedem neuen Weihnachten Christus mehr gleichen, Buddha ähnlicher werden, noch spirituellere, edlere Vorbilder des Christus, der in dem Herzen eines jeden von uns lebt, so daß eines Tages, zur richtigen okkulten Zeit, das Christuskind als Christusmensch geboren werden kann. Dann wird die heilende Sonne aufgegangen sein; sie wird Gesundheit und Ganzheit in ihren Schwingen bringen und unsere Sorgen und Nöte heilen, unseren Kummer tilgen und die Tränen des Grams in unseren Augen trocknen, weil wir als Individuen mit dem Geist des Universums eins geworden sind, von dem ein Strahl, ein leuchtender Strahl, im Herzen eines jeden von uns wohnt. Dies verstehen wir unter der wahren Geburt des Christus – ganz abgesehen von den anderen Fakten dieser Geschichte.

Das Christuskind lebe in uns! Wissen Sie, daß wir Menschen im Westen es gar nie versucht haben? Wir reden davon und träumen und debattieren darüber, aber wie wenige von uns Menschen verwirklichen es, leben es, versuchen es, und kommen unter seinen himmlischen Einfluß? Der Mensch, der es tut, ist zehnmal der Mensch, der er zuvor war, klarer im Intellekt, lebendiger im Geist, größer im Denken; denn er wird von genau den Kräften inspiriert, die das Universum im Gleichgewicht halten, indem er das Christuskind in seinem Herzen wird.

Die exoterische und die esoterische H. P. B.

Anstatt darüber zu sprechen, worin H. B. Blavatskys Werk bestand und was sie tat mag der Versuch von Interesse sein, einige bedeutsame Gedanken über H. P. B. selbst zu sagen: wer und was sie war, und warum sie kam. Ich werde versuchen, dies kurz zu tun.

Zunächst möchte ich über die exoterische H. P. B. sprechen. In dieser großen Frau existierten zwei Bewußtseinsseiten: eine äußere, die sich mit der Welt und ihren Verhältnissen, in denen sie zu arbeiten hatte, auseinandersetzen mußte, und eine innere, die eine lebendige Flamme der Liebe und Intelligenz war, eine Flamme der Inspiration und des heiligen Lichts. Letztere war H. P. B.s esoterische Seite.

Betrachten Sie ihr Gesicht und studieren Sie es. Vertiefen Sie sich in die russischen Merkmale, in die Gesichtszüge, die die Steppen des riesigen Rußland zeigen. Wenn Sie es dabei bewenden lassen, werden Sie kaum mehr sehen als ein Gesicht, in dem nicht einmal viel menschliche Schönheit ist. Aber jene, die Augen zum Sehen haben und hinter den Schleier der physischen Persönlichkeit zu blicken vermögen, können in der Tat noch etwas anderes wahrnehmen. Sie können Schönheit erkennen, eine intensive Ergriffenheit und eine große Traurigkeit – nicht die Traurigkeit und Ergriffenheit von jemandem, der ein großes Werk zu vollbringen hatte und daran scheiterte oder es nicht zustandebringen konnte, sondern ein Sehnen, ein Ergriffensein, ein Bekümmertsein, wie es immer mit dem Typus des Christos, wie man im Westen sagt, in Zusammenhang gebracht wurde. Genau so! Denn hinter diesen äußerlichen Gesichtszügen, die einige Künstler sogar häßlich nannten, läßt sich eine vergeistigte Schönheit erkennen, die sich nicht leicht durch Worte beschreiben läßt. Jedes Herz kann sie fühlen, jedes für spirituelle Dinge geöffnete Auge kann sie wahrnehmen. In diesem Gesicht liegt eine Inspiration, und es ist wunderbar, es zu betrachten. In diesem Gesicht ist Selbsthingabe. Göttliche Gedanken durchleuchten es, geboren aus der Wahrnehmung der Wahrheit, und diese Wahrheit ist das göttliche Herz der Natur. Es sind diese spirituellen Qualitäten, die aus dem Gesicht von H. P. B. herausleuchten, wenn wir ihr Bild betrachten, und die uns zeigen, daß hinter der äußeren Person ein inneres, lebendiges, esoterisches Feuer existierte.

Keiner, der die Weisheitsreligion des Altertums studiert hat, glaubt auch nur für einen Moment, daß H. P. Blavatsky zufälligerweise in den Westen kam und nicht in Übereinstimmung mit den Naturgesetzen und einer unerbittlichen Verkettung von Ursache und Wirkung, die alle Dinge in die richtige Ordnung bringt. Glaubt jemand, daß es etwas gibt, das nicht seinen richtigen und ihm angemessenen Platz in der kosmischen Harmonie einnimmt? Natürlich ist das nicht so. Das bedeutet also, daß sie kam um dem Gesetz Genüge zu tun, einem der Naturgesetze, von denen die unwissenden Menschen des Westens viel zu wenig wissen. Sie sind deshalb voller Zweifel und als weitere Folge davon blind, denn der Zweifel verschleiert immer die innere Vision.

H. P. B. kam, weil es für sie an der Zeit war, zu kommen. Sie war ein Lehrer aus einer Kette von Lehrern, die im Verlauf der menschlichen Geschichte zu ganz bestimmten festgelegten Perioden auftreten. Ein Lehrer folgt dem anderen, und immer, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen und die Zeit reif ist, und niemals zufällig. Sie war eines der Glieder in der lebendigen Kette des Hermes, ein Glied der Goldenen Kette, wie die Initiierten des alten Griechenlands diese nannten. Sie wird mit der Weitergabe des mystischen und esoterischen Lichtes und einer erneuten Darlegung der Wahrheit in Verbindung gebracht. H. P. B. kam als reguläre Nachfolgerin der Lehrer, die ihr vorausgegangen waren. Jeder einzelne von ihnen wurde von der großen Vereinigung der Weisen und Seher ausgesandt, die verschiedentlich die Mahatmas, die Älteren Brüder der Menschheit oder anders genannt wurden. Diese Lehrer, diese Leiter und Lenker der Menschheit, kommen und lehren gemäß dem Gesetz, gemäß dem esoterischen und natürlichen Gesetz, wenn die Zeit für ihr Auftreten da ist. Wie könnte man sonst ihr periodisches Auftreten logischer erklären?

Die Zeitalter lösen einander ab. Jedes Zeitalter hat eine neue Generation, und jede Generation empfängt ihr Licht von den ihr vorausgegangenen Generationen, von ihren Vätern. Aber die Generationen steigen auf und gehen wieder unter, sowohl physisch in bezug auf die Zivilisation als auch spirituell auf die Ebenen des Lichtes bezogen, und auf die intellektuellen, ethischen und mentalen Gleise, denen die Menschen folgen, wenn sie die veredelnden Einflüsse des menschlichen Lebens hervorbringen. Und diese aufeinanderfolgenden Generationen bedürfen immer führender Denker, benötigen ein Licht, das von Zeitalter zu Zeitalter erneuert wird, um die alten Feuer phönixgleich zu entflammen. Es sind diese Überbringer des Lichtes, die die Goldene Kette des Hermes bilden.

Was bringen diese Lehrer der Menschheit? Lehren, die den Lehren und Unterweisungen der Vorgänger entgegengesetzt sind, ihnen widersprechen und etwas vollkommen anderes sagen? Nein, das ist niemals der Fall, wenn diese Lehren richtig verstanden werden. Wenn man die Lehren aller großen Weisen und Seher überprüft, die unter den Menschen lebten, wird man erkennen, daß sie essentiell alle eins sind, obwohl sie in verschiedenen Sprachen, in verschiedenen Formen und unterschiedlichen Gedankenformulierungen abgefaßt wurden, den verschiedenen Zeitaltern angepaßt, in denen der jeweilige Lehrer erschien. Obwohl sie in verschiedene Gewänder gekleidet und eingehüllt sind, ist der Kern der Wahrheit, die sie lehrten und lehren, ein und derselbe.

Was diese Weisen brachten, brachte auch H. P. Blavatsky. Überprüfen Sie, testen Sie diese Behauptung, prüfen Sie sie für sich selbst – die Literatur der Welt steht Ihnen dazu zur Verfügung und ermöglicht es Ihnen, dies zu tun. Wenn Sie finden, sie hätte etwas gelehrt, was ihre Vorgänger, die großen Seher, nicht gelehrt haben, wäre es für mich ein Wunder. Aber ich glaube nicht, daß Sie das können. Sie erinnern sich, was Konfuzius im wesentlichen sagte: „Ich lehre nichts Neues. Ich lehre, was meine Vorgänger lehrten. Ich liebe die Alten und deshalb lehre ich, was sie lehrten.“ Details der Lehre mögen verschiedenartig sein, notwendigerweise variieren auch die Formen der Lehren, aber die Lehre an sich ist die Wahrheit von der und über die Natur, über ihr wirkliches Wesen, ihren Aufbau, ihre Arbeits- und Funktionsweisen, über ihre charakteristischen Merkmale und über ihre Gesetze. Wenn ein Theosoph Natur sagt, ohne weitere Spezifizierungen vorzunehmen, dann begrenzt er dieses Wort nicht auf die physische Welt allein. Er bezieht sich dann auf die Gesamtheit des Universums. Das schließt die göttliche, spirituelle, intellektuelle, physische und astrale Natur mit ein; er bezieht sich auf all die spirituellen und feinstofflichen Bereiche, Sphären, Welten und Ebenen, die zusammen den Geist, die Seele und den Körper des Universums bilden, wie die großen Denker des Westens und des Ostens es ausdrückten.

Das lehrte sie. Das lehrten die großen Weisen und Seher: eine offene, äußere Lehre und eine innere, verborgene Lehre; eine exoterische Lehre für die Öffentlichkeit, und eine esoterische Lehre für diejenigen, die sich selbst als fähig erwiesen hatten, sie zu begreifen und daher auch bereit waren, sie geheimzuhalten und als heilig zu betrachten. Denn wenn es angebracht wäre, diese esoterischen Lehren der Öffentlichkeit mitzuteilen, würde dies geschehen. Erinnern Sie sich, daß die archaische Weisheitsreligion der Zeitalter das natürliche Erbe der Menschen ist. Sie gehört ihnen rechtmäßig. Aber als Einzelne haben wir kein Anrecht darauf, ehe wir nicht erwachsen sind, ehe nicht unser Verstand gereift ist, und wir nicht länger in spiritueller und intellektueller Hinsicht wie Kinder sind, bereit, das zu mißbrauchen, was uns zwar rechtmäßig gehört, aber den irrenden Menschen von der Natur, den Göttern und den Meistern aus Mitleid, Liebe und Weisheit so lange vorenthalten wird, bis die Menschen gelernt haben, sich selbst zu beherrschen. Dann werden sie auch imstande sein, das, was ihnen aufgrund des natürlichen Rechtes zusteht, in der richtigen Weise anzuwenden. Dann wird auch keine Gefahr mehr für eine falsche Anwendung und für einen Mißbrauch bestehen.

Große und erhabene ethische Lehren bilden die Grundlage dafür, was diese edle Botin der Meister, H. P. B., lehrte. Sie zeigte uns, daß ethische und moralische Forderungen sich letztlich auf den Aufbau und die Gesetze der Natur gründen, und daß Ethik und Moral nicht nur ein Ergebnis menschlicher Übereinkunft sind. Sie zeigte uns, daß das Richtige für alle Ewigkeit richtig ist, ganz gleich, wie die Menschen über Details argumentieren, und daß das Falsche auch ewig falsch bleibt. Das Richtige ist identisch mit Harmonie, das Falsche mit Disharmonie. Harmonie ist das natürliche Herz der Liebe, der Musik und des Friedens, denn sie ist Gleichgewicht. Disharmonie ist gleichbedeutend mit Dissonanz, Unfrieden und Mißklang in der Natur, wie auch im Leben der Menschen. Denn die ganze Natur ist beseelt, so wie der Mensch; und diese Lehre über Ethik ist eine der edelsten, die sie uns brachte. Sie lehrte uns unsere untrennbare Einheit, unser Einssein mit dem Herzen des Seins, so daß der Tod nicht länger als ein gräßliches Phantom gesehen wird, sondern als eines der wunderbarsten Abenteuer, dem man sich als Mensch unterziehen kann, als eine erhabene und herrliche Initiation in andere Welten, in ein edleres, größeres und vortrefflicheres Leben.

Als einer der aufeinanderfolgenden Lehrer kam sie in rhythmischer Übereinstimmung mit den Gesetzen, die unseren Planeten kontrollieren. Sie kam tatsächlich gerade am Beginn eines Messianischen Zyklus, der 2160 Jahre umfaßt, und deshalb auch am Ende des vorhergehenden Zyklus derselben Kategorie. Sie war die Botin für ihr Zeitalter, d. h. für das kommende Zeitalter. Sie hatte einen neuen Grundton anzuschlagen, obwohl dieser, mystisch gesprochen, so alt ist wie die Zeitalter selbst. Sie war in einem gewissen, aber wenig bekannten Sinne ein Avatāra einer ganz bestimmten Art oder eines ganz bestimmten Typus, denn es gibt verschiedene Arten von Avatāras. Jeder Lehrer, der seine Lehrtätigkeit aufnimmt, besteht nicht nur aus seinem Körper und seinem ungewöhnlich aufgebauten psychologischen Apparat, sondern ist zusätzlich zeitweise mit dem heiligen Feuer einer größeren Seele erfüllt und deshalb de facto ein Avatāra einer speziellen Art. Genau wie Jesus, der Christus, ein Avatāra einer besonderen Art für sein Zeitalter war, so war auch H. P. Blavatsky ein Avatāra einer anderen Art für das ihre.

In der modernen westlichen Welt ist es besonders bei den Künstlern üblich, Jesus von Nazareth als einen Mann von wunderbarer physischer Schönheit, hervorstechender Männlichkeit und faszinierender Erscheinung darzustellen. Aber stimmt das? Entspricht dieses Bild den Tatsachen? Diese Darstellungsweise orientiert sich an einer Vorstellung oder an einem Ideal des Mittelalters und der Gegenwart. Es wird erzählt, daß die christlichen Kirchenväter häufig voller Stolz der Welt lautstark die Idee verkündeten, daß Jesus ein Mann von durchschnittlicher Erscheinung war, seinem Körper und seinem physischen Erscheinungsbild nach sogar unbedeutend. Doch was hat das, ob wahr oder falsch, mit dem inneren Feuer zu tun, mit der Flamme des Geistes, die durch die sterbliche Hülle leuchtet, so daß letztere gleich einer Lampe strahlt und glüht und den Menschen im Umkreis Licht spendet? Worauf es ankommt ist allein die wahre spirituelle Wesenheit im Inneren.

Ich will Ihnen den Grund dafür sagen, warum H. B. P. – dieser gegenwärtige Avatāra von jener speziellen Art, von der ich sprach – in einer nicht gerade physisch schönen Erscheinungsform auftrat. Bei ihr hat das bislang ja erfolgreich funktioniert. Bei Jesus, dem syrischen Avatāra, hatte der gleiche Versuch in den nachfolgenden Jahrhunderten jedoch seine Wirkung verfehlt. Was war und ist der Grund dafür? Die Lehrer waren bemüht, wie immer, wenn ein neuer Lehrer erscheint, jemanden zu finden, der der Welt seinen spirituellen und intellektuellen Stempel allein durch das Feuer des inneren Genius, der inneren Gottheit aufdrückt; jemanden, bei dem spätere Generationen nicht eventuell vor dem physischen Körper des Betreffenden aus instinktiver Liebe zur Schönheit niederknien und ihn anbeten würden. Es widerspricht den Gefühlen des menschlichen Herzens, eine häßliche Person als Gott anzubeten und zu verehren. Im Falle von Jesus gewannen in späteren Zeiten blinder Glaube und eine falsch verstandene Verehrung die Oberhand. Bei H. P. B. hat ihr unbedeutendes frauliches Erscheinungsbild uns und vor allem sie vor einem ähnlichen Schicksal bewahrt. Niemand, ob Mann oder Frau, läßt sich dazu verleiten, jemanden anzubeten, der häßlich ist. In einem gewissen Sinne ist das auch verständlich. Es ist nicht falsch, denn die menschliche Seele weiß instinktiv, daß innere Schönheit äußere Schönheit bewirkt, vielleicht nicht, was die äußere Gestalt betrifft, aber zumindest hinsichtlich der Gesamterscheinung. Vor allem drückt sich diese Art von Schönheit in einer an kein Geschlecht gebundenen Würde aus. Die Schönheit des inneren Lichtes äußert sich in Liebe, Weisheit, Wohlwollen und Güte. Ich hoffe, Sie verstehen, was ich mit diesen kurzen Ausführungen zu sagen versuche.

Zweitausendeinhundertundsechzig Jahre vor H. P. Blavatskys Geburt begann ein Messianischer Zyklus besonderer Prägung. Er führte im Verlauf der Jahrhunderte die europäischen Länder in das dunkle Mittelalter. Ungefähr 2160 Jahre später begann mit ihrer Geburt ein neuer Zyklus, ein aufgehender Zyklus, der den Menschen Licht, Frieden, Wissen und Weisheit bringen sollte. Es ist die Pflicht der Theosophen, als gewöhnliche Mitglieder der Theosophischen Bewegung, dafür zu sorgen, daß die Botschaft, die sie brachte und als einen heiligen Auftrag in unsere Hände legte, rein und unverfälscht bleibt und unseren Nachkommen in späteren Generationen genauso weitergegeben wird, wie wir sie empfangen haben. Wie ich sie empfangen habe, genauso muß ich sie weitergeben, nicht anders. Iti mayā śrutam – „So habe ich gehört.“

Ich denke, der größte Tribut, den unser Herz und unser Denken H. P. B. geben kann, sollte darin bestehen, uns genaue Kenntnis darüber zu verschaffen, wie sie und was sie wirklich war und nicht dabei stehenzubleiben, was irgendwer über sie gesagt hat. Der beste Weg dazu ist, sie und ihre Bücher, in denen sie sich spiegelt, zu studieren. Erst dann werden wir die wirkliche H. P. B. kennenlernen. Wir werden unsere Intelligenz und unser Herz benutzen müssen, um darüber zu urteilen, was sie war und was sie hervorbrachte. Wir werden dann nicht mehr auf das angewiesen sein, was irgend jemand über sie erzählt. Wir wollen die Fackel des Lichtes, die sie in unsere Hände legte, weiterreichen.

H. P. Blavatsky kam in eine Welt, die gerade in einen wahren „Totentanz“ verfiel, einen Danse Macabre, bei dem man, um die mittelalterliche Idee fortzuspinnen, das Klappern der Gebeine der Toten hören konnte, das Rufen der Eulen der Verzweiflung und die feuchten, üblen Gerüche des Friedhofes spürte, in dem die Menschen ihre Hoffnungen beerdigt hatten. Das war die Welt, in die sie kam und die Zeit, in der sie sprach. Es war eine Zeit, in der die Menschen im Grunde allen Glauben daran verloren hatten, daß es so etwas wie ein Wissen über spirituelle Dinge überhaupt gibt, eine Zeit, in der es als ein Merkmal von intellektuellem Schwachsinn betrachtet wurde, wenn sich jemand erkühnte, über die Gottheit, über eine uns verbleibende Hoffnung oder über andere Dinge spirituellen Charakters auch nur zu sprechen. Selbst das Wort Seele war tabu.

Ganz allein auf sich gestellt, bewirkte diese starke Frau eine Veränderung im Denken des Menschen und zwar durch die Kraft ihres spirituellen Wissens, das sie befähigte, auf den menschlichen Geist, auf die menschlichen Seelen einzuwirken. Sie tat dies, indem sie in die menschlichen Gemüter Gedankensamen säte, die durch den menschlichen Verstand wie feurige Funken stoben. Infolge ihrer enormen intellektuellen Energie lehrte sie die Menschen, in einer neuen Weise über das Leben und die Natur nachzudenken indem sie ihnen zeigte, daß die Lehren des sterbenden Materialismus, die damals so modern waren und denen die Menschen in ihren Herzen Vertrauen geschenkt hatten, nichts waren als hohl tönendes Messing und klingende Schellen. Sie zeigte ihnen, daß sie törichterweise dabei waren, nicht nur ihre edelsten Hoffnungen auf dem Friedhof der materiellen Existenz zu Grabe zu tragen, sondern sich selbst innerlich zu dieser Grabstätte zu machen, zu denen sie ihre Füße trugen.

Eine gewaltige Kraft kam in die Welt und wirkte und machte ihre Einflüsse geltend. Und das Netz, das sie knüpfte, spielte eine große Rolle dabei, die besseren Bedingungen herbeizuführen, die wir heute vorfinden. Die heutige Welt fängt gerade an, theosophisch, d. h. in einer theosophischen Art, zu denken, denn dem makabren Tanz ihres Zeitalters wurde Einhalt geboten, jenem Totentanz, der taumelnd, seelen- und gedankenlos auf den Gräbern der menschlichen Hoffnungen getanzt wurde. Das alles hat aufgehört!

In H. P. B. liegt ein psychologisches Wunder, ein Mysterium, denn H. P. B. war ein Mysterium. Was sagen uns unsere größten Wissenschaftler und Denker heute, viele Jahre nachdem sie auftrat und lehrte? In skizzenhaften Umrissen bestätigen sie viele der Lehren, die sie übermittelte: Lehren, soweit es diese Wissenschaftler betrifft, die auf Schlußfolgerungen basieren, die sich aus der Forschung in der physischen Natur ergaben, dem Arbeitsgebiet dieser Wissenschaftler. Bevor die Wissenschaftler die Fakten überhaupt entdeckten, hatte sie diese bereits gelehrt, und zwar trotz des Widerstandes der Kirche einerseits und der Wissenschaft andererseits. Beide versuchten, sie lächerlich und verächtlich zu machen. Zusätzlich hatte sie noch die sogenannten Privilegierten und Bevorrechtigten aller Schattierungen aus ihrer Umgebung gegen sich, ob auf dem sozialen, religiösen, philosophischen oder wissenschaftlichen Sektor.

In ihr war Stärke, spirituelle Stärke, und sie setzte die Seelen der Menschen in Flammen. In ihr war intellektuelle Kraft, und darum konnte sie die Menschen unterweisen, in einer neuen Richtung zu denken und neue Visionen zu haben. Und dann besaß sie außerdem noch eine psychologische Kraft, die sie befähigte, den māyāvischen, psychologischen Wall niederzureißen, in den die Menschen in ihrer Torheit ihr Bewußtsein eingemauert hatten.

Nun überlegen Sie, was dies alles bedeutet. Hätten Sie das tun können? Hätten Sie den Mut zu dieser Herausforderung aufgebracht? Würden Sie es wagen, auf sich allein gestellt, heutzutage der Welt in einer ähnlichen Art und Weise gegenüberzutreten? Es gibt eine Ursache und einen Grund für die Arbeit, die sie leistete. Wir sehen heute nur die Auswirkungen, das historische Phänomen ihres Lebens und ihres Werkes. Aber worin lag letztlich die innere Ursache? Es war das lebendige, spirituelle und intellektuelle Feuer in ihr. Es war die esoterische Seite von H. P. Blavatsky, die sie zu dem befähigte, was sie tat.

Glauben Sie auch nur für einen Augenblick, daß H. P. B. eine ganz gewöhnliche Frau war? Glauben Sie, daß die Geschichten, die über sie erzählt wurden, z. B. in Herrn Sinnetts Incidents in the Life of H. P. Blavatsky, alle wirkliche Tatsachen ihres Lebens darstellen? Nehmen Sie an, daß die dort aufgestellten Behauptungen ausreichend genug sind, um sie vollständig zu erklären? Glauben Sie das ja nicht! Die Tatsachen allein widerlegen einen solchen Glauben. Eine derartige Frau, wie sie Sinnett in seinen Incidents beschreibt, hätte niemals die Welt so verändern können, wie es H. P. B. tat. Denken Sie, dies wäre der jungen russischen Dame gelungen, die er schildert, oder der angeblichen russischen Priesterin, die Solovyoff, ihr ehemaliger Freund und späterer grimmigster Feind zu schildern suchte? Glauben Sie, daß eine Heuchlerin, eine Betrügerin, ausgestattet mit mittelmäßiger Intelligenz, fähig gewesen wäre, intellektuelle und in ethischer Hinsicht oft äußerst anspruchsvolle Menschen um sich zu versammeln? Natürlich nicht.

Betrachten Sie die Fakten in H. P. Blavatskys Leben. Lassen Sie Ihr Denken nicht durch Märchen ablenken, die man über sie erzählt hat. Bilden Sie sich selbst eine Meinung, denn aufmerksames Nachdenken ist eine der ersten Pflichten eines Theosophen. Dann ziehen Sie Ihre eigenen Schlußfolgerungen. Tatsächlich interessieren uns die über H. P. B. erzählten Geschichten lediglich insofern, als sie ein psychologisches Phänomen der Schwäche des menschlichen Denkens offenbaren. Sie beschreiben das ungenügende Fassungsvermögen jener Menschen, die versuchten, sie zu erklären. Wenn Sie denken, daß Sie den Charakter, die Konstitution von H. P. B., aus den angeblich biographischen Abhandlungen, die über sie geschrieben wurden, erschließen können, dann könnten Sie ebensogut den Versuch unternehmen, den Ozean in eine Teetasse zu gießen. Bestenfalls enthalten diese Abhandlungen gewisse Fakten, an die man sich zufälligerweise in ihrer eigenen Familie erinnerte – die diese, nebenbei bemerkt, vielleicht weniger gut verstand als ihre theosophischen Freunde – und das Ganze hat man gesammelt und in bestimmten Geschichten aufgezählt. Ist das Lesen solcher Erzählungen der Weg zu einem Verständnis dafür, was sie sie getan hat?

H. P. Blavatsky war natürlich körperlich eine Frau, das sollte man nicht vergessen. Dieser Körper mit seinem Verstandesteil wurde von der inneren göttlichen Sonne, dem inneren Buddha, dem im Inneren lebenden Christus, wie es die Mystiker unter den heutigen Christen ausdrücken, belebt und entflammt. Aber zwischen diesem göttlichen Feuer und dem aufnehmenden, mystisch-trainierten und ausgebildeten Gehirn dieser Frau existierte ein psychologischer Apparat; in westlicher Ausdrucksweise nennt man ihn gemeinhin die menschliche Seele, der in ihrem besonderen Fall – sie war eine Initiierte des Ordens der Buddhas des Mitleids und des Friedens – zu gewissen Zeiten beiseite treten konnte, um so einer menschlichen Seele, die noch viel erhabener war als die ihre, den Eintritt in diese Lücke zu gestatten.

So war sie also ein Avatāra ihrer Art. Dieser buddhische Glanz war es, der die leere Stelle ausfüllte, die sie so bereitwillig als Wirkungsfeld zur Verfügung stellte. Zum großen Teil bewirkte dieser buddhische Glanz die wundersamen Dinge, die H. P. B. vollbrachte. Sie werden sich daran erinnern, daß sie in ihren Schriften oft einen Unterschied zwischen dem machte, was sie H. P. B. nannte und dem, was sie als H. P. Blavatsky bezeichnete. H. P. Blavatsky war die Frau, der Chela, der strebende, lernende, großartige, edle und mutige Chela. H. P. B. hingegen war der Meister, der durch sie sprach. Es gab einen Körper, einen Geist, eine Wesenheit und den dazwischenliegenden Apparat, den man gemeinhin die Seele nennt, und der zeitweilig willentlich zurückgezogen werden konnte. Wenn H. P. B. als der Sendbote sprach, blieb dieser psychologische Apparat zum großen Teil vollkommen im Hintergrund. Diese Tatsache erklärt die sogenannten Gegensätzlichkeiten und Widersprüche ihres Charakters, welche die Leute, die über sie zu schreiben versuchten, natürlich bemerkten, und zwar sehr deutlich, denn man konnte es nicht übersehen. Aber sie vermochten sie nicht zu deuten, und deshalb beurteilten sie H. P. B. oft falsch und verstanden sie nicht. Wenn jedoch die heilige Flamme die leere Stelle eingenommen hatte, dann wurde H. P. B. zu dem Lehrer, dem Weisen, dem Seher, zu dem Lehrer der großen naturwissenschaftlichen Wahrheiten, welche die heutige Wissenschaft gerade als wahr zu begreifen beginnt, dann ist sie der Lehrer, der der Menschheit die große Hoffnung gibt, der Übermittler einer Vision, der Urheber und Gestalter einer neuen Philosophie-Religion-Wissenschaft für die Menschen.

Sollten wir in H. P. Blavatsky lediglich eine Russin aus guter Familie sehen? Wenn, dann war sie eine höchst außergewöhnliche Dame! Die einfache Theorie verträgt sich nicht mit den Tatsachen – sie war eine Russin, die genau genommen keinerlei Ausbildung genossen hatte, keine wissenschaftliche, keine religiöse und ebenso keine philosophische. Aber sie war in mystischen Dingen erfahren. Die wirkliche H. P. B., die lebte und lehrte, war ein Adept, und ihre Lehren waren in all diesen Bereichen menschlichen Wissens meisterhaft!

Sollen wir sie als einen inkarnierten Mahatma betrachten? Die Fakten sprechen alle dagegen, genau wie sie gegen die vorige Theorie sprechen. Wir sollten H. P. Blavatsky genauso nehmen, wie sie war und nicht so, wie man sie fälschlicherweise interpretiert. Wir sollten sie so nehmen, wie wir sie kennen. Wir sollten sie so nehmen, wie wir sie in ihren Büchern finden. Beschränken wir uns auf die Fakten, und lassen wir die Theorien beiseite, die die Menschen über sie aufgestellt haben. Wenn wir weise genug sind, werden wir sehen, werden wir verstehen, wer und was sie war.

Es gab Zeiten in ihrem gesellschaftlichen Leben, da war sie die charmante Gastgeberin, eine grande dame. Bei anderen Gelegenheiten war sie eine Pianistin von bewundernswerter und exzellenter Fertigkeit. Bei weiteren Gelegenheiten faszinierte sie die Anwesenden mit der Fähigkeit ihrer brillanten Konversation. Sie faszinierte einen ganzen Saal und hielt ihr Publikum im Bann. Gelehrte, Arbeiter, Leute der oberen Schichten, Prinzen und einfache Bauern strömten zusammen, um sie zu hören. Dann wiederum gab es Zeiten, da scharten sich bei ihr zu Hause, wenn es ruhig geworden war, ihre Schüler um sie, und sie unterwies sie in einigen der Wahrheiten aus den erhabenen Mysterien der Weisheitsreligion der Vergangenheit. Und zu wieder einer anderen Zeit saß sie an ihrem Schreibpult und schrieb und schrieb vom Morgen bis in die einbrechende Nacht, um sich dann endlich hinzulegen und, wie sie von sich sagte, für eine kleine Weile „heimzukehren“. Erst dann fand sie Ruhe!

Zu anderen Zeiten gab sie bei sich daheim Empfänge, bei denen sie mit Wissenschaftlern, Philosophen, geistig interessierten Menschen, Debattierern verschiedenster Art aus den Bereichen der Philosophie, der Wissenschaft oder der Religion zusammentraf, mit ihnen plauderte und sie in Erstaunen setzte. „Woher hat diese Frau dieses wunderbare Wissen?“ sagte man. „Wieso kann sie mir unbekannte Dinge aus meinem eigenen Beruf, die ich vorher selbst nicht gewußt habe, erzählen? Woher nimmt sie die Fähigkeit, mir klarzumachen, daß sich das so verhält?“ Sie verfügte über alle diese Aspekte und alle diese Charakterseiten, und alle sollten bedacht werden. Allein die Erklärung dieser reinen Fakten wird es uns ermöglichen, sie zu verstehen. Manchmal war sie die empfindsame und mitfühlende Frau, die Ringe, gutes Parfüm und angenehme Freunde liebte. Bei einer anderen Gelegenheit konnte sie der Lehrer sein, der Weise; wieder zu einer anderen Zeit konnte sie sich kraftvoll und männlich geben, so daß es schien, wie ihre Freunde sagten, als wenn sich ein Mann durch sie manifestieren würde – nicht irgendein Mann, sondern ein wahrhaftiger Mann.

So war sie, wie gesagt: körperlich eine Frau, eine Dame, gut geschult, aus gutem Hause, mangelhaft gebildet; im Inneren eine göttliche Flamme, die gelegentlich sozusagen von ihrem Gehirn Besitz ergriff – dann sprach sie wie eine Pythia, wie eine Prophetin, wie ein Delphisches Orakel. Und ähnlich verhielt es sich, wenn sie, wie ein Avatāra, von der heiligen Flamme eines der Großen Erhabenen erfüllt war. Dann war sie der Weise, der Seher. Dann schrieb sie ihre Bücher. Sie nahm darin das vorweg, was später erst entdeckt werden sollte und zeigte den Menschen, wie gefährlich ein Glaube ist, der mit den ethischen Regeln nicht übereinstimmt.

Lassen Sie uns daher in H. P. Blavatsky das sehen, was sie wirklich war. Und, wohlgemerkt, meine Freunde: wir, die wir H. P. B. studiert haben, sie lieben und ihr in Herz und Verstand treu sind, wir werden uns eisern vor jedem Versuch verwahren, sie anzubeten und aus ihr einen neuen Jesus zu machen. Sie wissen, was die erhabenen Großen Brüder uns gesagt haben: mehr als irgend etwas anderes ersehnen wir eine Bruderschaft unter den Menschen, eine Bruderschaft, die imstande ist, die Menschheit vor den Katastrophen zu bewahren, die durch eigenes Verschulden auf sie zukommen. Diese Katastrophen, moralische und selbst physikalische Kataklysmen, die wir bereits jetzt wahrnehmen können, werden uns mit Bestimmtheit treffen, es sei denn, die Menschen ändern ihre Denkgewohnheiten und als Folge davon ihre Handlungen und ihre Lebensführung. Wir werden uns standhaft gegen jeden Versuch, eine neue Religion einzuführen, wehren. Unsere großen Lehrer haben schon früher darauf hingewiesen, was der größte Fluch und das tödlichste Gift ist, dem sich die Menschheit gegenwärtig gegenübersieht: es ist der Glaube an einen äußeren Retter anstatt dem göttlichen Geist in unserem Inneren treu zu sein. Denn dort im Inneren liegt wirklich alle Wahrheit, alle Harmonie, alle Weisheit, alle Liebe und aller Frieden. Der innere Gott in jedem einzelnen von uns stammt aus dem innersten Herzen des Universums, und dieses Herz sind wir. Jeder einzelne von uns ist es.

H. P. B. war in der Tat ein Mysterium, aber obwohl sie das war, war sie es dennoch nicht in dem Sinne, wie dieses Wort gewöhnlich im Westen gebraucht wird. Sie war ein Mysterium im Sinne der alten Griechen, wenn sie von den alten Mysterien und den alten Mysterienschulen sprachen – sie meinten damit etwas, was verborgen ist, aber erkannt werden kann, etwas, das okkult und heilig ist, aber gleichzeitig auch erfahren werden kann.

Man kann H. P. B. verstehen. Wenn wir dies können, lieben wir sie um so mehr. Je mehr wir sie verstehen, um so tiefer wächst unsere Liebe, unsere Verehrung für sie. Möge es deshalb niemals geschehen, daß Theosophen das uns von ihr entgegengebrachte Vertrauen enttäuschen und dem Mystischen Osten, auf den sie immer zeigte, den Rücken kehren und anfangen, den Avatāra anzubeten. Erweisen wir uns des in uns gesetzten Vertrauens würdig. Wir können ihr Beispiel lieben, das sie uns an großartigem Mut und unerschütterlicher Hoffnung gab, es bewundern und versuchen, ihm nachzueifern. Wir können versuchen, dieser großen Frau ähnlich zu werden, ähnlich den vielen anderen, die wie sie, in der Vergangenheit erschienen waren oder in der Zukunft erscheinen werden, den viel größeren vielleicht, als sie es war. Aber wir sollten sie niemals auf ein hohes Podest stellen, wie es leider im Falle eines Lehrers in den frühen Jahren des Christentums geschah.

Wir können unserer geliebten H. P. B. keinen größeren Tribut zollen, als in Liebe zu ihr das Werk getreulich fortzusetzen, das sie so großartig begann.

Die Vision Buddhas des Herrn

Als zwölfjähriger Junge stieß ich auf ein buddhistisches Zitat, das meine Imagination, mein Denken und mein Herz faszinierte. Ich glaube, daß es eines der Dinge war, die mich in diesem Leben stärker zu Bewußtsein erweckten als alles andere, an das ich mich erinnere. Das Zitat ist reine Theosophie und echte buddhistische Lehre. Es lautete: Buddha, der Herr spricht, und ich fasse seine Worte etwas zusammen, um sie noch klarer zu machen: „Oh Jünger, laßt nie Entmutigung in eure Seelen eindringen! Seht ihr das Leiden in der Welt, seht ihr das Unglück, den Schmerz und die Unwissenheit, das Elend und die Sorge, die das Herz bedrücken? Jünger, allen Dingen ist es bestimmt, Buddhaschaft zu erlangen: den Steinen, den Pflanzen, den Tieren, allen Atomen, aus denen sie sich zusammensetzen, allem und jedem, Sonne und Mond und Sternen und Planeten – alles wird in zukünftigen Zeitaltern Buddha werden. Jedes wird ein Buddha werden.“

Welch wunderbares Bild! Wie es das Herz besänftigt und den Verstand beruhigt. Denn wenn ein einzelnes Atom oder ein Mensch ein Buddha wird, dann wird alles zum Buddha, denn dieses Universum ist eine Einheit, die während des Manvantara oder während der Manifestation in Vielheiten zerfiel, aber diese wurzeln in jenem Einen und leben von ihm und durch es. In ihm leben wir und bewegen wir uns und haben wir all unser Sein. Deshalb ist es all den einzelnen bestimmt, die jetzt die Vielheit bilden – Sonnen und Sterne, Planeten, Kometen, Götter, Menschen, Tiere, Pflanzen, Steine, Atome, Elemente und Welten –, eines Tages in den unberechenbaren Äonen dessen, was wir die Zukunft nennen, Buddhaschaft zu erlangen.

Als ich das las, lief ich für nahezu drei Monate in einem Taumel spiritueller Entrückung und inneren Wiedererwachens umher. Bis heute könnte ich nicht sagen, ob ich gegessen, getrunken oder geschlafen habe. Ich weiß, daß ich es getan haben muß, aber ich habe keine Erinnerung mehr daran, ich erinnere mich nur an Licht und daran, daß ich mein inneres und äußeres Sehen nach oben und innen hin erhob. Gerade dieser Gedanke öffnete die Tore, die sich geschlossen hatten, nachdem ich von den Wassern des Flusses Lethe getrunken hatte, den Wassern des Vergessens, als ich das letzte Mal starb. Die Tore öffneten sich, und das Licht kam herein und breitete sich aus.

Ich denke, daß dieses Zitat uns ein höchst wunderbares Bild vermittelt. Nehmen wir das Mineralreich: es setzt sich vollständig aus unbewußten Monaden zusammen, das heißt aus Monaden, die auf dieser Ebene unbewußt sind, jedoch durchaus nicht unbewußt in ihren eigenen Sphären. Aber was wir im Mineralreich als Monaden bezeichnen, ist sozusagen der Ausdruck der essentiellen, spirituellen Monaden, die hier unten auf dieser Ebene wirken und sich entwickeln und durch diese Gilgūlīm gehen – wie die hebräische Qabbālāh sie nennt, womit sie die niederen Hallen des Lebens und der Erfahrung meint –, diese Welten der unaufhörlichen evolutionären Reise. Dennoch ist jede (der unbewußten Monaden) essentiell ein Gott, ist jede einzelne in der Essenz ein Buddha, ein Strahl des Ādi-Buddha oder des Kosmischen Buddha. Und so ist es mit allen Dingen.

Deshalb sagte Buddha der Herr: „Jünger, wenn Leid euer Herz betrübt, wenn Schmerz und Leiden unerträglich sind, wenn ihr seht, daß andere sterben, weil sie nicht einmal ihre Grundbedürfnisse befriedigen können: Seid nicht entmutigt. Blickt in die Zukunft. Jeder einzelne aus diesen Massen wird eines Tages ein Buddha, Ādi-Buddha und deshalb ein Buddha: Steine und Pflanzen und Tiere und Menschen und Götter, Sonnen und Sterne und Kometen und alle ihre Elemente.“

Dennoch sollte diese Erkenntnis der essentiellen Göttlichkeit aller Dinge und der ihnen bestimmten, zukünftigen Buddhaschaft unsere Hände hier und jetzt keinen Augenblick lang abhalten von den Werken des liebenden und helfenden Mitleids. Denn im Hier und Jetzt liegt unsere erhabene Pflicht, alles uns Mögliche zu tun, die Leiden und Nöte der Welt zu lindern, die den Monaden auf ihrer evolutionären Reise begegnen und die für sie notwendig sind.


Verhaltensregeln

Um den Großen gleich zu werden, muß man beginnen, ihnen gleich zu werden. So einfach ist das. Möchten Sie gern ein paar Regeln haben? Ich werde sie Ihnen geben. Aber sobald der Verstand über Regeln nachdenkt, stellt er Fragen und Bedingungen und macht Einwände. Trotzdem, hier sind sie. Verhalten Sie sich im täglichen Leben so, daß Sie am Abend beim Zubettgehen die Ereignisse des soeben zu Ende gegangenen Tages betrachten und sich dabei sagen: Das habe ich richtig gemacht, das hätte ich besser machen können, und das habe ich gar nicht gut gemacht? Und nehmen Sie sich Ihre Erkenntnisse so zu Herzen, daß Sie, wenn der nächste Tag anbricht, an dem Sie vielleicht den gleichen Versuchungen ausgesetzt sind, am Ende dieses zweiten Tages beim Zubettgehen mehr in Frieden mit sich selbst sind?

Sagen Sie immer die Wahrheit, außer wenn die Mitteilung der Wahrheit anderen Schaden oder Leid bringen würde. In diesem Falle seien Sie mitleidsvoll und leiden Sie stillschweigend. Besteht, wenn Sie Ihre Wünsche erfüllen wollen – das heißt, wenn Sie etwas erlangen, bekommen oder anschaffen wollen – die Gefahr, daß Sie es nur auf Kosten anderer, durch deren Schmerz oder deren Verlust erreichen können? Oder können Sie das Gewünschte nur durch Falschheit erlangen, durch Betrug, was man auch als falsches Spiel bezeichnet? Sind Sie stark genug, diesem Schritt nach unten zu widerstehen? Es kann der erste Schritt in den Abgrund sein. Erkennen Sie, wenn Sie den ersten Schritt abwärts gemacht haben, daß nach dem nächsten Schritt der Versuch folgen wird, die Tat schamvoll zu verschweigen und zu verhüllen? Man wird dadurch nicht nur zum Betrüger, sondern auch zum Heuchler. Der dritte Schritt fällt leicht, denn wenn Entdeckung droht, versucht man die Spuren zu verwischen, indem man an die Nachsicht, an die Vergebung und an das Mitleid der anderen appelliert und vorgibt, man hätte für diesen und jenen so gehandelt, weil das Herz weh tut, nur um überhaupt etwas zu sagen.

Drei Schritte: Und haben Sie bemerkt, daß jeder Schritt eine Entstellung Ihres Charakters bedeutet, eine Mißgestaltung Ihrer Seele und der natürlichen menschlichen Impulse Ihres Herzens, daß Sie dadurch Ihrem Charakter ein unauslöschliches Zeichen eingeprägt haben, das vielleicht für Äonen vorhanden bleiben wird? Wieviel besser und einfacher ist es, nach Möglichkeit zu vermeiden, die Füße durch falsche Handlungen zu beschmutzen. Oder, wenn man dabei ertappt wird, daß man sich losreißen und um jeden Preis mit den Göttern verbinden will.

Ich könnte noch viel mehr Regeln geben. Diese Regeln sind das Einfachste in der Welt. Sie sind so wunderbar okkult, so einfach und klar, daß die Menschen die meiste Zeit nicht an ihre Wirksamkeit glauben; dennoch sind es die Regeln, die von den größten Weisen und Sehern der Welt aufgestellt worden sind: Leben Sie aufrichtig, sprechen Sie die Wahrheit, lassen Sie Ihr Leben rein und sauber sein, so daß Sie jedem Menschen ohne Scham ins Gesicht sehen können. Tun Sie anderen – ich will es in der anderen Form sagen –, fügen Sie niemandem etwas zu, was Sie selbst nicht von anderen erleiden wollen. Auf diese Weise entstehen im Laufe der Zeit die Buddhas, die heiligsten Menschen auf Erden.

Gesunder Menschenverstand zu Hause

Ich bin fest davon überzeugt, daß die sogenannten geistigen Probleme der Jugend heute nicht größer sind, als sie es jemals waren – kein bißchen größer. Sie sind auch keinesfalls anders oder verwirrender, weder für die Kinder noch für die Eltern. Der menschliche Charakter ändert sich nicht über Nacht. Der Weltkrieg, von dem man annimmt, daß er alle früheren sittlichen Grundsätze zerstört hat, erwies sich in dieser Hinsicht wie ein Dammbruch. Die Fluten fegten gewisse Hemmungen und Zurückhaltung hinweg, die zweifellos gut waren, und wir haben es noch nicht verstanden, andere Schutzmauern um unsere Familien und um unsere Jugend zu errichten. Aber unsere jungen Leute sind nicht besser und nicht schlechter als wir es waren. Sie müssen sich mit den gleichen fundamentalen Problemen des menschlichen Charakters auseinandersetzen, wie wir. Während ich dies schreibe, fühle ich mich eigentlich wie ein alt gewordener Junge. Ich glaube, daß Kinder ältere Menschen sind, die noch nicht erwachsen sind, Erwachsene, die noch nicht reif sind, und daß Erwachsene immer noch Knaben und Mädchen sind.

Ich glaube, die Eltern stellen in spiritueller Hinsicht für die Jugend eines ihrer größten Probleme dar. Ich sage damit nichts gegen die Eltern, denn sie waren selbst auch einmal jung und hatten selbst Eltern. Die heutige Jugend wird aufwachsen, ihrerseits zu Eltern werden und ebenfalls entsprechend untauglich und leider auch genauso unzulänglich sein! Wenn spirituelle Probleme die Jugend zu irgendeiner Zeit beeinträchtigen, dann ist das größtenteils der Fehler der Eltern. Ich will erklären, warum ich so denke. Die Eltern machen nicht etwas falsch, weil sie zu wenig Liebe haben. Sie begehen bei der Behandlung junger Menschen den Fehler, ihren gesunden Menschenverstand zu wenig sprechen zu lassen – einfach den gesunden Menschenverstand.

Wenn Sie bei einem anderen Menschen einen Fehler korrigieren wollen, dann können Sie das nicht dadurch tun, daß Sie ihm etwas vorpredigen und Regeln aufstellen. Die Chancen, daß er sofort widerspricht, stehen neun zu eins. Aber durch Ihr Vorbild können Sie Ihre Worte für den Verstand dieses Menschens wertvoll machen, und er wird beginnen, Sie zu bewundern und zu respektieren, weil Sie das, worüber Sie gesprochen haben, beispielhaft vorleben.

Nichts fesselt den Verstand der heranwachsenden Jugend so nachhaltig, wie ein treffendes und bemerkenswertes Vorbild, das man tagtäglich vor Augen hat. Es ersetzt jahrelanges Reden und Predigen, jahrelanges Lesen von Büchern, die man den jungen Menschen so lange unter die Nase gehalten hat, bis sie diese Bücher schließlich hassen. Wenn ein junger Mensch zu Hause beobachtet, was alles um ihn herum vorgeht, schnippische Redensarten von einem zum anderen, die kleinen selbstsüchtigen Handlungsweisen, die Lieblosigkeiten, die der Vater gegen die Mutter begeht oder umgekehrt, die kleinlichen Streitigkeiten, die kurz angebundene, gereizte Sprechweise, oder überhaupt mißmutiges Schweigen, dafür aber die Demonstration offensichtlich selbstsüchtiger Gewohnheiten, wie der Griff nach dem bequemsten Stuhl, der besseren Beleuchtung, der größeren Essensportion oder Unhöflichkeit im Umgang mit anderen – wenn ein Kind solche Dinge sieht, merkt es sie sich. Das sind die Dinge, die das Kind verletzen. Die Älteren von Ihnen brauchen sich nur in ihre Kindheit zurückzuversetzen und darüber nachzudenken, ob sie an ihren eigenen Eltern nicht Dinge beobachtet haben, die sie verletzten und ihnen wie teuflische Machenschaften erschienen; und sie fragten sich… Und doch dürften Ihre Eltern halbe Heilige gewesen sein – ich möchte damit nicht behaupten, daß Eltern schlecht sind. Keinesfalls. Aber den Eltern mangelt es an gesundem Menschenverstand. Sie fragen sich, warum ihre Kinder manchmal falsche Wege gehen. Dabei spreche ich hier von normalen Kindern. Bei einem Kind mit angeborenen Verhaltensstörungen muß man natürlich eine Spezialbehandlung anwenden.

Sie haben kein Recht auf Kinder, wenn Sie nicht in Ihrem Herzen ehrlich fühlen, daß Sie sie anständig erziehen können. Es ist ungeheuer wichtig, daß Sie von Ihrem Kind geliebt und respektiert werden. Aber nicht wegen der Geschenke, die Sie ihm gegeben haben. Allzuoft sind sie nur Bestechungen, um es vom Schreien und Lärmmachen abzuhalten. Es sollte Ihnen Liebe und Respekt für das entgegenbringen, was Sie sind.

Meiner Meinung nach, die Klügere als ich korrigieren mögen, besteht die beste Art, die meisten der sogenannten Probleme, denen sich Kinder gegenübersehen, zu lösen darin, daß wir ihnen tagtäglich Beispiele unablässiger Höflichkeit zu Hause geben. Nur das eine: unablässige Güte und Höflichkeit. Was bringt das mit sich? Es bringt als erstes Selbstkontrolle mit sich; danach Güte, das heißt Rücksichtnahme auf andere. Dies ist eine wunderbare Übung, die ein Kind versteht, bewundert und gerne sieht. Das senkt sich in den Verstand und in das Herz des Kindes. So etwas kann das Kind nicht vergessen. Wenn es in einer Familie erzogen wird, wo Nachlässigkeit und Trägheit herrschen, wo es zu Hause zwar nichts Böses, aber kleine Selbstsüchteleien gibt, die mit gelegentlichen emotionalen Ausbrüchen irgendeiner Art verbunden sind, dann wird es seinerseits, weil es stark zur Nachahmung neigt, ebenfalls nachlässig, emotional instabil, ohne Ehrgeiz, sich selbst zu verbessern, schwerfällig von Begriff und unhöflich anderen gegenüber, weil es zu bequem ist, höflich zu sein. Es ist ihm gleichgültig. In einem Heim, in dem Höflichkeit regiert, ist jeder glücklich. Das Kind erinnert sich an die Dinge, die es wahrnimmt. Es lernt daraus, denn das Beispiel ist es, das sich dem Verstand einprägt. Es wird in der Gedankenwelt des Kindes eine Gewohnheit, das Kind beginnt, darauf stolz zu sein, daß es sich anderen gegenüber höflich verhält.

Der eigentliche Ausgangspunkt des anscheinend so schwierigen Problems ist folgender: wir älteren Menschen versuchen der Jugend Dinge zu predigen, die allein dem Gehirnverstand entspringen. Wir geben ihnen Vorschriften, dieses und jenes müsse befolgt werden, und zu gleicher Zeit sehen die Kinder, daß sich ihre Eltern selbst nicht daran halten. Wie sollte jemand etwas respektieren, was ihm die ganze Zeit über gepredigt wird, wenn er bemerkt, daß die anderen den Vorschriften nicht folgen oder sie nicht praktizieren? Es ist zum Beispiel gewiß eine wunderbare Idee, wenn Eltern den Wunsch haben, ihre Kinder sollten schöne Bücher studieren, die edle Gedanken bewirken. Sie betrachten dies zweifellos als eine Trainingsmethode, wenn dem Denken des Kindes Schönheit geboten wird. Aber meine Meinung ist folgende: wenn ich Kinder hätte und sie zum Beispiel dazu bringen würde, die Bhagavad-Gītā zu lesen, oder irgendein anderes Buch, den ganzen Tag lang; oder wenn ich ihnen immer, wenn sie etwas lesen möchten, die Bhagavad-Gītā geben würde, noch bevor sie fünfzehn Jahre alt sind, dann würden sie dieses Buch hassen, ich weiß es, wie nichts sonst auf der Welt. Sie müßten erst achtzig Jahre alt werden, um die wundervolle Schönheit von Büchern dieser Art erkennen zu können. Das Kind bemerkt schnell, daß Vater und Mutter nicht ihre ganze Zeit damit verbringen, wenn sie zu Hause ein wenig Muße haben, in der Bhagavad-Gītā zu lesen. Sie bemerken vielmehr, daß diese in ihren Mußestunden andere Bücher lesen, weniger anspruchsvolle. Dies ist ein Beispiel. Sie können nicht erwarten, daß Ihr Kind etwas tut, was Sie selbst nicht tun. Sie als Eltern müssen das Vorbild abgeben. Selbstverständlich ist es richtig, vom Elternhaus Bücher fernzuhalten, die offensichtlich schlecht sind und einen unzüchtigen, obszönen oder pornographischen Inhalt haben. Es ist für Erwachsene wie für Kinder sicherlich falsch, Filme anzusehen, in denen die gleichen gemeinen Dinge oder Verhaltensregeln oder Beispiele gezeigt werden. Aber ich spreche hier weder von Dingen, die alle mißbilligen, noch möchte ich wirklich gute und erhebende Filme herabwürdigen.

Das Gemütsleben der Kinder ist für Suggestion und Vorbild außergewöhnlich empfänglich. Belehrung ist ausgezeichnet, aber sie kommt erst, nachdem das Kind die Frage: Warum? gestellt hat. Dann ist die Zeit gekommen, zu belehren und zu erklären. Ein Kind vergißt niemals ein Vorbild. Kinder sind alte Seelen in unfertigen Körpern, Seelen, die zu uns aus der Vergangenheit, aus verflossenen Zeitaltern und aus vielen früheren Leben gekommen sind. Sie besitzen einen wundervollen Instinkt, an Ihnen Dinge wahrzunehmen, die sie ebenfalls in ihr Denken und in ihr Wachstum einbauen. Sie denken wirklich nach; und im allgemeinen können sie die Dinge auch intuitiv erfassen.

Ihre Kinder zu bestechen, ist eine der größten Torheiten, die Eltern begehen können, und mit ihnen so zu reden oder umzugehen, als wären sie keine vernunftbegabte Wesen. Ich glaube, das ist völlig falsch. Ich weiß dies, weil ich selbst erlebt habe, wie Kinder in ihren Herzen Handlungen ihrer Eltern verachteten, weil diese Fügsamkeit, Zustimmung oder ein süßes Lächeln von ihnen erhalten wollten. Um welche Art von Liebe handelt es sich hier, die ein Kind seinen Eltern entgegenbringt, wenn es dafür bezahlt oder bestochen wurde? Man braucht nichts Derartiges. Das Wesensmerkmal der Jugend ist eigentlich das eines Heldenverehrers, sie liebt das Ideal, das Schöne, das sie als etwas Starkes und Großes berührt. Ich glaube, die Jugend liebt diese Dinge mehr als wir gelehrten, älteren Menschen, die diese Aufgeschlossenheit verloren haben.

Die Hälfte aller Furcht in der Welt hat ihren Ursprung im Familienleben. Die Seele des Kindes erfährt durch irgendwelche gräßliche Umstände oder Dinge eine psychische Schädigung, die es verletzt und erschreckt. Und das Gemüt wird durch die Angst verkrüppelt, verletzt und geschädigt. Es ist – ich möchte der Jugend gegenüber nicht unhöflich sein – exakt das gleiche Prinzip, mit dem man einen Hund oder ein Pferd abrichtet. Sie können einen Hund oder ein Pferd durch Mißhandlung zu einem bösartigen Tier machen. Aber wenn Sie einen Hund wie ein menschliches Wesen behandeln, zu ihm gütig, freundlich und behutsam sind, wird er anderen wie auch Ihnen gegenüber sanftmütig sein. Er wird dann wirklich bis zu einem gewissen Maße vermenschlicht. Im Prinzip unterscheiden wir uns vom Tier nur dadurch, daß wir viel weiter entwickelt sind.

Machen Sie Ihr Heim zu Zentren der Güte und Höflichkeit – die Eltern untereinander. Das ist die Hauptsache. Ich meine damit nicht nur die Manieren. Die sind nur ein Teil davon. Ich meine den wirklich instinktiven Wunsch, gütig und höflich zueinander zu sein. Machen Sie diesen Wunsch in Ihnen so stark, daß er zur Tat wird. Die Kinder fühlen, sehen und kopieren das; sie lernen bei ihrem eigenen Versuch, daß es dazu der Selbstkontrolle bedarf, und daß es notwendig ist, wenn man sich anderen gegenüber höflich verhalten möchte, das „Ich“ zu vergessen. Diese Disziplin lehrt Selbstbeherrschung, Selbstverleugnung, Selbstachtung. Wenn Kinder entdecken, daß sie durch ein solches Verhalten die Achtung anderer gewinnen, tritt instinktiv Selbstachtung hinzu. Sie fangen an zu sehen und zu fühlen, daß andere dieselben Empfindungen haben wie sie und ebenfalls Güte und Höflichkeit bewundern und achten. Und dann wächst in dem jungen Menschen das Gefühl für Kameradschaft und Brüderlichkeit.

Die alte Idee, daß ein Kind seine Eltern ehren und ihnen gehorchen sollte, ist ein wunderbares Ideal. Es ist heute für das menschliche Verhalten genauso gültig wie in der Vergangenheit. Aber die Grundlage für die elterliche Würde und Stellung sollte in der instinktiven Achtung liegen, die im Gemüt der Kinder und Jugendlichen für ihre Eltern wurzelt, weil sie sehen, wie die Eltern selbst die Ehrerbietung ehren, die Achtung achten und die Verehrung verehren.

Eine ausgeglichene und visionäre Haltung

Die Welt befindet sich wahrlich in einem traurigen und unruhigen Zustand. Dennoch halte ich es für unklug und für geistig und psychologisch schädlich, diese Tatsache zu betonen, weil nichts dadurch verbessert wird. Es schmälert vielmehr den Mut, das Leben zu meistern und es auf edlere und höhere Weise weiterzuführen. Sehen Sie das Schöne in und hinter den Dingen, sehen Sie das Schöne in Ihren Mitmenschen. Sehen Sie auch das Schädliche und Häßliche im Leben, aber lassen Sie sich davon nicht niederdrücken oder entmutigen. Es besteht kein Grund, die Ruhe, den inneren Frieden aufzugeben und sich wie ein Massenmensch von Leidenschaften treiben und von Vorurteilen beherrschen zu lassen. Eine solche Haltung würde weder uns noch den Leidenden helfen. Wir können jedoch ermutigende und hoffnungsfrohe Gedanken in die Welt hinaussenden und einen optimistischen Ausblick in die Zukunft vermitteln, da unabhängig davon, was durch die Torheit oder Niedertracht oder Treulosigkeit des Menschen seinem spirituellen inneren Gott oder der geistigen Essenz gegenüber auch geschehen mag, dennoch letzten Endes Recht und Gerechtigkeit stets über alles siegen werden. Wichtig ist nur, daß wir sicher sind, daß wir auf der Seite des Rechts und der Gerechtigkeit stehen – dabei können wir nicht immer nach dem äußeren Anschein urteilen.

Ein englischer Dichter, ich glaube es war Robert Browning, brachte diesen Gedanken, wenngleich in der theologischen Sprache seiner Zeit, mit den Worten zum Ausdruck: „Gott ist in seinem Himmel, alles ist mit der Welt in Ordnung.“ Wer diese optimistische Ansicht und Überzeugung nicht mag und sich der Hysterie und Entmutigung hingeben will, mag darüber spotten. Jeder vernünftige Mensch mit klarem Kopf und selbständigem Denken wird aber sehr wohl erkennen, daß das kosmische Recht und die kosmische Gerechtigkeit die mächtigsten Kräfte in dieser Welt sind und daß sie letztlich immer siegen werden. Es ist nicht notwendig, entmutigt zu sein. Vermeiden Sie Hysterie und vermeiden Sie auch, gleichzeitig zwei Herren zu dienen, was wir alle mehr oder weniger tun. Haben Sie Ihre eigenen Überzeugungen und bewahren Sie sie manchmal für sich allein, wenn es nicht weise erscheint, darüber mit jedem zu sprechen. Bleiben Sie aber in Ihrem Herzen rechtschaffen, voller Liebe, verabscheuen Sie Haß und treten Sie jederzeit für Gerechtigkeit und angeborenes Recht ein. Überzeugen Sie sich aber, wenn Sie dafür eintreten, daß Sie keinen äußeren Propagandaeinflüssen erliegen, sondern treten Sie nur für das ein, was Sie im eigenen Herzen als richtig und wahr erkennen.

Es wäre wirklich traurig, wenn unsere Welt nur aus dem bestünde, was wir heute um uns herum beobachten oder in bestimmten Zeitabschnitten in der Vergangenheit erlebt haben. Doch zu allen Zeiten haben das Gewissen und der Gerechtigkeitssinn der Menschheit immer wieder über alle menschlichen Gefühle und Torheiten gesiegt und zu Ausgleich und Harmonie geführt. Seien Sie nicht hoffnungslos oder entmutigt und denken Sie nicht, daß die Welt vor die Hunde geht, nur weil Ihnen das gegenwärtige Treiben nicht gefällt. Es steht Ihnen zu, diese Dinge zu mögen oder aber zu verabscheuen; prüfen Sie jedoch auch, daß Sie nicht selbst, als Individuum, den Haß in der Welt vermehren oder zu ihren Schwierigkeiten und ihrem Unglück beitragen. Das ist mein Standpunkt.

Vergebung und karmische Handlung

Denken Sie daran, was die Alten Weisen meinten, wenn sie die Menschen als Verwandte der Götter, als Kinder von Gottheiten bezeichneten, die mit den Göttern in den Angelegenheiten des solaren Reiches zusammenarbeiten. Es ist wahr; und wenn wir im Laufe der Zeit vom menschlichen in den göttlichen Zustand übergehen, wenn wir zu Göttern werden, dann werden unsere unterstützenden Bemühungen sehr viel besser, schöner, reicher und in jeder Weise großartiger werden. Gegenwärtig sind wir noch junge Götter in der Schule, junge Götter, die spielen. Unser Heim ist das Sonnensystem. Ebenso ist es auch unsere Schule und unsere Universität. Diese Erde ist gegenwärtig gewissermaßen unser Klassenzimmer, bis wir in eine höhere Klasse aufsteigen. Unser gesamtes Tun spielt sich in der Universität des Lebens ab – in unserem Sonnensystem. Was für ein wunderbares Bild! Und ich kann Ihnen versichern, daß jeder menschliche Gedanke auf ewig auf den unzerstörbaren Tafeln der Zeit registriert wird. Ein Gedanke von mir wird mit fast unmerklichem Einfluß den entferntesten Stern in der Milchstraße berühren. Und er wird diesen Stern ebensosehr beeinflussen, wie ich von allen Gedanken um mich herum beeinflußt werde.

Stellen Sie sich die zwei Milliarden Menschen auf der Erde vor – die menschliche Rasse – das heißt, den verkörperten Teil der Menschheit. Nehmen Sie an, Sie würden – wie es Menschen gerade heute tun, aufgrund der raschen Verbesserung der Kommunikation – alle ungefähr zur gleichen Zeit über dieselbe Sache in ähnlicher Weise nachdenken; nehmen Sie weiter an, es handele sich um eine Panik oder eine Kriegshysterie, um ein großes Haßgefühl oder um eine starke Emotion: glauben Sie nicht, daß dieser riesige Strom freiwerdender psychischer Energie irgend etwas bewirken würde? Natürlich würde er es! Und es ist dieser Bereich, wo Karma tätig wird. Es ist eine alte, alte Lehre, daß die Unglücksfälle, die die Menschheit treffen, hauptsächlich durch die Menschheit verursacht werden, durch ihre eigenen bösen Gedanken und Gefühle, die ein wirklich erschreckendes Volumen an Energie und Kräften in das Astrallicht oder in die Erdatmosphäre werfen. Sie kennen das alte englische Sprichwort: „Flüche kehren wie die Küken ins Nest zurück.“ Sie gehen nicht fort, um auf einem fremden Bauernhof zu übernachten. Küken kehren zurück. Liebevolle Gedanken, schöne, gütige, wohlwollende Gedanken und Gefühle: auch sie kommen wie Boten der Götter und schwingen sich auf ihrem Weg zu uns zurück. Eines Tages, irgendwann, irgendwo, werden wir ernten, was wir säen. Wenn die Menschen dieses großartige Gesetz kennen würden, wie anders würden sie dann einander behandeln! Alle Rache- und Haßgefühle und die teuflische Frucht des selbstsüchtigen Materialismus, daß man sich um jeden Preis vor seinem Bruder schützen muß: solche Dinge könnten sich dann nie wieder in den Köpfen und Herzen der Menschen festsetzen.

Wie wahr ist das Wort des alten hebräischen Propheten: „Die Rache ist mein, sagt der Herr.“ Was für eine Warnung! Die Theosophie zeigt uns, warum und wieso. Ein Mensch, dem eine Beleidigung zugefügt wird, täte grenzenlos besser daran, sie zu akzeptieren und zu vergeben und sie mannhaft zu tragen. Seine ausgleichende Belohnung wird eines Tages groß sein, was ihn verletzt hat, wird sich als Wohltat herausstellen. Wenn er sich menschlich verhält, wird er nicht nur nichts zu dem schrecklichen Gewicht üblen Karmas, das ihn bedrückt, beitragen, sondern er wird auch seinen Feind erheben. Eine solche Tat ist göttergleich. Ich sage Ihnen: „Liebe Deine Feinde.“ So sprach der Avatāra: „Tue denen Gutes, die Dich verfolgen. Gib nicht Falsches für Falsches, Haß für Haß.“ Wann werden die Menschen das lernen?

Die Welt mit Ideen erobern

Es braucht einigen Mut – und ich meine den wirklichen Mut des Sehers, den nichts einschüchtern und aufhalten kann – sich den Gedankenströmen der Welt zu widersetzen. Dieses erhabene Werk fordert wahrsten Heroismus, feinste intellektuelle Vision und tiefste spirituelle Einsicht. Diese Eigenschaften sind immer maßgebend. Manchmal verliert derjenige, der es wagt, gegen die Gedankenströme der Welt anzugehen, alles, was in der Welt am meisten gilt: sein Ansehen, sein Lebensglück, ja manchmal vielleicht sogar sein Leben. Aber sein Werk – das ist niemals vergebens.

Das hat H. P. Blavatsky getan, und das hat die Theosophische Gesellschaft seither immer getan. Es ist ein seltsames Paradoxon unseres Lebens auf dieser Erde, daß die erhabensten Dinge Opfer verlangen, und doch ist es eines der schönsten. Die Welt wird von Ideen regiert. Eine unvermeidliche Wahrheit ist jedoch auch, daß auf der Welt die niedrigen Denkweisen durch höherwertige ersetzt werden müssen. Nur eine umfassendere Denkweise kann einen engen und eingeschränkten Gedankengang überwinden und besiegen. Graecia capta Romam victricem captam subducit; das heißt: „Das besiegte Griechenland unterwirft schließlich selbst das siegreiche Rom und macht es sich untertan.“

Was anderes ist die Theosophische Bewegung, deren Lehren durch H. P. Blavatsky so wunderbar zum Ausdruck gebracht wurden, als eine Reihe, eine Sammlung großer Ideen? Diese Ideen waren nicht ihre eigenen. Sie hatte sie nicht aus den Werken verschiedener großer Denker zusammengetragen, sondern sie entstammen der göttlichen Weisheit der Welt. Sie fügte die Weisheitslehren der Menschheit zusammen, um jenen, die ein solches Bollwerk benötigen, die erhabenen Wahrheiten zu zeigen, die voller Sternenlicht sind und die den Stempel göttlicher Herkunft tragen. Nicht alle können diesen göttlichen Stempel erkennen. Wahrlich, sagen sie, das muß erst bewiesen werden! Sie müssen ihren Finger auf die Wunde legen. Millionen geht es so. Sie haben noch nicht denken gelernt.

Die einzige Möglichkeit, Ideen zu überwinden, besteht darin, sie durch bessere zu ersetzen, und das macht die Theosophie. Sie ist eine Ansammlung von göttlichen Ideen. Es sind nicht die Ideen von H. P. Blavatsky, sie war nur deren derzeitige Vermittlerin. Der alte, göttliche Weisheitsschatz auf Erden ist das Eigentum aller Menschen, aller Nationen, aller Völker und aller Zeitalter. Er wurde zu Beginn der Evolution den frühen Menschenformen dieser Erde von Wesen aus höheren Ebenen übermittelt, und diese wiederum erhielten ihn von noch höher stehenden Wesenheiten – eine ursprüngliche Offenbarung von Göttern. Das Echo dieser Offenbarung kann man in jedem Land, unter jedem Volk, in jeder Religion und in jeder Philosophie, die jemals Anhänger gewonnen hat, finden.

Als H. P. Blavatsky die Theosophie in die jetzige Welt brachte, hat sie nichts Neues gebracht. Ich möchte es nochmals sagen: sie brachte erneut die kosmische Weisheit, wie sie auf dieser Erde verstanden und von den Sehern studiert wurde. Diese kosmische Weisheit war in allen früheren Zeitaltern bekannt, die dem jetzigen vorausgingen, dieselbe sternklare Weisheit, göttlich in ihrem Ursprung – eine Wissenschaft, da sie die Fakten der Natur wiedergibt; eine Religion, da sie die Menschheit zur Göttlichkeit erhebt; eine Philosophie, da sie alle Probleme erklärt, die für die menschliche Intelligenz ein Rätsel waren.

Es war eine erstaunliche Welt, in die H. P. B. kam – und ich spreche jetzt von der westlichen Welt –, eine Welt, die kränkelte. In einer Hinsicht war die Welt sogar nicht ohne Glauben und fühlte sich dem Geist, d. h. den Lehren des Avatāra Jesus, genannt der Christus, verbunden, allerdings lediglich auf Glauben beruhend und auf die Anstrengungen von wenigen in den Kirchen. Auf der anderen Seite waren Millionen, der größte Teil der Männer und Frauen im Westen, wie gebannt – wovon? Von Tatsachen? Keinesfalls! Von Theorien, Annahmen, von Ideen, die sich eingebürgert hatten, weil sie aggressiv dargeboten wurden und einige wenige natürliche Tatsachen enthielten. Nun, die Wissenschaft jener Tage ist heute mehr oder weniger überholt. Die nachfolgende Generation von Wissenschaftlern hat ihre Vorgänger besiegt, welche die Hoffnung der Menschen in jenen Tagen zu zerstören drohten.

In eine solche Zeit kam H. P. Blavatsky und sie war nahezu allein in einer Ära, in der es als schlechtes Benehmen galt, selbst im eigenen Wohnzimmer oder gar in Gesellschaft über die Seele zu sprechen; das galt als Merkmal mangelnder Intelligenz. Allein, sie schrieb ihre Bücher und forderte damit die anerkannte Denkweise der westlichen Welt heraus, die von Fachgrößen und der sogenannten Psychologie gestützt wurde, ebenso von all dem, was damals die Menschen irreführte. Heute werden ihre Bücher von einigen der bedeutendsten Wissenschaftler unserer Zeit gelesen. Was hat sie getan? Ihr Angriff auf diese Weltpsychologie basierte hauptsächlich auf zwei Dingen: daß die Tatsachen der Natur göttlich sind; und daß die Theorien überheblicher Denker darüber keine Tatsachen der Natur, sondern menschliche Spekulationen sind. Diese sollten in Frage gestellt werden und, wenn sie gut sind, nach und nach akzeptiert, wenn sie falsch sind, verworfen werden. Sie gab das Beispiel; und andere Menschen, die die Bedeutung ihrer Arbeit erfassen, verstehen und begreifen konnten, scharten sich um sie. Einige bedeutende Wissenschaftler waren damals Mitglieder der Theosophischen Gesellschaft, auch wenn sie selten für diese tätig waren. Gelegentlich bekannten sie sich zu ihr. Aber sie nahm sie mit den Ideen, die sie äußerte, gefangen, und diese Männer verarbeiteten diese Ideen in ihren eigenen Wissensgebieten. Das war wirklich schon ein großer Erfolg.

Bedenken Sie diese titanische Aufgabe: die Wandlung der veränderlichen und schwankenden Vorstellungen einer Gemeinschaft ernsthafter, wissenschaftlicher Forscher über die Tatsachen der Natur: das Ersetzen dieser veränderlichen Ideen, die damals als Wissenschaft bezeichnet wurden – und die während zwei Jahrhunderten alles verworfen hatten, was sich in unzähligen Jahrhunderten menschlicher Erfahrung als richtig und verläßlich erwiesen hatte. Sie ersetzte sie durch Gedanken, nach denen die Menschen leben und sich, wenn sie sie befolgten, bessern konnten; Gedanken, auf deren Grundlage die Menschen voller Hoffnung und in Frieden sterben konnten. Sie rief diese Gedanken mit der Kraft ihres eigenen Intellekts in das menschliche Bewußtsein zurück, indem sie die uralten Überlieferungen der göttlichen Weisheit, die sie brachte, aussprach.

Karmische Wirkungen und Bardo

Ich frage mich, ob wir im Tagesgeschehen für einen Augenblick die äußeren Umstände vergessen und dieses Faktum wirklich fühlen und erkennen können: daß wir irgendwann, irgendwo ganz exakt für alles geradestehen müssen, was wir sind: das heißt für alles, was wir getan und gefühlt haben und was wir gewesen sind – karmische Verantwortlichkeit!

Die meisten von uns erkennen das und akzeptieren es als einen philosophischen Lehrsatz. Wir haben es jedoch nicht als eine ernsthafte Realität in unser Bewußtsein aufgenommen, die uns beständig, in jedem Augenblick, unser ganzes Leben lang, täglich entgegentritt. Wir wären sonst unendlich achtsamer, als wir es sind, nicht nur mit unseren Gefühlen und Gedanken, sondern natürlich auch in unserem Handeln. Was immer wir tun, formt nicht nur unseren Charakter, wodurch unser ganzes zukünftiges Schicksal verändert wird, sondern es beeinflußt auch andere Menschen. Und andere Menschen wirken durch diese Tatsache wieder auf uns. Aktion und Reaktion: das erste Gesetz der Natur. Das ist das ganze Karma: die Lehre der Konsequenzen, ethisch gesehen, die Lehre der Verantwortung. Was ihr säet, das werdet ihr ernten, nicht irgend etwas anderes. Es ist erschütternd mit den Menschen, die glauben, sie könnten tun, was sie wollen, weil es ihnen gerade gefällt, oder weil sie Furcht davor haben und zu feige sind, anders zu handeln, und glauben, sie könnten davonkommen! Niemals, niemals, niemals. Man muß bis zum letzten Heller dafür bezahlen.

Es ist nicht nur das, was Ihnen widerfährt. Wenn wir ein Herz haben, das jemals von der heiligen Flamme des Mitgefühls, des Mitleids, berührt wurde, dann werden wir erkennen, daß alles, was wir denken oder fühlen, eines Tages eine Auswirkung in Form einer Handlung haben wird, und diese Handlung wird andere beeinflussen, wird ihnen helfen oder sie verletzen. Und Sie sind verantwortlich, kein anderer. Und Sie werden bezahlen. Selbst wenn Sie bis ans Ende der Welt fliehen, kann Sie nichts vor den entstehenden Folgen retten.

Durch dasselbe Gesetz werden jede freundliche mitleidsvolle Tat, jeder Gedanke an andere, jeder menschliche Herzschlag ihren heiligen Widerhall nicht nur in der momentanen Dankbarkeit anderer Menschen finden, nicht nur in ihrer jetzigen, aufrichtigen und aus ganzem Herzen gegebenen Freundschaft, sondern auch in zukünftigen Leben, denn zwischen diesen anderen und uns ist eine Sympathie entstanden. Wie wundervoll ist Sympathie! Sie ist eines der Dinge unseres Lebens, die es nicht nur erträglich machen, sondern sie umhüllt unser Leben mit Herzenswärme.

Ich glaube, daß kein Mensch verantwortungsbewußter ist als dann, wenn er aus Mitleid, aus einem mitleidsvollen Drang eine Tat vollbringt, oder wenn er durch das Diktat des Mitleids, das in seinem Herzen flüstert, eine Handlung unterläßt. Ein solcher Mensch ist ein wahrer Mensch, und sein Leben ist schön. Sein Lohn wird im Bardo sein, wie die Tibeter sagen, und ihn dort empfangen. Denken Sie nie, daß Sie den Folgen Ihrer Gedanken, Gefühle und Handlungen entfliehen können. Diese Wahrheit ging im modernen Leben verloren, und die Greuel, die wir in der Welt um uns sehen oder gesehen haben oder sehen werden, hätten vielleicht nie stattgefunden oder würden vielleicht nie stattfinden, wenn der Mensch erst einmal von dieser spirituellen und natürlichen Wahrheit in der Welt überzeugt wäre: daß wir nämlich von den Gesetzen und Gewohnheiten der Natur verantwortlich gemacht werden, im Sinne einer genauen Abrechnung für alles, was wir tun; das heißt für alles, was wir denken und fühlen und was in Handlungen umgesetzt wird. Die Waagschalen der Natur können nicht getäuscht werden.

Bardo ist ein Wort, das „zwischen zwei“ bedeutet. Das heißt zwischen dem Ende des Lebens oder dem, was wir Tod nennen, und dem Beginn der nächsten Verkörperung, der Inkarnation. Es umfaßt all die verschiedenen Dinge, die zwischen dem letzten physischen Atemzug des einen Lebens und dem ersten physischen Atemzug des nächsten Lebens geschehen und alles, was dazwischen ist: die astrale Welt, Kāma-Loka und Devachan.

Die wirkliche Lehre der Tibeter über Bardo ist identisch mit unserer eigenen, weil sie aus der gleichen Quelle stammt. Aber die tibetanischen Praktiken, die mit der Lehre über den Bardo verbunden sind, sind nicht unsere eigenen. Diese Praktiken, die oft schwarze Magie sind, stammen von den ursprünglichen Bhöns, die zum Buddhismus bekehrt wurden. Es wäre jedoch unfair, diese Praktiken, wie sie heute von den Tibetern praktiziert werden, als schwarze Magie zu bezeichnen, weil das Motiv gut ist.

Wie sehen diese Praktiken aus? Wenn ein Mensch wahrscheinlich sterben wird oder am Rande des Todes steht, wird nach den Lamas gesandt. Diese kommen an das Sterbebett, setzen sich neben dem Sterbenden nieder, flüstern ihm zu und erzählen ihm, daß er großen Mut haben und nichts fürchten und sein Gemüt reinhalten soll. Dann erklären die Lamas ihm alle Dinge, die ihm begegnen werden, wenn er stirbt. Dies sind die Praktiken, die wir nicht gutheißen, weil sie die scheidende Seele beeinflussen, nicht notwendigerweise nachteilig, aber sie beeinflussen sie, weil sie eine Gedankenrichtung vorgeben, anstatt daß dem Karma des letzten Lebens erlaubt wird, ein eigenes Resultat aus den letzten Gedanken zu ziehen.

Tatsächlich gibt es in den orthodoxeren christlichen Kirchen etwas, das dieser Idee nahekommt. Der Geistliche oder der Priester kommt an das Bett des Sterbenden und spendet Trost und andere Dinge – all das beeinflußt den Geist des Sterbenden. Wenn der Sterbende verhältnismäßig einfach ist und die Dinge leicht glaubt und sein ganzes Leben lang ein Anhänger der Kirche war und an sie glaubt, entsteht daraus wahrscheinlich kein großes Übel.

Ich weise lediglich darauf hin, daß die Tibeter nicht die einzigen sind, die solche vor dem Tode auszuführenden Praktiken haben, um der Seele auf ihrem Weg zu helfen. Solche Praktiken zu unterlassen ist unendlich besser! Lassen Sie Karma, lassen Sie die Stimme der Stille sprechen. Lassen Sie die Magie des Webens von Gedanken und Gefühlen ihre stille Arbeit ungestört ausüben, erfüllt von der Struktur des Bewußtseins. Die mitleidsvolle Natur sorgt für alles, und es ist für das scheidende Bewußtsein unendlich besser, jene letzten heiligen Momente in absoluter, höchster Stille zu verbringen.

Achten Sie deshalb darauf, daß am Sterbebett kein lautes Geräusch ist, kein Weinen. Lassen Sie größtmögliche Ruhe herrschen und eine Atmosphäre des Friedens. Ein solches Verhalten ist reich an Güte und Verständnis. Wenn Ihre Zeit des Sterbens kommt, werden Sie sich daran erinnern und vielleicht dankbar sein, daß jene, die um Sie sind, Ihre letzten Minuten nicht stören.

Der Lohn des Selbstvergessens

Theosophie wirkt mit einer Magie auf uns, die bei weitem herrlicher ist, als nur die unbestrittene und wundervolle Wahrheit über unsere essentielle Göttlichkeit. Sie wandelt uns schwache und oft böse Menschen zu Göttern. Sie lehrt uns, uns selbst für andere zu vergessen – für die Welt. Sie läutert so unsere Naturen und unsere Herzen und unser Denken von Persönlichem und Begrenztem, so daß wir mit der Zeit dahin geführt werden, sogar uns selbst zu vergessen und im Universalen zu leben.

Für mich ist das der verlorene Grundton unserer modernen Zivilisation, die sich wie rasend um die Befriedigung unseres Egoismus dreht. Wenn wir in das Gedankenleben der Welt und unserer Mitmenschen Ideen, Denkprinzipien, ein sich daraus ergebendes Verhalten und Lehren religiösen, philosophischen und wissenschaftlichen Charakters und Wertes einfließen lassen, die die Menschen lehren und sie zu lernen befähigen, daß sie sich selbst vergessen und für andere leben, dann werden wir meiner Meinung nach mehr getan haben, als sie die zweifellos erhabene Wahrheit ihrer Einheit mit dem Göttlichen gelehrt zu haben – einer meiner liebsten Gedanken und Lehren. Denn selbst diese Lehre kann eine Atmosphäre von Egoismus, von spiritueller Selbstsucht, an sich haben.

Wenn unsere traurige und leidende Welt, am Rande einer Katastrophe befindlich – diese Welt als die einzelnen Männer und Frauen betrachtet –, diese eine einfache Lektion des Selbstvergessens, die Schönheit, die unermeßliche Genugtuung des Herzens und des Verstandes lernen könnte, die aus dem Selbstvergessen entstehen, aus dem Leben für andere, für die Welt, dann glaube ich ehrlich und von ganzem Herzen, daß neunundneunzig Prozent der menschlichen Schwierigkeiten gelöst wären. Dann würde Politik der Antrieb für menschliche Heldentaten sein und nicht für Selbstsucht und Zerstörung. Menschenfreundliche Werke würden in der Welt als das Edelste angesehen, weil sie von der Weisheit eines erweckten Herzens geleitet würden. Denn kein Mensch kann klarsehen, wenn er sich um die eigene Achse seines persönlichen Selbst dreht. Aber wenn die Vision universal wird, wird er verstehen, weil der ganze Umkreis in seinen Horizont, seine Reichweite und sein Blickfeld rückt.

So wundervoll die Lehren sind, die wir als individuelle Menschen in der Theosophie studieren können, und so bedeutend der Nutzen sein wird, den wir aus diesen Lehren ziehen werden – habe ich daher nicht recht, davon überzeugt zu sein, daß diese Lehren fürwahr etwas noch weitaus Höheres mit sich bringen? Nämlich daß wir unseren höchsten und erhabensten Gipfel des Erfolgs erreichen, wenn wir uns selbst vergessen. Finden wir nicht dieselbe wundervolle Wahrheit im Herzen, als Essenz und zentrale Idee, in jeder großen Religion der Vergangenheit, vorausgesetzt wir befreien sie von den dogmatischen Auswüchsen, die sich die Gehirne schwächerer Menschen ausdachten?

Bedenken Sie, daß wahre Theosophie eine Angelegenheit des Herzenslebens und des Herzenslichtes ist, wie auch eine Angelegenheit tiefgründigen, intellektuellen Verständnisses. Viele Menschen verstehen dies jedoch nicht und betrachten Theosophie lediglich als eine intellektuelle Philosophie, die nur ein Teil davon ist.

Wenn wir das in der Theosophie gelehrte, selbstlose Leben als das schönste ansehen, weil es universal und allumfassend ist, können wir dann noch ein wirklich selbstloses Leben führen, wenn wir die nächstliegenden Pflichten nicht beachten? Anders ausgedrückt: wenn ein Mensch so sehr danach verlangt, der Welt zu helfen, daß er hinauszieht und seine Pflichten vergißt, die er bereits übernommen hat, tut er dann, was menschlich ist? Lebt er das selbstlose Leben? Oder folgt er einem verborgenen, selbstsüchtigen Verlangen nach persönlichem Fortschritt? Handelt er wenigstens folgerichtig? Selbstlosigkeit bedeutet, niemals eine Pflicht zu vernachlässigen. Wenn Sie dies jedoch tun, werden Sie durch eine Überprüfung entdecken, daß Sie einem Begehren, einem selbstsüchtigen Gedanken folgen. Indem Sie jede Pflicht ganz und gar erfüllen und dabei Frieden und Weisheit erlangen, führen Sie ein Leben in größter Selbstlosigkeit.

„Die Rache ist mein“

Es gibt kein Entrinnen vor dem Naturgesetz, daß nämlich einer Ursache eine Wirkung folgt. Es gibt kein Entrinnen. Keine Gebete, keine Bitten, nichts wird die Reichweite der göttlichen Ordnung ändern: wie Sie sind und wie Ihre Werke sind, so werden die Früchte sein, die Sie hervorbringen. Und diese werden Ihre Kinder sein. Tun Sie Gutes, wird Ihnen Gutes widerfahren. Tun Sie Böses, wird die Natur den Übeltäter den gleichen disharmonischen Schwingungen und Gegenwirkungen aussetzen.

Das ist die Bedeutung der alten jüdisch-christlichen Feststellung: „Die Rache ist mein; ich werde vergelten, spricht der Herr“ – Worte, über die die Menschen seit 2 000 Jahren gesprochen und gepredigt haben, aber von deren Kraft sie nicht genügend überzeugt waren. Mit anderen Worten, sie haben Böses zu Bösem hinzugefügt, durch den Versuch, das Böse durch Böses zu beenden, was die Sache verschlimmerte. Machen Sie sich ein Bild aus den gewöhnlichen Begebenheiten des menschlichen Daseins! Rache ist kein Weg, um den Übeltäter zu bessern. Sie überzeugen ihn dadurch nur, daß er letzten Endes recht hat: er wird seine Rache nehmen, und Sie versuchen dann Ihrerseits, sich an ihm zu rächen. Gewiß, Sie können ihn einsperren. Aber Sie können Böses nicht durch Böses beenden. Sie können nicht Furcht mit Furcht und Haß mit Haß bekämpfen. Törichte Menschen haben das, weiß der Himmel, seit vielen Tausenden von Jahren versucht. Haben sie je einen Erfolg erzielt? Der Zustand der Welt ist die Antwort.

Selbst unsere üblichen menschlichen Gesetze der zivilisierten Gesellschaft erlauben es keinem Menschen, das Gesetz in die eigene Hand zu nehmen und Vergeltung zu üben. Die Menschen erkennen, wie unsinnig das ist, weil mehr Unheil als Gutes daraus entsteht. Die allgemein gebräuchlichen Gesetze, welche die menschliche Gesellschaft leiten, enthalten mehr gute, vernünftige Weisheit, als von den Nationen oder den einzelnen Menschen untereinander angewandt wird. Das Gesetz würde es Ihnen auch nicht gestatten, aus Rache Selbstjustiz an einem Menschen zu üben, der Ihnen Schaden zugefügt hat; und das aus gutem Grund, weil das Prinzip dieses Gesetzes auf einer tiefgründigen Weisheitslehre beruht. Die Natur würde es nicht dulden.

Die Menschen haben vergessen, daß sie das, was sie säen, auch ernten werden – nichts anderes. Bedenken Sie, was das bedeutet. Ganz gleich, wie dunkel der Tag auch sein mag, ganz gleich, wie verzweifelt die Lage auch ist, der Übeltäter und der Wohltäter erhalten zur rechten Zeit ihren Lohn, genau im Verhältnis zu dem Guten oder dem Bösen, das sie getan haben. Die Menschen vergessen, daß sie keine Haßgedanken hegen können, ohne ihren eigenen Charakter dadurch zu entstellen, und das bedeutet, ihn zu schwächen, ihn weniger stark, weniger strahlend, weniger intuitiv, weniger feinsinnig zu machen. Es erfordert Stärke, ein guter Mensch zu sein und dem Gesetz zu folgen, und das ist eine Stärke, die immer mächtiger wird, je mehr man sie anwendet.

Sehen Sie doch, was die menschliche Gesellschaft macht. Sie schützt sich selbst. Je zivilisierter die menschliche Gesellschaft ist, desto humaner sind die Maßnahmen gegen das Böse. Ist die Gesellschaft weniger zivilisiert, sind die Strafmaßnahmen, denen der Übeltäter unterworfen wird, dementsprechend grausamer, härter und ungerechter. Aber nicht für immer. Weshalb? Weil die Menschen im Grunde anständig sind. Ich fand Anstand auch im Herzen und Denken eines Verbrechers – er hatte einen äußerst schlechten Ruf. Selbst dieser Mensch wußte, was Anständigkeit ist, aber er war psychologisch von der Idee beeinflußt, es sei für ihn ganz zwecklos, es nochmals zu versuchen, weil gleichgültig, wie sehr er sich bemühen würde, doch alle Anzeichen gegen ihn sprächen. Sein Leben würde doch nur eine einzige Hölle sein.

Was man sät, das wird man ernten, und was man jetzt erntet, das hat man in der Vergangenheit gesät. Das ist genau das, was die Welt jetzt erlebt: die Ernte ihrer früheren Saat. Es dauert nicht an, es währt nicht ewig, es ist nur vorübergehend. Was wir die eisernen Zeiten der Prüfungen und Leiden nennen, wird wieder von milderen und freundlicheren Zeiten abgelöst, bis die Menschen erneut der Schönheit und der Harmonie überdrüssig werden und mit wahrer Begabung böse Taten und Ränke ersinnen. Dann kommt ein neues finsteres Zeitalter heran, ein neues Zeitalter des Schreckens, in dem die Menschen soviel wie möglich besitzen möchten und glauben, sie könnten es ohne Bezahlung erlangen. Sie können es nicht.

Das ist ein schönes, altes Sprichwort: die Strafe – nein, nicht die Rache; wir können das verstehen als die Wiederherstellung des Gleichgewichts, der Gerechtigkeit, der Harmonie im Universum – die Strafe ist mein. Kein vernünftiger Mensch zweifelt daran. Wir alle wissen, daß die Natur, wenn wir uns selbst mißtrauen, Vergeltung fordern wird. Wenn wir unseren Körper, einen Teil von uns, mißbrauchen, wenn auch nur durch kleine Nachgiebigkeiten wie durch alltägliche schlechte Handlungen, wird es nicht lange dauern, bis die Natur Vergeltung verlangt. Wir erleiden dann Schmerzen oder möglicherweise eine Krankheit. Auch für alle anderen Störungen des Naturgesetzes und der Harmonie müssen wir bezahlen.

Das ist die bedeutendste Lehre, die der menschliche Genius jemals aus dem Schoß der kosmischen Wahrheit barg: Es gibt kein Entkommen. Und sehen Sie, welche wunderbare Verhaltensregel dies für das menschliche Leben ist. Sie können nie davon loskommen, selbst wenn Sie es versuchen würden. Es gibt kein Entrinnen. Sie zahlen bis zum letzten Heller. Danach kommt eine neue Gelegenheit für Sie. Sie haben Ihre Schuld beglichen. Das ist die Lehre von Karma, und manche Menschen, die Karma nicht verstehen, glauben, es sei grausam und unfreundlich, daß die Natur ihre Gesetze hat und einen gerechten Ausgleich für die Verletzung dieser Gesetze zum Schutz der kosmischen Harmonie fordert. Aber bedenken Sie, was sonst uns zum Gehorsam bringen könnte, wenn es nicht so wäre. Die menschlichen Wesen und die Götter hätten keinen Schutz. Es gäbe weder Gesetz noch Ordnung. Die Wiederherstellung der Harmonie ist die größte und wundervollste Tätigkeit der Natur. Es ist der große Gedanke des Schutzes des Guten, das große Prinzip der Erhaltung des Guten und die Warnung an den Übeltäter.

Fassen Sie Mut. Begegnen Sie allem, was kommt, wie ein Mensch der Tat. Wenn Sie in der Vergangenheit fehlgegangen sind, werden Sie Ihre Schuld begleichen und dann frei sein, mit einem sauberen, unbeschriebenen Blatt, um Ihr neues Schicksal darauf zu schreiben. Die babylonische Warnung wird nicht länger an der Wand stehen. Die Natur sagt jedoch: „Ja, Kind, es ist gut. Ein neuer Pfad öffnet sich vor dir, eine neue Gelegenheit. Jetzt bist Du frei. Du hast deine Schuld getilgt. Du bist aus dem Gefängnis früherer Verhältnisse befreit.“

Es scheint mir, daß nichts so tröstend und so schön ist, als darüber nachzudenken, daß die Natur um uns – womit ich nicht nur die physische Natur meine, sondern den göttlichen Schoß des Seins, aus dem wir alle im Anbeginn der Zeit gekommen sind – immer noch unsere Mutter, Vater-Mutter ist, daß wir Kinder der kosmischen Harmonie sind, und daß in dieser Harmonie ein grenzenloser Frieden und unendliches Glück für unser tägliches Leben liegen und ein Verhaltenskodex, der uns nie im Stich lassen wird. Tun Sie Gutes, und Gutes wird zu Ihnen zurückkehren. Säen Sie Frieden, und Frieden wird zu Ihnen kommen. Spenden Sie anderen ein wenig von der Freude, die in Ihrem eigenen Herzen ist; dann wird Freude zu Ihrem Herzen zurückkehren, und in schwierigen Zeiten wird die Freude Frieden bringen. Säen Sie Böses in der Welt, und dieses Böse wird Sie eines Tages einschließen, gleich den sich ausbreitenden Kreisen des Schicksals, und dann wird es völlig zwecklos sein, zu den Göttern zu jammern oder zu sagen: „Warum ist dies über mich gekommen?“ Sie begleichen Ihre Schuld. Es ist schmerzlich, aber sobald die Schuld getilgt ist, sind Sie frei. Ist das nicht eine tröstliche, gesunde, vernünftige und in jeder Weise segenbringende Lehre?

Das menschliche Bewußtsein

Eines der interessantesten Dinge der menschlichen Konstitution bezeichnen wir als Bewußtsein, und es ist ein eigenartiger Widerspruch, daß gerade über das Bewußtsein am wenigsten bekannt ist. Jeder spricht davon, jeder sagt Bewußtsein, Bewußtsein, Bewußtsein; aber wenn man jemanden fragt, was er damit meint, beginnt er zu stottern. Sollen wir es als Wahrnehmung bezeichnen? Nun, das ist eine der Funktionen des Bewußtseins. Wir können lediglich sagen, daß es da ist, und wir alle wissen, was es ist. Es muß nicht beschrieben werden. Sobald man es zu definieren versucht, entsteht ein Wortgewirr und man verliert tatsächlich jede Einsicht, jedes Gefühl dafür, was es eigentlich ist. Das Bewußtsein geht sozusagen aus dem zentralen Bewußtsein in das niedere, eingeengte sprachliche Bewußtsein über. Wir alle kennen Menschen, die bei dem Versuch, sich auszudrücken, die Worte so durcheinanderbringen, daß sie tatsächlich vergessen, worüber sie sprechen, weil sich ihr Bewußtsein einfach nicht in Details und Worte einfügt. Sie haben die Hauptsache aus den Augen verloren.

Das menschliche Bewußtsein ist einheitlich und ganzheitlich, d. h. es gibt nicht zwei, drei oder mehr Bewußtseinsarten in der menschlichen Konstitution. Es ist vielmehr ein einheitliches Bewußtsein, das aus dem Geistigen in uns, dem göttlichen Zentrum, in dem die Wahrheit in Fülle wohnt, bis in unseren Gehirn-Verstand herunterreicht oder bis in unser normales Tagesbewußtsein; und dieses menschliche Zentrum in uns kann diesen himmlischen Besucher nicht vollständig übermitteln, weil dieser menschliche Teil in uns dicht und schwer von den Schichten des niedrigen Bewußtseins verschleiert ist. Unsere Gedanken, Gefühle und Emotionen wallen vor uns auf wie eine starke Gewitterwolke vor der Sonne. Hinter der Wolke ist jedoch das eine Sonnenlicht. Genauso ist es mit dem Bewußtsein.

Theosophische Seher verschiedener Religionen und Philosophien haben das menschliche Bewußtsein zum besseren Verständnis seit vielen Zeitaltern in vier Stufen eingeteilt: Jāgrat, der Wachzustand, Svapna, der Schlafzustand, Sushupti, der vollkommen traumlose Schlafzustand, der Zustand des Todes für die meisten Menschen und Turīya, der göttliche Zustand, von dem uns die Gottmenschen und die großen Seher und Weisen berichtet haben, weil diese ihn in gewissem Ausmaß erleben. Aber alle Zustände sind dennoch ein Bewußtsein. Jāgrat ist der Zustand, in dem wir hier jetzt alle sind – außer es schläft einer unserer Zuhörer, und wenn er das tut, dann befindet er sich im Svapna-Zustand, im Schlafzustand, in dem er mehr oder weniger träumt. Manchmal sind die Menschen halb im Traum, während sie im Jāgrat-Zustand sind. Wir nennen das Tagtraum. Ich meine damit nicht das schöpferische Erträumen von Ideen, ich meine das träge Dahindämmern, bei dem die Gedanken umherschweifen. Es ist ein Teil-Svapna im Jāgrat-Zustand. Dann folgt Sushupti, der traumloser Schlaf ist. Es ist der Zustand der meisten menschlichen Seelen nach dem Tod: ein vollkommen lieblicher, traumloser Bewußtseinszustand, in dem tausend Tage wie ein Tag sind und die Zeit nicht existiert, weil sich das Bewußtsein nicht in diesen niederen Ebenen der Zeit befindet, die mit Zeitmessern, Armbanduhren und Bewegungen von Himmelskörpern gemessen werden. Das Bewußtsein ist dort nicht im Zeitstadium. Der höchste Zustand dieses selben einheitlichen Bewußtseins also, der Ursprung unseres Bewußtseins, wird Turiya genannt. Die Buddhisten nennen ihn Nirvana. Die Hindus nennen ihn Mukti oder Moksha. Wir gebrauchen diese Ausdrücke ebenfalls, weil sie so absolut anschaulich sind. Es ist das reine Bewußtsein des menschlichen Geistes, ein Strahl aus dem Göttlichen oder ein Funke aus dem Göttlichen.

Hier ist die Folgerung, die Moral, die sich aus diesen Tatsachen ableiten läßt. Wir alle haben diesen einen Bewußtseinszustand, der sich für die meisten von uns in drei Zuständen manifestiert: physischer Wachzustand, Schlaf mit Träumen, traumloser Schlaf oder Todeszustand für die meisten Menschen, bis sie sich wiederverkörpern. Wissen Sie, was das bedeutet? Es bedeutet, daß wir Menschen uns dessen, was in uns ist, und was wir tun können, nicht klar bewußt sind. Hier liegt der Schlüssel zu den Mysterien der Einweihung. Lernen Sie zuerst, voll wach zu sein, im Jāgrat-Zustand, in dem wir jetzt sind – physisches Erwachen. Lernen Sie, völlig wach zu sein. Lernen Sie als nächstes, diesen Zustand der Selbst- Bewußtheit beizubehalten, wenn Sie schlafen, so daß Sie im Schlaf ebenso bewußt sind wie Sie es während des Wachzustandes sind oder zu sein glauben. Und drittens der höchste Schritt: lernen Sie, nach dem Tode bewußt wach zu sein. Denn es ist ein Bewußtsein, das in allen drei Zuständen wirkt, und jeder von uns besitzt es, und jeder von uns unterliegt diesen drei Bedingungen oder Zuständen dieses einen, einheitlichen Bewußtseins.

Bedenken Sie, was das für unseren zukünftigen evolutionären Fortschritt bedeutet. Warum sollen wir nicht jetzt beginnen? Ich erinnere mich an eine Geschichte, die über die Gründerin der Theosophischen Gesellschaft, H. P. Blavatsky, berichtet wurde. Einer ihrer Schüler kam eines Tages zu ihr und sagte: „H. P. B., Sie wissen, ich bin schrecklich müde, ich habe den ganzen Tag über gearbeitet.“ – „Das tut mir leid“, sagte H. P. B., „Sie sollten lieber gehen und sich ausruhen. Nebenbei, schlafen Sie wirklich, während Sie schlafen? Nun, dann machen Sie es besser als ich. Ich arbeite, während ich schlafe.“ Sie hatte jenen Punkt erreicht, wo sie ihr Wahrnehmungsvermögen bewußt beibehalten konnte, während andere Menschen schliefen. Mit anderen Worten, sie konnte selbstbewußt bleiben, während die meisten anderen Leute schlafen.

Die dritte Stufe ist, wie ich schon sagte, nach dem Tode bewußt zu bleiben. Wenn man diese Stufe erreicht hat, ist die nächste der Zustand der Gottmenschen, oder der Menschengötter, von denen die Menschheit wußte: die Buddhas und Christusse, Menschen wie Śankarāchārya, Tsong-kha-pa und Apollonius. Wer diesen Zustand erreicht, ist die ganze Zeit über bewußt, im Wachen, im Schlaf, nach dem Tod und bis er zurückkehrt, denn er hat sich selbst gefunden.

Haben Sie sich nie gefragt, wie es kommt, daß Sie nach traumlosem oder von Träumen erfülltem Schlaf wieder als derselbe Mensch erwachen? Das ist eine so allgemeine, so gewöhnliche Erfahrung, daß es dem durchschnittlichen Menschen gar nicht auffällt, daß er nicht völlig aufmerksam, völlig bewußt ist. Das Genie sieht das und erkennt, daß diese überaus allgemeine Erscheinung gerade zu jenen zählt, die von der Wissenschaft nie erklärt wurden. Und trotzdem ist die Erklärung ständig vorhanden. Wir kehren wieder, weil wir nie fortgegangen sind. Wir werden uns wieder unserer selbst bewußt, weil wir nie etwas anderes waren. Das Bewußtsein ist eine Kontinuität. Wir haben es uns nicht beigebracht, bewußt wach zu sein, während wir schlafen, bewußt wach zu sein, wenn wir sterben. Die Kraft dazu liegt jedoch in uns. Wir brauchen sie nur aufzugreifen. Sie erinnern sich, daß Pythagoras jene Menschen, die das Leben und den Tod verschlafen, als „lebendig Tote“ bezeichnete. Wie lange wird das für Sie Gültigkeit haben?

Theosophen und Gebet

Beten Sie nicht zu den Göttern; wenn diese es hören, dürfen sie nicht handeln. Denn die Götter unterliegen selbst den Grenzen des kosmischen Gesetzes, das sie nicht abwandeln können. Unsere Gebete entspringen unserer Unwissenheit und Schwäche: Unwissenheit über unsere dringendsten Bedürfnisse und Schwäche, weil wir wünschen, daß andere Dinge für uns tun sollen, weil uns der Mut oder der Wille fehlt, damit zu beginnen, es selbst zu tun.

Ich bedauere jene armen Herzen, die in ihrer Einfalt denken, daß durch Gebete an einen allmächtigen Gott ihre Gebete beantwortet würden. Wir müssen darüber nachdenken! Aus welchem Grund beten so viele Menschen gern? Sie wissen wirklich aus Erfahrung, daß ihre Gebete unbeantwortet bleiben. Sie beten aus folgendem Grund: weil es Frieden bringt, weil es das Gefühl vermittelt, daß sie ihre Last einem anderen aufbürden und auch, weil es das unauslöschliche Gefühl des menschlichen Herzens stärkt, daß es geistige Kräfte von gewaltiger – wie soll ich sagen – gleichbleibend gewaltiger Aktivität in der Welt gibt, und daß wir, indem wir an diese Wesen denken, mit ihnen in Berührung kommen.

Ja, so ist es! Und wenn jedes Gebet nur ein Streben wäre, enger mit diesen spirituellen Kräften in Berührung zu kommen, dann wäre es wunderbar. Aber man kann es noch anders betrachten: zwei Armeen stoßen aufeinander, um sich gegenseitig abzuschlachten und zu vernichten. Jede Seite sendet Bitten an den allmächtigen Gott für den Sieg der eigenen Armee. Schreckliche Gotteslästerung liegt darin und äußerster Mangel an Verständnis über den göttlichen Charakter der Regierung des Universums.

An Gebete, die eine Bitte beinhalten, glauben die Theosophen nicht: an die Bitten an den allmächtigen Gott um physische und andere Wohltaten, die der Bittsteller entweder aus Trägheit oder aus Gleichgültigkeit seinen Pflichten gegenüber nicht selbst zustandezubringen bemüht ist. Solche Gebete sind oft absolut unmoralisch, ob sie im Verborgenen oder öffentlich zum Ausdruck gebracht werden, z. B. wenn jemand den allmächtigen Gott um egoistische Vorteile seinen Mitmenschen gegenüber bittet.

Doch wie sehr sehnt sich das menschliche Herz nach Mitleid, nach Sympathie, nach Schönheit und nach dem verständnisvollen Händedruck eines anderen. Und wir erkennen aus unseren Studien und unseren Intuitionen ganz klar die lebendige Realität großer geistiger Mächte im Universum, die uns ständig umgeben und unsere unendlich getreuen Verbündeten und Helfer sind, wenn wir danach streben, uns selbst geistig und intellektuell zu ihnen zu erheben. So haben wir Menschen etwas viel Schöneres und Edleres als Gebete an Gottheiten, die uns nicht hören, etwas, das unseren Herzen und Seelen unvergleichlich näher ist, etwas wunderbar Schönes, Vornehmes, Mitleidvolles, immer hörend, immer helfend: die Bruderschaft des Mitleids und der Weisheit. Diese Bruderschaft erstreckt sich von uns Menschen in einer ungebrochenen Kette aufwärts über die Chelas und die Meister und weiter zu den höchsten Höhen der ätherischen Räume. Ich weiß nicht, wie hoch die Hierarchie reicht, bestimmt so hoch wie die höchsten Gipfel unserer eigenen Galaxie. Und diese Treppe entlang steigt der Chela, der Schüler, empor, hinauf und immer weiter hinauf. Und wunderbarer Erzählung okkulter Sinn: ungeheuer schnell, am schnellsten klettert jener, dessen Hand des Mitleids nach rückwärts gestreckt ist, um denen zu helfen, die nach ihm kommen. Ist das nicht ein seltsames Wunder?

Es sind die Helfer der Menschheit, die Meister und ihre Chelas und jene über den Meistern, die uns ständig die Hilfe ihrer immer mitleidsvollen Herzen, ihre Stärke, so wunderbar sie ist, ohne Lohn zu fordern anbieten. Sie sind in ihrem Geben sehr weise, denn die Hilfe, die sie geben, ist selten bekannt. „Lasse Deine linke Hand nicht wissen, was Deine rechte tut.“ Ich könnte einige Dinge erzählen, die die Helfer für die Menschen tun, unsichtbar, unbekannt, selbst für die Empfänger ihrer Wohltätigkeit und Fürsorge: Leben, auf vielerlei Weise gerettet, Unglücksfälle, auf vielerlei Art verhindert. Jene Unglücksfälle, die nicht verhindert werden können, weil sie vom eigenen Egoismus und Übeltun des Menschen geschaffen wurden, abgemildert, so daß ihre Stärke und Härte den Menschen weniger verletzen. Dinge wie diese werden ständig getan, und wir Menschen wissen wenig oder gar nichts darüber. Wir sehen lediglich die Ergebnisse. Darum wird diese Hierarchie des Mitleids der Schutzwall um die Menschheit genannt.

Der Selbstsüchtige und Faule, der keine Anstrengung zur Erneuerung des eigenen Lebens macht, steigt nicht die Treppe hinauf, die zur Hierarchie des Mitleids führt. Paradoxerweise geben in der Regel die am wenigsten, die das meiste erbitten. Welche Gabe ist größer als das Herz eines Menschen, als er selbst? Zeigen Sie mir etwas Edleres, etwas Geeigneteres, etwas, das schneller Ergebnisse bringt. Wissen Sie, was heute mit der Welt vorgeht? Die Menschen sind wegen ihrer eigenen Schwäche verwirrt. Sie haben nicht die Willenskraft, auch nur eine Woche oder einen Monat und noch weniger ein Jahr lang, einen einzigen Pfad zu verfolgen. Ihr Wille schläft, ihr Geist ist geschwächt mangels Übung, und sie sind von äußerer Hilfe abhängig. Der Geist in ihnen hat keine Gelegenheit, seine Flügel auszubreiten und sich emporzuschwingen.

Die Behauptung, daß Theosophen nicht an Gebete glauben, ist ein Mißverständnis der theosophischen Einstellung. Aber die meisten Gebete sind unglücklicherweise versteckte oder offene Bitten, und solche Gebete schwächen den Charakter. Wenn ich der christliche, allmächtige Gott wäre, würde ich zu dem sagen, der so betet: „Sohn, die Wahrheit ist in Deinem eigenen Herzen eingeschlossen. Du bist belehrt worden. Erhebe Dich und sei!“ Das schönste Gebet ist Streben, das in die Tat umgesetzt wird. Das ist dann der wirkliche Mann, die wirkliche Frau. Kein Theosoph hat je gegen das Gebet gesprochen, wenn es auf innerem Streben und auf dem Willen beruht, sich in geistigen Dingen zu erneuern und diese innere Haltung der Seele in positive Handlungsweisen auf der Welt umzuwandeln. Wo es dieses Gebet-in-der-Tat gibt, vollzieht sich das ganze Leben nach dem Gebet des Avatāra Jesus: „Nicht mein Wille, sondern Dein Wille geschehe!“


Stärke und Ausgewogenheit im Okkultismus

Die heiligen Mysterien werden niemals veröffentlicht – niemals. Wir Menschen müssen sie erwerben und uns entsprechend vorbereiten. Es ist offensichtlich, daß, wenn wir nicht reif sind, sie zu empfangen, sie niemals zu uns kommen werden. Jeder andere Versuch wäre ein Frevel. Ein Mann oder eine Frau kann sehr leicht den Verlust der Seele erleiden, wenn sie irgendeiner anderen okkulten Schulung als der der Meister folgen, die selbst unterwiesen wurden von den Dhyāni-Chohans, den strahlenden, gesegneten Göttern. Ich meine es ganz ernst. Wer die Wahrheit erlangen will, muß selbst zum Tempel kommen, und er muß im rechten Geist kommen; er muß daran arbeiten, daß er sich selbst schult, um reif zu werden, zu lernen und empfänglich zu werden. Anders kann er die Wahrheit eben nicht erlangen. Er würde es nicht begreifen. Er kann sie nicht verstehen, bevor er nicht einen Platz hat, um sie dort unterzubringen – um es in ganz einfachen Worten auszudrücken. Wenn der Verstand der Wahrheit gegenübersteht wie eine verschlossene Tür, öffnet er sich nicht, um zu empfangen. Zuerst muß sich der Mensch schulen. Wenn er sich jedoch schult und „das Leben lebt“, gibt es absolut kein Hindernis, das ihn auf Dauer davon abhalten kann, vorwärts zu schreiten. Das gleicht einem heranwachsenden Kind. Es kann nicht einmal die Weisheit dieser Welt erfassen, ehe sein Verstand sich bis zu dem Punkt entwickelt hat, wo es sie aufnehmen und festhalten kann, ehe es nicht dazu ausgebildet worden ist. Genauso ist es mit dem Okkultismus, mit der esoterischen Philosophie oder mit den Mysterien. Die größeren und die kleineren Mysterien sind wirklich in der theosophischen Bewegung enthalten. Jeder kann an ihnen teilhaben, aber er muß sich darauf vorbereiten, sich schulen, muß mit äußerstem Ernst dabei sein. Dann kann er sie erlangen.

Die oberste und grundlegende Regel dieser Schulung oder Disziplin besteht darin, sich für den inneren, höheren Teil seiner Konstitution empfindsam zu machen, deren aufrichtige Einflüsterungen kosmischer Realitäten keinen Einlaß in ein Gemüt finden, das absichtlich oder unwissentlich dagegen verschlossen ist. Das ist die gesamte, oder wenigstens der wesentliche Teil der Richtschnur der okkulten Lehren und des okkulten Lernens in einem einzigen Satz, und gleichzeitig ist es auch der Grund für all die Schutzmauern, die um sie herum errichtet wurden. Ich kannte selbst unglückliche Studierende der Theosophie, die buchstäblich verrückt waren, zumindest vorübergehend, aber nichtsdestoweniger verwirrt waren durch unkluges und führungsloses Studieren einiger der geheimen Lehren. Es ist erschütternd. Das Ergreifende liegt in ihrer Sehnsucht, sich zu vervollkommnen und größer als ihr niederes Selbst zu werden. Das Tragische beruht aber auch auf der Tatsache, daß sie versuchten, die Gipfel zu erstürmen, ehe sie sich darauf vorbereitet hatten, das Vorgebirge der Tugenden, des Studiums und der Selbstkontrolle zu durchqueren. Das ist eine der Gefahren, die die Meister und H. P. Blavatsky beachtet haben, und der sie entgegentreten mußten. Es ist eine äußerst schwierige Situation. Ich kannte Menschen, die nahe daran waren, gesundheitlichen Schaden zu nehmen, weil sie ausschließlich ein übertriebenes Studium auf der Basis des Gehirns betrieben, ohne die heilende, schützende Kraft der selbstlosen Hingabe, was in einer Weise höchst eindrucksvoll ist. Einerseits ist die Stärke ihres Verlangens nach Wahrheit bewundernswert und ihr Mut herzerwärmend; aber sie üben das Studium in unvernünftiger Weise aus. Aus diesem Grunde bestehen wir auf gleichmäßigem, ausgewogenem Wachstum, auf einem weisen und wohlgestalteten Wachstum in Wissen und Weisheit. Aus einem unklugen Studium okkulter Dinge entstehen nur entstellte Ansichten und mentale und psychische Mißbildungen.

In unserer T. G. wird daher das Innere, das Geheime, das Okkulte und Esoterische sehr sorgfältig beschützt, überwacht und niemals der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die Meister wollen nicht, daß ihre Schüler Risiken ausgesetzt werden, bei denen sie ihre Seele, ihren Verstand oder sogar ihr physisches Wohlbefinden verlieren oder eine andere menschliche Tragödie erleiden können. Wie übrigens schon erklärt wurde: erinnern Sie sich, wie schön und einfach die Regeln des Okkultismus sind? In den tieferen und okkulteren Studien gibt es nichts, was je Ihren Familienpflichten zuwiderlaufen würde. Das kann nie der Fall sein, denn diese Verpflichtungen sind eben Pflichten, und ein Theosoph hat an erster Stelle jede seiner Pflichten voll und ganz zu erfüllen. Wer auch nur eine einzige Pflicht vernachlässigt, ganz gleich, welchen Anfechtungen er unterliegt, ist kein Okkultist. Selbst wenn er nach der Sonne zu greifen versucht, ist er ein Feigling, wenn er einer Pflicht aus dem Wege geht. Ein Feigling und ein Schwächling kann kein Okkultist sein. Man darf niemals einem anderen gegenüber ungerecht handeln. Wenn man das tut, beginnt man abwärtszugehen und könnte auf den Weg der schwarzen Magie geraten. Aber es gibt einen Weg und eine Möglichkeit, dies zu vermeiden und auf den schmalen und wundervollen Pfad zurückzukehren. Denn er ist ein wahrhaft erhabener Pfad. Durch ihn erhalten wir das Verständnis dafür, daß wir mit den Göttern verwandt sind, und daß sie unter uns gegenwärtig sind. Ich meine es ernst: die Götter weilen selbst jetzt noch auf der Erde. Doch es gibt nur wenige Söhne der Menschen, die sich dazu geschult haben, sie zu erkennen.

Die Götter werden sich mit uns verbünden, selbst-bewußt für uns wahrnehmbar, wenn wir zunächst erfahren haben, daß es sie gibt; und dann, daß ihre Ähnlichkeit mit uns für beide Seiten wünschenswert ist. Wie auch immer, das reicht aus für den Hauptgedanken, den wir festhalten wollen, daß die Götter sogar heute unter uns weilen, wie in weit zurückliegenden Zeiten, als die Menschheit noch kindlich war, als sie noch unschuldig und nicht so anspruchsvoll war zu glauben, alles Wissen des Universums in ihrem armen kleinen Kopf zu besitzen.

Wir wollen daher würdig sein und unsere Leben so attraktiv und interessant für die Götter gestalten, daß sie ihrerseits froh und glücklich sind, sich mit uns, selbstbewußt, zu verbinden. Es gibt auf Erden einen geographischen Ort, wo es für die höchsten Menschen, die die Rasse hervorgebracht hat, üblich ist, mit den Göttern gesellig, frei und freundschaftlich zu verkehren. Zwischen den Göttern und diesen Menschen existieren jedoch dieselben Beziehungen wie zwischen den Lehrern und Schülern in unseren Schulen. Vielleicht verstehen Sie, was das bedeutet.

Und im Herzen – wie im Omphalos, im Zentrum oder Mittelpunkt eines Tempels – am allerheiligsten Platz dort, dem sanctum sanctorum, befindet sich ein unsichtbares Wesen, das höchste spirituelle Wesen dieser Erde. Machen Sie daraus, was Sie können.

Furcht, die große Zerstörerin

Die große Zerstörerin ist Furcht, Angst, die Besorgnis, was mir passieren oder zustoßen könnte. Furcht zerstört, weil sie auf Egoismus beruht. Überlegen Sie, wie wahr dies ist. Wenn ein Mensch sich selbst völlig vergißt, schwindet die Furcht, weil er nicht mehr weiter darüber nachdenkt, wie sich eine Sache für ihn auswirken könnte. Furcht ist Konzentration der Aufmerksamkeit auf sich selbst in Erwartung eines drohenden Unheils. Verlieren Sie sich selbst aus den Augen, vergessen Sie sich selbst und die Furcht wird verschwinden.

Oft wird behauptet, die Furcht sei ein Schutz; sie ist es aber nur für den Schwachen, dem sie zur zweiten Natur geworden ist. Sie ist nie ein Schutz für den Starken. Sie ist schrecklich destruktiv. Wofür? Für die Selbstbeherrschung, für das Selbstvertrauen. Sie unterminiert den Willen. Oft ist sie die Ursache für die Grausamkeit gegen andere. Furcht lähmt. Sie hemmt die Lebenskräfte. Sie läßt uns zittern und zagen, denn wenn man sie beherbergt, hat man nicht mehr den Mut, die Energie und die Kraft zum Vorwärtsgehen. Trotzdem befindet sich der Furchtsame stets in weit größerer Gefahr als der Furchtlose. Furcht zieht tatsächlich Gefahr an. Ihre Sicherheitschancen sind unendlich größer, wenn Sie furchtlos sind. Denken Sie darüber nach!

Wer möchte sein ganzes Leben in Furcht verbringen, sich vor allem fürchten, was wohl kommen mag, immer verstohlen um Ecken schleichen und sich verbergen; beim Versuch nach oben zu schreiten, dennoch den Aufstieg fürchten, aus Angst vor einem möglichen Fall? Das ganze Leben wäre ein andauerndes Grauen. Wie glücklich und froh ist dagegen der Mensch, der Liebe in seinem Herzen trägt, der sich nicht darum kümmert, was ihm geschehen wird. Er ist stark und beeinflußt andere mit seinem Selbstvertrauen. Wenn in seine Seele jemals Furcht eintreten sollte, dann könnte es nur in einer Zeit sein, in der keine Liebe mehr in ihm wäre.

Vergessen Sie sich selbst und alle Furcht wird verschwinden. Kennen Sie den königlichen Pfad des Selbstvergessens – den Gedanken an das Ich in Ihrem Leben völlig zu vergessen? Das bedeutet Liebe für alle Dinge, ob groß oder klein; denn vollkommene Liebe besiegt alle Furcht. Fürchten Sie die Dinge, die Sie lieben? Niemals! Sie wünschen sie, Sie sehnen sich danach, Sie streben nach ihnen. Lernen Sie daher lieben, und die Furcht verläßt Sie und Sie werden stark, denn Liebe ist eine mächtige, im menschlichen Herzen verankerte Kraft.

Warum ist die Liebe, ungeachtet der Tatsache, daß sie die Furcht vertreibt, ein so mächtiger Schutz? Weil ihre Schwingungen unendlich harmonisch sind. Ängste sind immer schwankende, verzerrte Schwingungen. Das Göttliche ist vollkommene Harmonie, und alles Tieferstehende kann sich zu ihm erheben. Furcht aber ist Disharmonie, zitternd, erschütternd, eine Zerstörerin der Lebenskraft. Denken Sie an den Anblick eines völlig verängstigten Tieres oder Menschen. Man fragt sich: „Wo ist die Liebe im Herzen dieses Menschen, die ihm Frieden, Kraft und äußerste Gelassenheit geben würde?“ Er hat sie verloren, er hat sie vergessen; wenn sie noch da wäre, hätte er keine Furcht. Und worin besteht diese vollkommene Liebe, die alle Furcht vertreibt? Nun, sie bedeutet in jenem Teil unseres eigenen Selbst zu leben, der universal ist. Sie bedeutet Verbundenheit mit dem Göttlichen. Darin liegt vollkommener Friede und vollkommene Harmonie.

Verlust der Seele und Unaufrichtigkeit

Es gibt eine Art von Selbstmord, die mit Recht, jedoch selten, so genannt wird. Und doch ist es eine sehr reale Angelegenheit, und stellt in unserer gegenwärtigen Welt eine Gefahr dar, eine ernste Gefahr. Es ist der Verlust der Seele – eine Vorstellung, die das herzlose und grausame abendländische Denken hart trifft. Das abendländische Denken in seiner Ignoranz nimmt aufgrund falscher Erziehung an, daß uns irgendeine göttliche Macht auf Gedeih und Verderb hierher versetzt hat, und daß wir, gleichgültig, was wir tun, für immer weiterleben müssen. Aber für diese Idee gibt es absolut keine Basis oder Realität, und das zeigt sich in der Tatsache, daß der gesunde Menschenverstand sie in den Westen zurückverbannt hat, in das Land, aus dem sie stammte.

Beachten Sie jedoch: die Seele ist nicht dasselbe wie die Monade. Die Monade ist ewig, denn sie ist sozusagen ein Teil des Unendlichen, ein Teil des kosmischen Ozeans des Lebens und untrennbar mit ihm verbunden. Die Seele jedoch ist das Vehikel, das sich die Monade aufgebaut hat, damit sie sich auf unseren Ebenen zum Ausdruck bringen kann. Wenn diese Seele ihrem göttlichen Urbild entspräche und ihm gleich wäre, dann wäre das ein Gottmensch auf Erden. Die Seele könnte dann an der Unsterblichkeit jenes göttlichen Urbildes teilhaben, weil sie mit ihm eins und mit ihm verschmolzen wäre. Dann hätten wir eine Seele, die nicht nur zum Vehikel der Monade, des göttlichen Geistes im Herzen des Menschen geworden wäre, sondern ihr tatsächlicher Ausdruck.

Nehmen Sie das Gegenteil an, wo die Seele so entstellt, ein so unvollkommenes Vehikel und noch so unvollständig entwickelt ist, daß selbst die gewaltige Kraft des Geistes kaum die Dichte ihres Stoffes, die Nebelschwaden des Denkens und die Wirbel der Gefühle und der Gedanken durchdringen kann. Hier ist die Seele nutzlos oder faktisch unbrauchbar und wird letzten Endes abgestreift, abgelegt, und eine neue Seele muß im Verlauf der Zeitalter entwickelt werden. Dies wird jedoch nicht allein seitens der Monade bewirkt. Es ist die Seele selbst, in der die Wahl getroffen werden muß. Sie kann langsam Selbstmord verüben, indem sie sich „Leben für Leben“ vorsätzlich für das Böse, um des Bösen willen, entscheidet. Sie tut das Böse, weil sie es liebt. Wenn dann der Punkt erreicht ist, wo der Widerstand der Seele gegen den von oben herabströmenden göttlichen Strahl mächtiger ist als die Energie oder Kraft des Strahls, der die rebellierende Seele leiten soll, tritt das ein, was wir als moralischen Selbstmord bezeichnen. Eine Seele ist verloren.

Das sind sehr reale Tatsachen und nicht nur leere Worte. Ich denke, es ist höchste Zeit, daß Theosophen offen darüber sprechen. Wir haben seit undenklichen Zeiten unsere Warnungen erhalten. Die größten Lehrer, welche die Welt jemals kannte, lehrten alle dieselbe Wahrheit: „Lebe das Leben, und Du wirst die Lehre kennen.“ Lebe das Leben, und Du kannst Unsterblichkeit erringen. Wenn Du es jedoch ablehnst, mit der Natur zusammenzuarbeiten, ihren Befehlen zu gehorchen und gegen ihre Gesetze aufbegehrst, dann endet dies mit dem Verlust der Seele – und wie leicht sind die ersten Schritte dahin. Facilis descensus Averno: „Leicht ist der Abstieg in den Avernus.“ Am Anfang ist er ganz leicht. Ja, wir riskieren ihn jeden Tag in unserem Leben: wir sind unaufrichtig, vergessen unsere Pflicht zu erfüllen und brechen unsere Versprechen. Vor allen Dingen aber versäumen wir, unser Wort einzulösen und uns des Vertrauens, das uns entgegengebracht wird, würdig zu erweisen. Wir alle kennen die inneren Reaktionen eines Menschen, der weiß, daß er treulos und unaufrichtig ist. Seine Seele wird verdorben. In den schlimmsten Fällen würde ich sagen, daß die Seele eines solchen Menschen von ethischer Fäulnis durchdrungen ist. So beginnt der Verlust der Seele. Selbstmord, moralischer Selbstmord, der Verlust der Seele beginnt in den kleinen Dingen. Groß sind jedoch die Menschen, welche ihr Wort einlösen, die aufrichtig und im Herzen wahrhaftig sind. In einer solchen Haltung manifestiert sich Größe, denn sie repräsentiert Geist.

Ein Mensch, der sein Wort hält und aufrichtig bleibt, ganz gleich, was es ihn kostet, ist groß. Das schließt Grausamkeit jeglicher Art anderen gegenüber aus. Es bedeutet Aufrichtigkeit dem eigenen Herzen gegenüber und Mut dazu. Durch diese Haltung werden Selbstachtung, innerer Friede und die Achtung jener erworben, die wir lieben.

Es ist so leicht, mit dem Abgleiten anzufangen. Aus Unaufrichtigkeit entsteht Falschheit und wenn das Herz falsch ist, wird die Rede falsch, und leicht entschlüpfen Lügen den Lippen. Mit einem jeden solchen Schritt abwärts wird es schwieriger, umzukehren, und der folgende Schritt in die gleiche Richtung ist noch leichter. Bilden Sie sich keinen Augenblick ein, daß Sie davor sicher sind. Solange wir unsere Zwischennatur haben, die sogenannte Seele, müssen wir über uns selbst wachen. Der Mensch hat es in seinen eigenen Händen, sich zu einem Gott zu entwickeln oder sich zumindest zu einem Menschen zu formen, zu dem andere aufblicken und dem sie vertrauen. Und was kann Größeres von einem Menschen gesagt werden als: man kann ihm vertrauen! Gerade wie wir uns erheben können, können wir auch fallen.

Es ist sehr schwierig, Richtlinien anzugeben, an denen ein Mensch erkennen kann, daß er zumindest auf dem aufwärtsführenden Pfad ist. Es ist außerordentlich schwer, für diese Dinge formale Regeln zu geben. Ich denke jedoch, wenn wir uns selbst ehrlich prüfen und nach dieser Prüfung zu uns sagen können: „Ganz gleich, welche Fehler ich gemacht habe, ganz gleich, wie oft ich auf dem Pfad gestrauchelt bin, ich habe Wahrhaftigkeit bewahrt; meine Zunge wurde nicht durch Falschaussagen beschmutzt; ich habe kein Vertrauen hintergangen; ich war treu in meinen Beziehungen zu anderen und auch zu mir selbst“ – wenn sich ein Mensch dies sagen kann, dann kann er annehmen, daß er ziemlich sicher steht. Aber wenn sich bei einer solchen Prüfung das geringste Gefühl von Selbstrechtfertigung oder die Neigung, sich selbst und seine Handlungen zu entschuldigen, in das Herz stiehlt und das Herz erkennt, daß die Tatsachen entstellt wurden – dann müssen wir achtsam sein!

Ich denke, die Ägypter hatten die richtige Vorstellung, wenn sie in ihren von Hieroglyphen umrahmten Malereien darstellten, wie das Herz gegen die Feder der Wahrheit aufgewogen wird. Obwohl sie so leicht ist wie eine Feder, ist sie doch gerecht und unbestechlich. Ich möchte wissen, wie viele von uns, wenn unsere Herzen gewogen würden, sehen könnten, daß das Herz den Waagebalken richtig im Gleichgewicht hält. Wir denken viel zu oft, der Mensch würde von seinem Gehirn, diesem armseligen Instrument, in die Irre geführt. Hier, im Herzen ist es, wo der Dämon am Werk ist. Und hier im Herzen ist es auch, wo der Gott zu finden ist. Das Gehirn wird von einem bösen Menschen nur benutzt, um für die Erfindungskraft seines lasterhaften Herzens Entschuldigungen zu finden und andere zu beschuldigen, nichts als Ränke zu schmieden. Aber die Impulse kommen aus dem Herzen. Das Gehirn wird nur zum Werkzeug, dessen bin ich ganz gewiß. Ich weiß, daß ich in meiner Arbeit viele, viele Vertrauensbrüche vergeben habe, und ich will Ihnen sagen, warum. Erstens, weil es groß ist, zu vergeben und zweitens, weil ich sah, daß auch ich falsch gehandelt haben könnte, wenn ich in der Lage dieser oder jener Person oder an der Stelle dieses Vertrauensbrüchigen gewesen wäre. Ich habe herausgefunden, daß die Disziplin des Vergebens gut und hilfreich ist.

Kein Mensch ist absolut unsterblich, keiner. Sie sind nur dann unsterblich, wenn Sie sich mit dem Unsterblichen, mit dem Unsterblichen in Ihrem Inneren, vereinigen. Andernfalls sind Sie sterblich, denn dann haben Sie sich mit dem Sterblichen in Ihnen verbunden. Prüfen Sie sich deshalb selbst, bevor es zu spät ist. Wenn Sie bemerken, daß Sie in Ihrem Herzen anderen gegenüber ungerecht gewesen sind und dabei die schlechten Impulse Ihres Herzens in Taten umgesetzt haben, dann hören Sie auf damit. Leisten Sie Genugtuung. Sollten Sie in Ihrem Herzen bemerken, daß Sie falsch und betrügerisch sind, weil Sie etwas erhalten oder verhindern wollen, hören Sie auf damit, denn Sie schreiten abwärts.

Seien Sie immer gütig! Denken Sie keinen Augenblick, daß Sie in Ihrer Aufrichtigkeit brutal und in Ihrer Offenheit gegenüber anderen roh sein müßten. Das ist reine Grausamkeit. Manchmal ist Schweigen unendlich gütiger als Reden. Manchmal können Sie die Wahrheit besser durch Stillsein, durch Schweigsamkeit vermitteln, als durch Sprechen. Aber bewahren Sie immer Wahrhaftigkeit, ob sie durch Sprache oder durch Stille zum Ausdruck gebracht wird. Hüten Sie sich vor Unaufrichtigkeit wie vor allen Dämonen der Hölle.

Die Beziehung des Endlichen zum Unendlichen

Frage: Welche Beziehung besteht nach theosophischer Auffassung zwischen dem endlichen und dem unendlichen Geist? Das Problem ist: Wenn man sagt, der endliche Geist sei ein Teil des unendlichen Geistes, dann muß man auch dem unendlichen Geist die Mängel des endlichen zuschreiben. Wenn man aber sagt, er sei kein Teil des unendlichen Geistes, dann kann das Unendliche nicht unendlich sein.

Antwort: Der Herr hat eine Frage gestellt, die zu allen Zeiten von allen Menschenrassen gestellt wurde. Es ist das gleiche Problem, das die Theologen gequält und beunruhigt hat, denn vom Standpunkt der Theologie aus ist es offensichtlich: Wenn Gott unendlich und dennoch ein Schöpfer ist, muß alles, was vom Unendlichen geschaffen wird, unendlich sein. Wir sehen uns aber von einer Unendlichkeit endlicher Dinge umgeben. Woher kommt das? Dies ist in der Theologie das gleiche Problem, das Sie, verehrter Herr, als philosophisches Problem angesprochen haben. Mir ist nichts bekannt, was diese Frage beantworten kann, außer der Gottesweisheit, die wir heute Theosophie nennen. Und Sie verstehen sicher, daß sie nicht so leicht zu beantworten ist, weil man im esoterischen Denken geschult sein muß, ehe man die volle Überzeugung erlangt, daß die Antwort völlig adäquat ist. Doch ich will versuchen, die Tatsachen in einfachen Worten darzustellen.

Die Vorstellung, daß das Unendliche ein handelndes Wesen ist, habe ich immer als völlig falsch angesehen, denn die Unendlichkeit kann kein handelndes Wesen sein, weil ein handelndes Wesen eine begrenzte Wesenheit ist. Die Unendlichkeit handelt nicht als ein Wesen, denn ein Wesen ist eine begrenzte Wesenheit. Wir können daher nur sagen, daß Unendlichkeit Handlung an sich ist, Leben per se, nicht ein Leben; das ist Begrenzung, das ist Endlichkeit. Nehmen Sie mich als einen Menschen, sich als einen Menschen, einen Himmelskörper wie die Sonne oder einen Planeten oder ein Tier, eine Pflanze, was Sie wollen, jede begrenzte Wesenheit: diese begrenzte Wesenheit, ein endliches Wesen, bewegt sich und lebt in seinem physischen Ausdruck und hat seine Existenz in der Unendlichkeit; es kann sich nicht außerhalb von ihr befinden, weil die Unendlichkeit keine Grenzen, keine Schranken und kein Darüber hinaus hat. Deshalb hat dieses endliche Wesen irgendwo, irgendwie und in irgendeinem Teil von sich, seine Wurzeln im Unendlichen; die Unendlichkeit durchströmt es, wie das Meer alles durchströmt, soweit seine Wellen reichen, obwohl natürlich die Unendlichkeit sozusagen ein grenzenloses Meer ist.

Daher habe ich als Mensch meine Wurzeln im Göttlichen; dieses Göttliche umgibt mich überall, es durchdringt mich durch und durch, in allen meinen Teilen und meinem ganzen Sein. Ich kann es nie verlassen. Deswegen bin ich ein Kind von ihm. Trotzdem bin ich hier, ein Mensch, in einem schwachen, kleinen, begrenzten physischen Körper, mit einem schwachen, kleinen, physischen, begrenzten Gehirn; und, im Vergleich zu den Göttern, ein schwaches, kleines Leben, mit einem Herzen, wie wir sagen, einem ethischen Instinkt und so weiter. Doch ich bin ein Mensch. Ich habe göttliche Gedanken, ich fühle meine Einheit mit allem Sein. Wie? Warum? Das ist das Problem.

Ich will jetzt andeuten, was die esoterische Theosophie über diesen Punkt sagt. Es gibt eine Unendlichkeit von Endlichkeiten, ein seltsames Paradoxon. Mit anderen Worten, die Wesenheiten oder Wesen, die wir endlich nennen, sind in ihrer Anzahl unendlich. Ich frage mich, ob Sie diesen Punkt erfassen. Daher sind die Atome des grenzenlosen Raumes durch keine Grenzen gebunden. Jedes einzelne ist eine endliche Wesenheit und doch existieren sie in unendlicher Anzahl. Wir können kein Ende wahrnehmen, weil es eine Begrenzung für das Unendliche wäre, wenn unser Denken einmal sagen würde, hier endet die Unendlichkeit, die hier Endlichkeiten erzeugt hat; und wir würden mit völliger Berechtigung fragen, warum sollte, wie könnte die Unendlichkeit sich selbst in irgendeiner Weise begrenzen? Dieser Gedanke ist widersinnig, wir können ihn nicht akzeptieren. Es ist das unendliche Raunen der Unendlichkeit in mir, das mein Bewußtsein befähigt, diesen Verständnisfaden zu erfassen; dem begrenzten Gehirn fällt es schwer, innerhalb seiner kleinen Grenzen eine unendliche Idee zu erfassen. Aber ich empfange eine Intuition, etwas, das im Inneren raunt, daß es so ist. Das ist die Unendlichkeit, die durch mich atmet und durch mich fließt.

Daher gibt es eine Unendlichkeit endlicher Wesenheiten, zusammengehäuft in verschieden angesammelten Massen, was sie auch sein mögen: Menschen, Planeten, Sonnen, Sterne, Steine oder sonst etwas – nennen Sie es Atome, weil all diese Dinge aus Atomen gebildet sind oder aus Dingen, die kleiner als Atome sind, wie Elektronen und Protonen und so weiter. Tatsächlich folgen alle kosmischen Erscheinungen im Großen wie im Kleinen dem gleichen, allgemeinen, kosmischen Schema oder Muster; und diese bestehen aus den Phänomenen des Universums, im Gegensatz zu den verborgenen Noumena oder verborgenen Ursachen.

Wir sehen somit, daß die westliche Philosophie einen schweren Irrtum bei ihren philosophischen Untersuchungen beging, als sie sagte, daß uns Unendlichkeit zwar umgibt, daß aber das Endliche radikal oder essentiell von ihr verschieden sei. Ein sonderbares Paradoxon! Gerade weil die Endlichkeiten unbegrenzt sind, zahlenmäßig unendlich, deshalb sind sie kollektiv als Unendlichkeit ein Teil der Unendlichkeit, ja in einem Sinne die Gewänder der Unendlichkeit. Sie sind die Unendlichkeit. Mit anderen Worten, wir müssen unsere Betrachtungsweise vom Universum ändern, ehe wir verstehen können, warum das Unendliche zur rechten Zeit atmet, wie es der Fall ist, im – wie wir Menschen sagen – grenzenlosen Raum. Es gibt eine Art, in der selbst ein menschlicher Gedanke unendlich ist, weil er ein Gedanke aus einer unendlichen Zahl von Gedanken und Energien ist, die im Herzen der Natur leben und die die Unendlichkeit niemals verlassen können.

Wenn Sie diesen sehr subtilen und schwierigen Gedanken erfassen, dann erfassen Sie genau, was die esoterische Philosophie lehrt, wie auch zum Beispiel die Vedanta, die Adwaita-Vedanta Indiens. Was lehrt sie und auch der Weise der Veden seine Schüler? Dies: Tat twam asi. „Jenes, das Grenzenlose, bist Du.“ Denn wenn Jenes und Du verschieden sind, dann steht das Du außerhalb der Unendlichkeit, was absurd ist, und die Unendlichkeit wird sofort begrenzt, weil es etwas gibt, das über sie hinausgeht, was bedeutet, daß sie von etwas umgeben und deshalb begrenzt und daher nicht unendlich ist. Deshalb wird dieses begrenzte Wesen, diese Endlichkeit, auf diese wundersame Art von Unendlichkeit durchströmt, weil sie in ihrem Herzen, in ihrer Essenz, aus der Substanz der Unendlichkeit besteht.

Nun zur Theologie: genau das ist der Grund, warum Theosophen die christliche Theologie nicht annehmen können, obwohl wir die Lehren des Avatāra Jesus annehmen. Wir sehen in ihm einen der größten Theosophen. Die Theologie der Christenheit wurde jedoch in späterer Zeit von unbedeutenderen Menschen entwickelt, die das Geheimnis der Lehren ihres großen Meisters verloren hatten. Wenn die christliche Theologie sagt, daß Gott ein Schöpfer sei, daß „Er“ die Welt zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Unendlichkeit aus Nichts geschaffen habe, dann sagen wir, daß dies unmöglich ist; es begrenzt „Gott“. Unendlichkeit ist kein Schöpfer, sie ist kein Erschaffer, kein Demiurg, um den philosophischen Begriff demiourgos der Griechen zu verwenden; sie ist Jenes, genau wie der Weise der Veden, der Adwaita-Vedanta Indiens und die esoterische Philosophie sagen. Wir geben ihr keinen konkreten Namen, denn ein Name schließt Begrenzung ein. Wir sagen einfach, es ist namenlos, Jenes. „Jenes“ ist kein Titel, es ist kein Name; es ist nur ein Versuch des menschlichen Geistes, die Unendlichkeit nicht zu etikettieren oder ihr einen Namen zu geben oder sie zu bezeichnen; es ist lediglich die Verwendung des Begriffs Jenes als sprachliches Mittel im Gespräch.

Und schließlich lehrt aus diesem Grunde die esoterische Philosophie entlang dieser subtilen Gedankengänge, daß selbst das, was wir als physisches Universum bezeichnen, unendlich ist, weil es aus einer unendlichen Zahl von endlichen Einheiten zusammengesetzt ist. Und so ist es seit Ewigkeit. Es hatte nie einen Beginn, und wird nie ein Ende haben, weil die Unendlichkeit keinen Anfang und kein Ende hat. Unendlichkeit erschafft nicht und erzeugt diese Endlichkeiten nicht. Deshalb sind sie immer, seit unendlicher Vergangenheit in unendliche Zukunft Teile der Unendlichkeit. Seltsames philosophisches Paradoxon! Wunderbare Intuitionen der archaischen Weisen!

Es ist zwar sehr edel von uns, diese tiefen und schwierigen Gedanken zu erforschen, weil sie uns auf höhere Ebenen des Denkens erheben und unseren Geist erweitern; doch manchmal denke ich, daß ich mit dem Alten Weisen übereinstimme, der sagte, daß die Antwort, die richtigste Antwort auf solche Probleme in der Stille gefunden wird. Oh, wie wahr ist dies! Worte sind es, die uns in die Irre führen, Worte, die uns verwirren und unsere Gedanken ablenken. Und doch müssen wir Worte benützen, um miteinander in Verbindung zu treten. Wenn dieser Herr Professor oder Lehrer an einer Universität ist, habe ich Verständnis für ihn, weil ich seine Schwierigkeit kenne, manchmal solche subtilen Gedanken an andere weiterzugeben. Und trotzdem tut er es, die Lehrer tun es, weil sie wissen, daß in den Lernenden, in den Schülern, etwas ist, das zumindest eine Intuition von der Wirklichkeit erfassen kann.

Manchmal glaube ich, daß die westliche Philosophie unter großen Nachteilen lebt. Sie hat unter einer schweren Behinderung gelitten, und zwar der, daß das philosophische Denken im Westen nie eine richtige Gelegenheit hatte, sich frei von theologischem Dogmatismus zu entfalten und zu entwickeln. Ich weiß, daß hier vielleicht ein heikles Thema berührt wird, aber es ist äußerst wichtig für die Freiheit des menschlichen Denkens. Die Philosophie im Orient hat nicht Tausende von Jahren mit diesem Handicap gearbeitet. Die Gedanken orientalischer Philosophen und der archaischen Mysterienschulen hatten die Freiheit zu wachsen und sich zu entfalten; und ich will Ihnen jetzt zeigen, was ich meine.

In der esoterischen Weisheit und auch im philosophischen und religiösen Denken des Orients – einem direkten Abkömmling und Kind des Okkultismus, der Theosophie – ist die Unendlichkeit oder das Grenzenlose oder Jenes weder gut noch böse. Dies sind menschliche Begrenzungen, die nur im Kontrast zu begrenzten Wesen Anwendung finden. Es ist ein Mensch oder ein Engel oder ein Gott oder ein Deva, der gut oder böse ist. Ein Geist des Guten oder ein Geist des Bösen? Die christliche Theologie unterlag einer falschen Eingebung. In Wirklichkeit strömen aus dem Herzen der Unendlichkeit, wie aus einem ewigen Schoß, Hierarchien von „Leben“ hervor, Monaden, wie Leibniz sagen würde: alle die geistigen Wesen in verschiedenen Graden und Abstufungen der evolutionären Entfaltung, wie wir es heute bezeichnen. Da sind zum Beispiel die höchsten von den höchsten der höchsten Götter, und unter diesen die höchsten der Höchsten und unter diesen die Höchsten und dann die Götter und dann die Dhyāni-Chohans und dann die Wesen unter ihnen, bis wir zu den Menschen kommen. Und dann kommen die Wesen unterhalb uns Menschen auf anderen hierarchischen Stufen von Wesenheiten, wie die Tiere, die Pflanzen und die Elementale, die alle aufwärts marschieren auf ihrem evolutionären Weg, höher und höher. Wahrlich, in dieser Welt, in der wir leben, finden wir Gutes und Böses. Und wir sehen auch, wie schön das Gute ist, denn es ist Harmonie und Liebe und Frieden und Fortschritt und Entwicklung, Evolution, Ausdehnung und Wachstum. Gleicherweise sehen wir, was böse ist, Einschränkung, Beschränkung, Leiden, Schmerz, Unzulänglichkeiten, Unwissenheit; mit anderen Worten, unvollkommene Entwicklung, die oft Rückschritt oder ein Zurückgehen zu größerer Unvollkommenheit einschließt, bis die Lektion durch Gewohnheit erlernt wird, und die Wesenheit den Aufwärtsweg einschlägt. Das ist es, was der böse Mensch tut. Er geht vorerst für die Dauer seines üblen Tuns abwärts und rückwärts. Daher kommt es, daß wir bei den manifestierten Dingen des Universums wundervoll Gutes und das Beste finden und schrecklich Übles und das Schlimmste.

Alle diese Gedankenreihen, die die Erzeugung der Scharen von Hierarchien endlicher Wesen und Dinge betreffen, wurden in der alten Philosophie als Lehre der Emanationen bezeichnet, die von der christlichen Theologie verdammt und verflucht und geschmäht wurde, und die zu verstehen die westliche Philosophie nie eine Chance hatte, weil ihre Lehrer verfolgt wurden. Sie waren nicht wirklich frei, denn sie hatten nicht die Gelegenheit, die die Philosophen des Orients haben. Ich weiß es, ich habe es erlebt.

Daher können wir nicht sagen, daß das Unendliche gut ist, weil dies ein begrenzter Begriff ist, der nur für Wesen emanierter Hierarchien gilt, und in den niederen Graden derselben finden wir weniger göttliches Licht. Denn, wie die Gnostiker sagten – eine Schule der alten Philosophie in frühchristlicher Zeit –, sie leben in Finsternis, sie sind begrenzt, sie können nicht klarsehen, und das ist böse, was wir böse nennen, Begrenzung.

Daher ist es ganz falsch, von der Unendlichkeit zu sagen, sie sei gut, denn wenn Unendlichkeit gut ist, wie sollen wir dann das Böse in der Welt erklären? Und es gibt sehr viel Böses! Nein, Gut und Böse gehören zu den ungeheuer großen Scharen von Hierarchien, die in der Unendlichkeit existieren, die in einer großen Lebenswoge in irgendeinem Teil des Universums in Erscheinung treten, ihre Lebenszeiten durchlaufen, vorwärts streben und Fortschritte machen, und dann, wenn sie den Kulminationspunkt oder den höchsten Punkt ihres Wachstums in dieser Zeitperiode erreicht haben, wieder in den Schoß des Göttlichen zur Ruhe zurückkehren, um in einer zukünftigen Zeit wieder auf höheren Ebenen in erhabeneren Sphären hervorzukommen. Diesen Prozeß beobachten wir überall in der Natur: wie der Baum, der im Frühjahr erwacht, seine Blätter austreibt und diese im Herbst abschüttelt; wie wir zum Beispiel sehen, wie sich der Mensch wiederverkörpert: teils in der göttlichen Welt und teils in der physischen, Leben um Leben, hin und her geht der Schwung des Pendels, der Naturgesetz ist. Wir erkennen es um uns herum. Es gibt ein großes Buch, das wir studieren sollten: die Natur, die existierenden Dinge. Und wenn ich Natur sage, meine ich nicht allein die physische Natur, sondern die gesamte Natur im esoterischen Sinne, die Natur des Göttlichen, die Natur des Spirituellen, die Natur der intellektuellen Welten, die Natur der physischen Welten, die Natur der Welten unterhalb des Physischen. Wer kann, und wer wagt es, dem Leben in der Unendlichkeit Grenzen zu setzen?

Der Kern der Antwort auf die gestellte Frage ist daher folgender: jede Einheit der grenzenlosen Zahl endlicher Wesen oder Dinge, die in und aus der Unendlichkeit leben, jede solche Wesenheit, sage ich, ist in ihrem Höchsten, in ihrer Essenz oder in ihrer fundamentalen Substanz mit der Substanz der Unendlichkeit identisch; diese Punkte der unendlichen Substanz oder diese monadischen Zentren in ihren verschiedenen Ausdrücken als kosmische Phänomene sind oder werden oder erscheinen oder zeigen sich aber als die endlichen Einheiten, von denen in der Frage gesprochen wurde. Daher ist jede Einheit in ihrer essentiellen Substanz wahrhaftig aus dem Stoff der Unendlichkeit; alle sind oder werden jedoch in ihren Manifestationen oder emanierten Ausdrücken die einzelnen oder „getrennten“ Einheiten in ihren zahllosen Armeen oder Hierarchien.

Mißbrauch des freien Willens

Ich wurde oft gefragt, wie es kommt, daß das Göttliche in und hinter allen Dingen ist, und trotzdem im Leben der Menschen gleichzeitig all die schrecklichen Dinge passieren: Kriege, Erdbeben und Ähnliches. Diese Dinge sind nichts als ein Beweis für kosmische Aktivität. Der kosmischen Aktivität kann jedoch nicht die Schuld dafür zugeschoben werden; wir sind die Kanäle, durch die die kosmischen Kräfte wirken und arbeiten, von uns fehlgeleitet, durch unseren freien Willen – zumindest relativ frei –, durch unsere Wahl, unsere Entscheidungen: liebliche Glocken tönen manchmal falsch, aber dennoch sind sie Glocken.

Jedermann weiß, daß ein Mensch, der seinen Körper mißbraucht, dafür durch Schmerzen und Krankheit büßen muß. Diese Dinge existieren; und die Unpäßlichkeit, die Krankheit und die Schmerzen entstanden aus dem ursprünglich Harmonischen, sonst gäbe es keinen Gegensatz. Sie widerlegen nicht die kosmische Harmonie, sondern beweisen vielmehr, daß irgendwo in diesem Zusammenhang irgend jemand, irgend etwas, den gottgegebenen Vorzug der Zusammenarbeit mit den göttlichen Harmonien mißbraucht hat. Arbeitet ein Mensch in völliger Harmonie mit den Göttern zusammen, ist er das, was wir einen Buddha, einen Christus oder einen Avatāra nennen. Wenn ein Mensch jedoch nicht so gut kooperiert und seinen freien Willen, der aus dem Göttlichen Selbst hervorgegangen ist, stets dazu benützt, Disharmonien zu erzeugen, wo es seine Pflicht ist, Harmonien zu erhalten und zu schaffen, was passiert dann? Das hängt von der Ebene ab, auf der sein Verstand tätig ist. Wenn er jedenfalls den abwärtsführenden Pfad anstelle des aufwärtsführenden wählt, sinkt er immer tiefer und tiefer in den Abgrund. Und das bedeutet ganz einfach folgendes: genauso wie man durch ununterbrochenen Mißbrauch seine Gesundheit ruinieren kann und einen Körper bekommt, der vielleicht für mehr als eine Inkarnation auf Erden von Krankheiten geplagt wird, genauso verhält es sich mit dem Verstand und dem Willen. Wenn man seine Seele unaufhörlich mit disharmonischen, haßerfüllten und bösen Gedanken füllt, wird man die innere Struktur dieser Seele zerstören, und sie wird das Vorbild dieser Gedanken übernehmen. Man wird zu einem Arbeiter, der das innere Selbst formt und das künftige Leben entsprechend diesem Vorbild seiner Gedanken und Gefühle gestaltet. Da das Böse immer einschränkend wirkt, folgt daraus, daß die innere Struktur, der freie Wille immer weniger und weniger leistungsfähig wird, mehr und mehr unharmonisch mit sich selbst, schwächer und schwächer an Kraft und Energie, sogar an Imagination und Empfindung, weil man unaufhaltsam mehr und mehr eingeschränkt wird, anstatt offener und universaler. Wenn man auf diesem abwärtsgerichteten Pfad weitergeht, wird man folglich so niedrig wie die Tiere. Man verliert seine Menschlichkeit. Niemand kann dafür beschuldigt werden, als man selbst. Das meinen wir mit dem Ausdruck „in den Abgrund sinken“.

Das Gegenteil davon ist stetes Wachstum an Fähigkeit und Macht, basierend auf Universalität, Vervollkommnung, bis wir schließlich göttlich werden, kosmisch in unserem Denken, im Streben unseres Intellekts, kosmisch in unserem Mitleid und bis wir mit dem Universum wachsen.

„Führe uns nicht in Versuchung“

„Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Übel.“ Als der Avatāra Jesus seinen Jüngern gegenüber diese wunderbare Aussage machte, sagte er es, um ihnen zu helfen. Wenn man das Neue Testament der Christen liest, wird man dort finden, daß ihnen dieses Gebet, wie sie es nennen, zur Anwendung gegeben wurde. Daher beruht das ganze Gebet auf Psychologie. Es muß vom psychologischen Standpunkt aus gelesen werden. Ich meine damit nicht die Psychologie der gegenwärtigen Zeit, die kaum mehr ist als eine Art verfeinerter Physiologie. Ich meine die Psychologie der großen Seher, der titanischen Intellekte aller Zeiten; mit anderen Worten, die Wissenschaft von der menschlichen Seele, dem Bindeglied im Menschen, nicht vom Geist und nicht vom Körper, sondern von der Seele.

Es ist eine sehr subtile Sache: Wenn Sie etwas zu tun vermeiden wollen, was Sie als schlecht erkannt haben – wußten Sie, daß es dann die beste Lösung ist, nicht nur den Tatsachen in die Augen zu sehen, sondern sich damit klar im eigenen Denken auseinanderzusetzen? Oft ist die Häßlichkeit des Gedankens oder der Tat abstoßend. Die Versuchung wird in ihrem wahren Ausmaß erkannt. Daher ist es nie das höhere Selbst oder der innere Gott – die Christen nennen es Gott –, der jemals in Versuchung führt. Vielmehr üben die höheren Teile unseres Wesens, der Geist im Innern, der Gott in uns, ständig einen inneren Ansporn auf uns aus: besser zu handeln, mehr zu sein, den Weg einzuschlagen, zu erwachen, den Schlaf zu vertreiben und zu sein und zu handeln. Oft kann das wundervolle Gehirn, das bis jetzt noch nicht entwickelt ist, die wirkliche Bedeutung der Eingebung von oben nicht erfassen und entstellt sie.

Erinnern Sie sich an diese Tatsachen, die Ihnen gelehrt wurden, das ist der Sinn der Rede des Avatāra. Genau die Tatsache, daß man bei einem Ausbruch von Verlangen zu sich sagen wird: führe mich, nicht den Pfaden zu folgen, die heilig erscheinen oder die in die illusorischen Farben der Herrlichkeit meiner Wünsche gehüllt sind. Führe mich, nicht versucht zu sein durch das, was hoch zu sein scheint, sondern befreie mich von diesen Dingen. Eben diese Gedanken im Geiste bewirken, daß die Versuchung ihre ganze Verführungskraft verliert. Das Gebilde wird als das erkannt, was es ist.

Sie kennen die alte Fabel vom Ablegen der Kleider, die den Ritter täuschten. Er sieht, wie die Sehnsucht seines Herzens auf ihn zukommt; er muß eine Prüfung durchlaufen, eine ritterliche Prüfung. Wird er der Verlockung erliegen, die genau die Sehnsucht seines Herzens zu sein scheint? Keiner weiß es. Er steht in der Prüfung, in der Prüfung des Ritters. Er schreitet auf die verführerische Illusion zu, zieht die bezaubernden Schleier beiseite und sieht den Totenkopf. Das ist die Bedeutung.

Die bloße Tatsache, daß Jesus seine Schüler ermahnt hat, dies jeden Tag anzustreben, zeigt, daß das seinen Jüngern einen sehr wertvollen psychologischen Schutz bot. Mit anderen Worten, sie sollten um ihr Bewußtsein etwas aufbauen, was die moderne Psychologie als Gedankenrahmen oder Gedankenwall bezeichnet.

Die moderne Psychologie hat eine Wahrheit entdeckt, und zwar, daß uns Versuchungen befallen infolge von Schizophrenie, wie es moderne Psychologen genannt haben. Ein langes, häßliches, griechisches Wort mit der einfachen, guten, altmodischen Bedeutung, daß die menschliche Natur oft in sich selbst gespalten ist. Schizophrenie bedeutet geteiltes Bewußtsein, gespaltene Persönlichkeit. Die gute alte Redeweise war, daß der Verstand oft in sich selbst geteilt ist, oder daß wir über etwas zweierlei Ansichten haben.

Was ist nun die psychologische Folgerung aus dieser Sache? Es ist folgendes: schmieden Sie Ihr Bewußtsein wieder in eines zusammen, und Sie werden nicht unterliegen. Jeder anständige Mensch weiß um diese Wahrheit, wenn er sich selbst prüft. Wir erliegen der Versuchung, weil wir es zulassen, daß sich unser Bewußtsein spaltet, ein Teil des Verstandes erniedrigt den anderen, und dann argumentieren wir: „Können wir nicht so davonkommen?“ Mit anderen Worten: man kann nicht zwei Herren gleichzeitig dienen.

Sobald der innere Gott unser Bewußtsein, unser Gehirn mit seinem heiligen Licht, mit seiner Liebe durchdringt, wird die Schizophrenie zu einem Schrecken der Vergangenheit. Indem wir uns weigern, diese mentale Spaltung in uns zuzulassen, werden wir einmütig, fühlen die innere Göttlichkeit; und wenn das im höchsten Grade der Fall ist, haben wir einen Christus oder einen Buddha. Diese sind unter uns erschienen. Es gibt keinen Grund, warum heute keiner erscheinen sollte.

Hilfe von den Göttern

Die Götter helfen uns sicherlich. Sie beobachten uns sozusagen von ihrem Himmelsthron, um uns zu helfen und halten ständig Wacht. Können wir aber auch nur für einen Augenblick annehmen, daß die Götter sich am Werk der Zerstörung beteiligen? Oder auf der anderen Seite, daß wir göttliche Hilfe oder Unterstützung erhalten werden, bevor wir nicht selbst zu einem Kanal des Göttlichen geworden sind? Benutzen Sie Ihre Vernunft und Ihren Verstand und lassen Sie sich nicht durch religiöse Propaganda irreführen. Wenn Sie die Wahrheit gewinnen wollen, dann streben Sie danach, gottgleich zu werden, um so zu einem geeigneten Kanal des göttlichen Einflusses zu werden, der durch Sie fließt. Sie werden nicht nur Schutz und Hilfe erhalten, sondern auch ein göttliches Werk in der Welt vollbringen. Bedenken Sie das! Sie müssen gottgleich sein, wenn Sie die Hilfe der Götter erhalten wollen, weil Sie göttliche Dinge vollbringen wollen! Wenn Sie den Göttern den Rücken zukehren, dämonische und teuflische Dinge tun, und das gar noch im Gewande der Heuchelei, dann ist das nicht gottgleich, und Sie werden von den Göttern keine Hilfe erhalten. Sage ich die Wahrheit, oder nicht? Spreche ich zu Ihnen von Dingen, die immerwähren, oder die vergänglich und in fünf Jahren vergessen sind?

Welchen Maßstab legen Sie bei Ihrer Lebensführung an? Haben Sie Grundsätze, oder haben Sie keine? Sie kennen die Antwort. Betrügen Sie sich nicht selbst, indem Sie denken, daß die Götter Ihnen helfen, obschon Sie nur darauf bestehen, in Ihren engen menschlichen Geleisen weiterzufahren; doch dann, wenn das Unglück kommt, erheben Sie hilflos die Hände zu den Göttern und sagen: „Warum passiert das mir; was habe ich getan?“ Kommen Sie nicht und sagen Sie, daß Sie auf der Seite der Götter stehen, ehe Sie es nicht wirklich tun, und so wie die Götter arbeiten und gottgleiche Werke vollbringen, und ehe Sie sich an die Prinzipien halten, die Sie sich erwählt haben. Nur dann stehen Sie auf der Seite der Götter, und dann werden Sie auch Hilfe erhalten; sonst nicht. Das gleiche sagt auch der Avatāra Jesus: Sie können selbst nachlesen, welche Antwort er den Geldwechslern im Tempel und den Heuchlern gab.

Über die Vorbestimmung

Haben die Theosophen eine Lehre, die der christlichen, theologischen Lehre über die Vorbestimmung vergleichbar ist? Sagen wir, wie die Calvinisten und woran viele römische Theologen in ihrem Herzen glauben, daß das Göttliche alles im voraus wußte, bevor es ins Dasein trat, und alles und jedes vorherbestimmte, ehe es geschah? Mein Antwort ist folgende:

Die göttliche Ideenbildung der Monas Monadum, „der Monade der Monaden“, man kann sagen, des Hierarchen unseres Sonnensystems, oder, wenn Sie wollen, des Hierarchen unserer Galaxie: die göttliche Ideenbildung sah vorher und wußte im voraus, wie sich die Wege des karmischen Wirkens im beginnenden Manvantara entfalten würden. Dies war jedoch nicht das Wissen eines außerkosmischen Gottes, der Dinge erschafft und diesen Wesenheiten und Dingen ein unwiderrufliches Schicksal aufprägt. Es war lediglich die vorausblickende Vision eines göttlichen Wesens darüber, was die unzähligen Monaden, die die Hierarchien in diesem Universum bilden – jede individuell mit dem ihr eigenen Maß an freiem Willen –, in dem sich entwickelnden Manvantara tun würden. So, wie es möglicherweise Eltern oder ein Meister tun würde. Die Eltern, den Charakter ihres Kindes kennend, werden sagen: wir müssen auf diese Tendenz oder Vorliebe aufpassen. Oder wie ein Meister über seinen Schüler denken würde: ich sehe in ihm diese Neigung. Ich werde das genauer beobachten und in dieser Richtung hilfreich sein.

Die göttliche Ideenbildung sah alles, was sich ereignen würde. All das war im göttlichen Denken gegenwärtig; alles, was während des kommenden Manvantaras geschehen würde; alles, was seine Kinder tun würden, wie ein jedes dieser Kinder gemäß seinem freien Willen handeln würde und entsprechend dem göttlichen Impuls oder Karma, das es selbst in dem vorhergehenden kosmischen Manvantara verursacht hatte. Tatsächlich hat die göttliche Ideenbildung nicht nur die Vorausschau über makro- und mikrokosmische Vorgänge, die sich in Übereinstimmung mit genau dieser göttlichen Ideenbildung entfalten werden, die das höchste Gesetz in dem entstehenden Universum ist; sondern die göttliche Ideenbildung war (ist) sozusagen der genaue Plan des Architekten1 des zukünftigen Universums, in dem alles genau verzeichnet ist bis zum Ende dieses Universums. Aus der Vielzahl der in einem Manvantara plötzlich tätig werdenden Monaden ist jede einzelne in ihrer Essenz ein Teil des göttlichen Lebens und darum ein Instrument der göttlichen Ideenbildung, und handelt trotzdem letzten Endes während der gesamten evolutionären Pilgerfahrt durch die Universität des Lebens gemäß ihrer eigenen, innersten Impulse. Folglich zieht jede Monade ihren freien Willen aus dem göttlichen Leben, ihren Anteil daran. Sie handelt in Übereinstimmung mit der göttlichen Ideenbildung, denn es ist unmöglich, sich ihr zu widersetzen. Daraus ersehen wir, daß kein Fatalismus in diesem Gedanken enthalten ist, es handelt sich um kein vorbestimmtes Schicksal, das heißt, keine Vollmacht einer überlegenen Macht über die evolvierenden Scharen von Monaden. Mit anderen Worten, jede Monade wirkt ihr Schicksal in Übereinstimmung mit ihrem eigenen, inneren Svabhāva oder Charakter aus, aber sie muß trotzdem dem Schöpfungsplan der göttlichen Ideenbildung folgen. Sie ist dennoch ein Funke des göttlichen Lebens, von dem die göttliche Ideenbildung selbst nur eine Manifestation ist. Welch ein überwältigendes, grandioses und erhabenes Bild aller Monaden, die zu Mitarbeitern in dem göttlichen Plan werden! Wirkt eine Monade diesem Plan entgegen, dann geschieht dies auf Kosten ihres eigenen Leides und Unglücks. Es gibt absolut keinen Platz für ein blindes Schicksal, kein unerbittliches Kismet, kein unentrinnbares Geschick.

Wenn ein Manvantara endet, schließen alle Monaden sozusagen mit einer Summenbilanz ab. Das Schicksal eines Menschen ist, wie es die Moslems poetisch ausdrücken, im Buch des Schicksals aufgeschrieben. Seine Zukunft steht in dem Buch aufgrund seiner eigenen, früheren Leben. Und die göttliche Ideenbildung wußte all das, weil diese göttliche Ideenbildung – was ist sie? – der allumfassende Hierarch ist, von dem wir Funken sind.

Wir vertreten also nicht die Meinung der christlichen Theologen, sondern wir lehren mit äußerster Entschiedenheit ein Schicksal, das jeder Mensch sich selbst webt, mit seiner Intelligenz und seinem Willen, Leben um Leben, ja sogar Jahr für Jahr, von Tag zu Tag; mit jedem Gedanken, mit jedem Gefühl drückt es sich nicht nur in seinem Charakter aus und verändert diesen, sondern es werden auch im astralen Licht, in dem Eindrücke zurückbleiben, fotografische Bilder hinterlassen.

Wie eine Spinne ihr Netz webt, so webt jeder Mensch sein eigenes Schicksalsnetz um sich. Sehr oft jedoch leiden wir Menschen auch wegen Dingen, für die wir nicht selbst voll verantwortlich sind. Sind wir für die Kriege verantwortlich, die heute die ganze Welt erschüttern? Da wir der menschlichen Rasse angehören, sind wir auf eine Weise verantwortlich. In der Vergangenheit hinterließen unsere Gedanken im Astrallicht entsprechende astrale Eindrücke, aber als Individuen verübte keiner von uns die anmaßenden Angriffe, die Nationen in den Krieg stürzen. Dennoch beeinflussen diese Kriege auch uns, beeinflussen all die unglücklichen Menschen, die heute in Furcht und Schrecken leben. Es ist ihr eigenes Karma. Sie schufen es irgendwann in vergangenen Leben. Aber individuell ist keiner gänzlich verantwortlich dafür. Diese Feststellung erscheint wahrscheinlich spitzfindig. Aber näher betrachtet ist es ganz einfach. Wenn heutzutage irgendwo auf der Welt ein Krieg stattfindet, beeinflußt das den gesamten Erdkreis – so eng sind alle Menschen miteinander verbunden. Alles wird teurer, bestimmte Nahrungsmittel oder Luxusgegenstände sind vielleicht außerhalb der Reichweite der Allgemeinheit oder sind verboten. Berufliche Positionen gehen verloren, und Angst und Furcht gehen um. Habe ich das alles verbrochen, weil ich darunter leide? Nein; hat Karma mich aufgrund meines eigenen Handelns hierher gebracht? Ja; in einem gewissen Umfang bin ich verantwortlich. Viele Dinge treffen uns, für die wir als Menschen, die wir im vierten Prinzip unserer Konstitution leben – dem niedrigeren Teil von uns, dem Erdenkind, der menschliche Seele –, karmisch nicht voll verantwortlich sind. Ein Teil in uns ist jedoch verantwortlich, und das ist der Dhyān-Chohan in uns, das reinkarnierende Ego. Darin liegt also keine essentielle Ungerechtigkeit.

Ich will versuchen, dies zu verdeutlichen. Unser spiritueller Teil, unser reinkarnierendes Ego, das viele tausend Male gelebt hat, ist für alles, was uns trifft, voll verantwortlich. Das menschliche Ego jedoch, dieses Erdenkind, die gewöhnliche menschliche Seele, ist für viele Dinge, unter denen das spirituelle Ego leiden muß, nicht verantwortlich. Es erduldet sozusagen unverdientes Leid. Seltsames Paradoxon! Ich möchte die Aufmerksamkeit der Leser auf die Ausführungen von H. P. Blavatsky über unverdientes Leid richten. Sie sind in der deutschen Ausgabe ihres Buches Der Schlüssel zur Theosophie auf Seite 121/122 zu finden, besonders vielleicht auf Seite 122. Hier erläutert H. P. Blavatsky in ihrem unvergleichlichen Stil, daß im Gegensatz zum reinkarnierenden Ego, das für alles verantwortlich ist, was einem Menschen an Gutem, Schlechtem oder Indifferentem passiert, dem irdischen, rein persönlichen Menschen oft unverdientes Leid widerfährt. Auf Seite 122 jedoch führt sie aus, wie beim Tod der persönliche Mensch für einen kurzen Augenblick mit der spirituellen Individualität zu einer Einheit verschmilzt. Für diese Zeit sieht und begreift er, wie er tatsächlich ist, nicht beschönigt durch Schmeichelei oder Selbsttäuschung.

Er liest in seinem Leben und gleicht dabei einem Zuschauer, der auf die Arena hinabblickt, die er soeben verläßt; er fühlt und erkennt die Gerechtigkeit allen Leidens, das ihm zuteil wurde.

Wenngleich dem persönlichen, irdischen Menschen, seinen vier niederen Prinzipien, in diesem Leben tatsächlich unverdientes Leid widerfährt, weil dafür in früheren Leben Ursachen gelegt wurden, so erfährt er dafür in der Glückseligkeit von Devachan eine Art Wiedergutmachung. Das reinkarnierende Ego jedoch, der wahre Akteur im Drama des Lebens, ist als eigentlicher Auslöser von Karma voll für alles verantwortlich. Wenn daher der persönliche Teil des Menschen im Augenblick des Todes mit dem reinkarnierenden, spirituellen Ego verschmilzt, begreift selbst das Persönliche in uns die vollkommene Gerechtigkeit von allem, was sich ereignete – unverdientes Leid, das ihm in diesem Leben widerfuhr, aber karmisch die Auswirkung von Handlungen des Egos in vergangenen Leben war.

Sie sehen, ein Teil von uns ist verantwortlich für alles, wofür der niedrigere, unschuldige Teil nicht verantwortlich ist. Nach dem Tode wird dem niederen Teil von uns in Devachan für alle unverdienten Leiden, Kümmernisse, Sorgen und Wunden, die ihm im Laufe seines Lebens zustießen, und die er durchmachte, eine Wiedergutmachung zuteil. Anders ausgedrückt, alles, was dieser niedere Teil von uns in jenem Leben unwillentlich verursachte, passierte, weil das reinkarnierende Ego voll verantwortlich ist, anders als sein Kind, der niedere Mensch.

Es ist nicht verwunderlich, daß die Meister uns darauf hinweisen, daß eines der großartigsten Dinge im menschliche Dasein die Entwicklung von Mitleid, Mitgefühl, von Erbarmen und Sympathie für die menschlichen Seelen ist. Wenn wir dies tun, entwickeln wir uns von unserer irdischen Seele aus immer höher. Zu unserm eigenen Nutzen führt uns unser spiritueller Teil zuweilen in Sorge, Leid und Kummer. Er wird selbst dafür verantwortlich. Seien Sie deshalb nicht so sehr dazu bereit, andere zu verurteilen. Sagen Sie nicht: „Ach, das ist sein Karma!“ Gerade das ist die Gelegenheit, eine helfende Hand auszustrecken. Wenn Barmherzigkeit not tut, wird Untätigkeit zu einer Tat der Todsünde, wie H. P. Blavatsky in ihrer noblen Art erklärt. Sie werden darüber Rechenschaft ablegen müssen. Diese Forderung bedeutet nicht, in einem wilden Gefühlsausbruch von Mitleid sich blindlings und ungestüm in irgendwelche Dinge zu verstricken. Gebrauchen Sie stets Ihren Verstand. Die Welt ist voll von Schwindlern, die ein schreckliches Karma für alle heraufbeschwören. Wenn man aber darum weiß, daß jemand unsere helfende Hand benötigt und diese verweigert, dann ist das ein verbrecherischer Akt. Wir werden für unsere Untätigkeit karmisch zu bezahlen haben. Erinnern Sie sich, was es für uns bedeutet, wenn wir in einer verzweifelten Lage den wärmenden Druck einer helfenden Hand verspüren. Welche Ermunterung fließt in unser Herz. Wir fühlen, daß wir nicht allein sind in der Welt, und daß wenigstens eine Person da ist, die uns einen gütigen Gedanken schenkt. Eine Berührung des Göttlichen heilt und stärkt die ganze Welt.

Ich komme wieder auf die Frage zurück, ob Theosophie lehrt, alles sei vorherbestimmt. Unsere Antwort lautet mit Entschiedenheit „Nein“. Andererseits lehren wir in der Tat, daß jeder Mensch sein eigenes Schicksal für sich webt. Er kann ihm nicht entrinnen, denn es ist die Frucht der Saaten, die er freiwillig und aus eigenem Willen aussäte. Wir vertreten, wie gesagt, die erhabene und großartige Lehre, daß jeder Mensch, wenigstens relativ und dem Grad seiner Evolution angepaßt, über einen freien Willen verfügt. Wir lehren ebenso, daß unser Schicksal unabwendbar ist. Es folgt uns stets auf den Fersen, und es spendet den guten Menschen reichen Segen. Beide sind unausweichlich, die Vergeltung ebenso wie die Belohnung für die Aussaat guter Taten.

Es ist erhebend, darüber nachzudenken, daß am Beginn des Manvantaras in der göttlichen Ideenbildung gleichsam ein Plan seiner gesamten Zukunft enthalten ist, der nichts vorbestimmt und der nichts verdammt, und daß der Stille Wächter in seiner unermeßlichen Weisheit alles zu überblicken vermag, was seine Kinder in diesem Manvantara aus sich heraus entfalten werden, ihr gesamtes, in der Vergangenheit gewobenes Schicksal. Und wie großartig ist außerdem die Verwirklichung des in der göttlichen Ideenbildung enthaltenen Planes der Götter, daß die Avatāras der Götter von Zeit zu Zeit zu uns kommen, um unsere Vision auf die Gesetze des Seins zu richten und uns Menschenpilgern dabei Führung, Trost und Hilfe spenden.

Was ist Wahrheit?

Wie können wir herausfinden, was Wahrheit ist, oder zum Beispiel unter verschiedenen Lehren, die von sich behaupten, die Wahrheit zu sein, erkennen, welche von ihnen die richtige oder beste ist? Was ist Wahrheit? Erinnern Sie sich an Pontius Pilatus, als er Jesus hörte und ihn fragte: „Was ist Wahrheit?“ Ich frage ebenso: „Was ist Wahrheit?“ Glauben Sie, daß irgend jemand von uns die ganze Wahrheit innerhalb der schmalen Grenzen seines Denkens kennt? Erkennen Sie nicht, wie absurd diese Frage ist? Alles, was wir über die Wahrheit wissen können, ist ein Halbwissen über die Gesetze des Universums, ein stets zunehmendes Wissen, eine sich steigernde Ausdehnung des Bewußtseins und Verstehens, ein Wachsen an Weisheit und innerer Kraft. Könnte jedoch irgend jemand die ganze Wahrheit innerhalb der schmalen Grenzen seines Denkens, seines Gehirns, umfassen, welch trostloser Ausblick für seine gesamte Zukunft würde vor ihm liegen. Er wäre am Ziel angelangt, hätte alles erreicht und alles verstanden! Er würde unermeßliche Wahrheit besitzen! All das ist glücklicherweise unmöglich.

Die Wahrheit ist relativ, denn was die Menschen Wahrheit nennen, ist gerade so viel, wie jeder einzelne von den Gesetzen des uns umgebenden Universums verstehen, begreifen, aufnehmen und verarbeiten kann. Ich denke dabei weit mehr an das spirituelle Universum als an das grobstofflich-physische, von dem wir unsere Körper haben. Ich wiederhole: Wahrheit ist relativ, was einfach bedeutet, daß das, was für den einen wahr ist, für den anderen falsch sein kann. Der Dritte kann vielleicht erkennen, wo die ersten beiden fehlgehen, und eine Vision einer noch höheren Wahrheit haben. Und wieder ein anderer Mensch mit großer Hellsicht und noch durchdringenderer intellektueller Kraft vermag noch mehr zu erkennen und zu fühlen.

Seien Sie daher anderen gegenüber hochherzig. Lernen Sie, echte Überzeugungen zu respektieren, wenn diese wirkliche Überzeugungen sind. Und lernen Sie, den geringen Wert bloßer Meinungen zu erkennen, die so unbeständig und ungewiß wie das Mondlicht sind.

Wahrheit an sich ist unendliche Weisheit, und welcher Mensch besitzt sie? Selbst die Götter besitzen nur Teile davon, jedoch sind diese unermeßlich größer als unsere. Sie sehen, wie wertlos eine solche Frage letztlich ist; und wie schmerzlich es ist, daß solche Fragen unter den Menschen viel Unruhe ausgelöst haben, nicht nur in religiöser Hinsicht, sondern in allen Lebensbereichen der Menschen. Statt anderen Menschen gegenüber Güte und Sympathie aufzubringen und uns zu bemühen, den Standpunkt unseres Bruders zu verstehen, geraten wir fortwährend wegen unserer Meinungen aneinander und verwickeln uns in verbale Auseinandersetzungen; das macht uns zuerst unglücklich und bringt uns schlimmstenfalls in eine verzweifelte Lage. Das ist alles sehr töricht und tatsächlich kindisch, weil es unnötig ist. Die alte einfache Regel der Bruderschaft und Güte löst alle diese Probleme. Erinnern Sie sich daran, daß Ihr eigenes Wachstum an Weisheit stetig vorangeht und Ihr eigenes Wachstum an Verständnis beständig ist. Lernen Sie deshalb, anderen gegenüber nachsichtig zu sein.

Auf der anderen Seite enthalten natürlich einige Lehren mehr an Weisheit als andere. Das ist einleuchtend, denn es gibt Menschen, die in ihrer Entwicklung anderen voraus sind, die weiser und weitsichtiger sind oder einen schärferen Verstand haben. Lernen Sie deshalb, gütig zu sein, seien Sie jedoch stets bereit, eine neue Wahrheit anzunehmen und einem Lehrer zu folgen, den Sie im Besitz dieser Wahrheit wähnen, solchermaßen anerkennend, daß andere durchaus ein wenig mehr wissen können, als Sie selbst. Um einem anderen nachfolgen zu können, braucht es Größe. Ich meine damit nicht blinde, sklavische Hingabe oder unterwürfigen Gehorsam. Ich verabscheue beides. Ich meine vielmehr die ehrliche Überzeugung im Herzen, daß es irgendwo in der Welt jemanden gibt, der mehr weiß als Sie. Eine solche Überzeugung adelt den Menschen und umgibt ihn mit außerordentlicher Würde!

Die Wahrheit wohnt im Inneren, in Ihnen und in mir. In jedem Menschen gibt es eine verborgene Quelle der Wahrheit und stetiger Weisheit, aus der er trinken kann; und diese verborgene Quelle ist sein eigenes innerstes Wesen, seine Verbindung mit dem Göttlichen, die das Herz unseres Universums ist. Denn genau dieses Herz ist auch sein Herz, da wir von gleicher Substanz sind; wir sind Kinder seines Lebens und die Geschöpfe seiner Gedanken. Alle physischen Atome meines Körpers sind darin lediglich Gäste, ich bin nur Gastgeber. Sie kommen zu mir aus den fernsten Bezirken der Milchstraße, bleiben eine Zeitlang in meinem Körper, formen ihn und setzen ihre Wanderung fort. Sie kommen vertrauensvoll zu mir und ich erniedrige sie vielleicht, oder möglicherweise läutere ich sie zufällig. Wie dem auch sei: eines Tages, im Verlauf unzähliger Zeitalter, in denen sich das Lebensrad rastlos weiterdreht, werden dieselben Atome wieder zu mir zurückkehren, wieder und wieder, bis in alle Ewigkeit.

Die großen Räder werden durch die Gnade Gottes bewegt,
die kleinen jedoch ebenso!

Dieses alte Neger-Spiritual ist Ihnen bekannt – eine wundervolle Wahrheit in der Tat!

Wahrheit ist also nur das, was das spirituelle Wesen in Ihnen erfahren kann aus Ihrem Studium, aus Ihren Intuitionen, Ihrem Leben mit Ihren Mitmenschen und vor allem aus Ihrer inneren Inspiration. Enthält die Wissenschaft Wahrheit? Ist Wahrheit in den Kirchen zu finden? Die Antwort ist offenkundig, nicht wahr? Existiert Wahrheit in den Vortragssälen für Philosophie an unseren Universitäten? Genausowenig. In der Kirche, im Vortragssaal und im wissenschaftlichen Laboratorium ist nur so viel, wie einzelne Menschen dorthin bringen; und diese Individuen wissen nur so viel, wie sie in sich selbst entwickelt haben.

Sie sehen, wie nutzlos diese Frage zwischen den verschiedenen Sekten und Gesellschaften ist. Wo kann Wahrheit gefunden werden, und wie können wir sie als solche erkennen, wenn wir sie finden? Hier ist der Prüfstein: im Inneren. Denn die Wahrheit befindet sich im Herzen, im Kern Ihres Wesens, dem göttlichen Zentrum, das mit dem göttlichen Zentrum des Universums identisch ist, weil wir seine Kinder sind, aus seiner Essenz; und genau in dem Maße, in dem ein Mensch den in seinem Inneren brennenden, göttlichen Funken erkennt und dazu wird, wächst seine Erkenntnis der Wahrheit. Je mehr er in Einklang mit den Schwingungen dieser spirituellen Sonne in sich selbst vibrieren kann, mit diesem Funken, der das Licht der Gottheit der Galaxis ist, desto mehr erkennt er die Wahrheit.

Doch seien Sie im alltäglichen Umgang jenen gegenüber freundlich, die anderer Meinung sind, weil Sie erkennen, daß Ihr eigenes Verständnis auch begrenzt ist. Üben Sie keinen Sarkasmus aus, er ist ein sicheres Zeichen von Engstirnigkeit. Seine Sie ironisch, wenn Sie wollen, aber gebrauchen Sie keinen unfreundlichen Sarkasmus. Wer seine Zuflucht im Sarkasmus sucht, macht deutlich, daß ihm nichts Gescheites mehr einfällt. Seien Sie zu anderen gütig, respektieren Sie die Überzeugung der anderen. Suchen Sie unablässig im eigenen Inneren nach jener Weisheitsquelle, in deren Allerinnerstem, wie wir in der Tat sagen können, die Wahrheit in Fülle wohnt.

Wir haben keine Dogmen

Wir haben weder in der Theosophischen Gesellschaft noch in unserer Arbeit irgendwelche Dogmen oder Glaubensbekenntnisse. So finden sich unter uns sowohl Hindu-Theosophen, buddhistische, christliche, mohammedanische und jüdische Theosophen als auch Theosophen, die keinem Glauben angehören, außer der Theosophie als der Religion der Religionen. Es ist daher unsere heilige Pflicht, in unseren Herzen den Geist brüderlicher Liebe allen gegenüber zu pflegen, wie sehr sie sich auch in ihrer philosophischen, religiösen oder wissenschaftlichen Überzeugung von uns unterscheiden mögen. Während wir also in der Wahl unserer Religion oder Philosophie als Mitglieder völlig frei sind, bekennen wir uns alle zu der grundlegenden Voraussetzung für einen Theosophen, die in dem Glauben an die universale Bruderschaft und der Bindung an die erhabene Ethik besteht, welche die Theosophie lehrt.


Vorsätze fassen

Vorsätze sind wertvoll, besonders wegen der Lehre, die wir daraus ziehen können, wenn wir aufrichtig sind. Ein Mensch gibt einen Vorsatz auf, und weil er in seinem Herzen die Wahrheit fühlt, sagt er sich sofort: Wozu ist ein Vorsatz gut? Ein anderer Mensch jedoch, mit etwas mehr Erfahrung, erkennt, daß nur die ständige Erneuerung des Vorsatzes den Menschen bessern wird. Rom wurde nicht an einem Tag erbaut. Niemand wird in einem einzigen kosmischen Zyklus zu einem Gott. Aber durch andauernde Willensanstrengung, durch immer erneute Vorsätze, wird der Charakter verändert und Menschlichkeit in Göttlichkeit verwandelt.

Hierin liegt der Wert von Vorsätzen. Richtig, wir sind schwach und halten sie nicht ein; aber wer so argumentiert, besitzt den Verstand eines Kindes, weil es eine kindliche Art der Schlußfolgerung ist. Der Erwachsene mit Erfahrung erkennt, daß er gerade durch die Anwendung der in ihm selbst liegenden Kräfte stark wird. Es liegt etwas Wunderbares in einem Vorsatz, der am Beginn eines Jahres gefaßt wurde, ganz gleich, wie oft man gegen ihn verstößt. Es bleibt die Erinnerung an eine Hoffnung, an eine Hoffnung, die aus einer inneren Intuition stammt: daß man die Fähigkeit großzügigen Denkens hat, daß es der eigene Fehler ist, wenn man dieses Denken nicht in die Tat umsetzt. Dieses Umsetzen wird jedoch mit jeder wiederholten Bestätigung der eigenen Kraft, sein Leben ändern zu können, umso leichter.

Hier liegt der Wert des Vorsatzes: daß schließlich der Charakter durch die Wiederholung des Entschlusses geformt wird. Es ist so einfach. Nach und nach wird der Vorsatz zu einer Geisteshaltung, und eine Geisteshaltung kontrolliert unsere Handlungen, und unsere Handlungen bestimmen unser Schicksal.

Ich glaube, Vorsätze zu fassen ist etwas Großartiges und sehr Schönes, denn es gibt keinen anderen Weg zur Änderung des Charakters. Wenn wir mit uns zufrieden sind, wie wir jetzt sind, sind wir weniger als menschlich, denn es liegt ein unauslöschlicher, unsterblicher Hunger nach Besserem und Größerem im Menschenherzen. Jeder normale Mensch empfindet dies, und der über dem Durchschnitt stehende Mensch läßt sich davon leiten. Wenn wir diese Vorstellung gedanklich erst einmal klar erfaßt haben, werden unsere Vorsätze nicht nur Neujahrsentschlüsse bleiben. Es werden Vorsätze für jeden Monat, ja, für jeden Sonnenaufgang.

Hilfe von den Lehrern

Niemals weisen die Lehrer eine ernsthafte Menschenseele zurück. Sobald ein Hilferuf von jemandem ausgeht, und sei es nur in der Stille des eigenen, persönlichen Kämmerleins, nachts, wenn man im Bett liegt, oder sei es woanders, wo die menschliche Not am größten ist – wenn der Hilferuf von einem aufrichtigen Menschenherzen ausgeht, dann erreicht dieser Ruf sein Ziel entlang der wunderbaren Kraftströme, die wir Ākāśa nennen. Jeder dieser Rufe wird geprüft – jeder. Die Folgen hängen davon ab, ob die Lehrer in dem Menschenherzen auch nur den schwächsten Schimmer des Buddhischen Glanzes sehen: das heißt, ein selbstloses Streben nach größeren Dingen. Aber der Ruf darf nicht nur dem eigenen Selbst dienen: „Ich und meine Frau, mein Sohn Johannes und seine Frau, wir vier und sonst niemand.“ Das ist kein Ruf an das Universum, das ist nur persönlich. Dieser Ruf dringt nicht hinaus, es ist kein Glanz darin. Wenn es aber ein wirklicher Ruf nach Hilfe und Licht ist, dann liegt ein Schimmer des Buddhischen Glanzes darin, ein Schimmer des Lichts, das von den Göttern zu uns kommt. Die Meister beobachten dies, sie fördern diesen Schimmer himmlischen Glanzes, der in jenen Menschenherzen brennt; sie beobachten ihn sorgsam, stärken und unterstützen ihn, so gut sie können. Sie helfen und lenken mit allen geeigneten Mitteln, ohne den Willen oder die Entscheidungsfreiheit des Menschen zu beeinflussen. Sie bieten ihm Möglichkeiten auf seinem Weg, um höher zu steigen. Vielleicht zeigen sie ihm Bücher, die ihm helfen können. Er wird sorgfältig beobachtet, überwacht und unterstützt; und, wenn der Mensch versagt, ist es sein eigener Fehler und nicht der der Lehrer.

Ermutigung auf dem Pfad

Kein menschliches Wesen ist ohne Schwierigkeiten irgendeiner Art. Und wir sollten uns daran erinnern, daß die Sorgen und Unannehmlichkeiten des Lebens unsere wahren Freunde sind – Freunde, weil sie unseren Charakter stärken; sie geben uns Mitgefühl mit jenen, die leiden und in Not sind. Durch Stärkung der moralischen Kraft in uns, befähigen sie uns auch, unsere eigene Last leichteren und freudigeren Herzens zu tragen. Wenn mit der Zeit das Leiden seine wunderbare Arbeit an uns getan hat, erscheint es uns nicht mehr als Leid, sondern wir erkennen darin mit ruhigem und klarem Blick und mit einem fröhlichen Herzen das geheimnisvolle Wirken der Götter.

Durch Leiden und durch das Verlangen nach Licht machen wir Fortschritte. Wenn das Licht erscheint, dann entstehen auch der große Friede und die große Wahrheit, und unsere Herzen sind beruhigt.

Halten Sie sich diese Gedanken vor Augen, wenn Ihre Schwierigkeiten Sie überwältigen. Versuchen Sie, die wunderbare, stille und wohltuende innere Ruhe und Liebe zu Ihren Mitmenschen zu vervollkommnen. Sie werden entdecken, daß dies alles Ihnen in allen wesentlichen Belangen Glück und Erfolg bringt.

Bedenken Sie, daß karmisches Leiden nie ewig dauert und meistens kurz ist, obwohl es uns mitunter lang erscheinen mag. Und wenn sich dieses Karma aufgebraucht und erschöpft hat, dann endet es und läßt einen neuen und besseren Zyklus entstehen.

Ich will versuchen, Ihre Frage bezüglich des Mangels an Zeit, die Ihnen für ein tieferes Studium der theosophischen Lehren fehlt, zu beantworten. Ich kenne Ihre Lage genau, und ich weiß, wie Sie sich danach sehnen, dem Studium der Grundlagen der Theosophie mehr Zeit widmen zu können. Das ist wirklich äußerst wichtig, aber darf ich Sie andererseits darauf hinweisen, daß es größer und edler ist, sein Leben der Sache der Meister zu widmen, als ein Wissen über die technische Theosophie zu haben; und das tun Sie ja. Dieses Handeln veredelt ein Karma mehr als ein Leben, das dem Studium technischer Philosophie gewidmet ist.

Ihre Situation bringt mir die einiger Chelas in Erinnerung, deren Herzen danach verlangten, mehr Zeit mit dem Studium der Weisheit der Götter zu verbringen. Sie sind aber dazu berufen, ihren Wunsch zu opfern und als Sendboten in die Welt zu gehen, um das an andere weiterzugeben, was sie selbst bereits erreicht haben. Verstehen Sie nicht, daß Ihr Problem dem dieser Chelas etwas ähnelt? Indem sie ihren Herzenswunsch nach mehr Licht hingegeben haben, sind sie selbst gewachsen. Sie haben innerlich tatsächlich mehr erreicht, als sie gewinnen würden, wenn sie die von den Lehrern auferlegte Pflicht versäumt hätten.

Darum lassen Sie sich von dieser Vorstellung trösten. Sie machen spirituell und intellektuell Fortschritte. Auch moralisch wachsen Sie, denn Sie führen ein edles Leben im Dienst an unserer heiligen Sache. Sie geben alles, was Ihnen möglich ist, ohne an Belohnung zu denken. Die Meister erwarten nicht einmal von ihren höchsten Schülern mehr.

Seien Sie daher nicht traurig und nicht entmutigt. Sie baten mich um meine ehrliche Meinung und um meinen Rat, den ich Ihnen jetzt gebe: ich wiederhole, daß Sie bei dem, was Sie jetzt tun, spirituell und intellektuell schneller wachsen, als jemand, der allein irgendwo luxuriös und bequem lebt und sein Leben einem Studium ganz für sich allein widmet. Bedenken Sie, daß der Chelapfad mit einem Selbstopfer für die Welt beginnt und ebenso endet – wenn es tatsächlich eine Ende gibt, was nicht der Fall ist. Auf diese Weise entstehen die großen Meister der Weisheit und des Mitleids und des Friedens. Auf diese Weise werden die Buddhas hervorgebracht.

Trotzdem ist das Studium der Grundlagen wichtig. Ich freue mich sehr, daß Sie immer wieder davon sprechen, denn es beweist, daß Sie genau die richtige Einstellung haben. Ich weiß aber auch, daß Sie einen großen Teil des technischen Wissens gerade dadurch gewinnen, daß Sie sich von ganzem Herzen der theosophischen Arbeit widmen. Sie nehmen es dabei auf, vielleicht ohne es zu merken. Sie entnehmen es der theosophischen Atmosphäre; und alles, was ich von Ihnen gelesen habe, zeigt mir, daß Sie ein großes grundlegendes Verständnis erlangen. Es ist eine tatsächliche Wahrheit der weißen Magie, daß ein Mensch durch selbstlosen Dienst an unserer Sache mehr lernt, als wenn er nur an sein eigenes Vorwärtskommen denkt und seine gesamte Zeit nur seiner persönlichen Entwicklung widmet. Letzteres ist genau betrachtet selbstsüchtig. Es verschließt die Tore des Herzens und des Verstandes gegen das spirituelle Licht. Deshalb ist zwar der Wunsch nach persönlichem Fortschritt de facto ein edler, wenn er aber selbstsüchtig verwirklicht wird, verhindert der selbstsüchtige Wunsch sogar das Erreichen des Zieles, nach dem ein solcher Mensch strebt.

Sie haben in dieser Hinsicht nicht viel zu befürchten. Ihr Leben, das Sie so wunderbar dem Dienst an unserer heiligen Sache verschrieben haben, bringt Sie spirituell und intellektuell in eine Lage, in der Sie, wie ich schon gesagt habe, mehr lernen als auf irgendeine andere Weise, vielleicht ohne es jetzt zu erkennen.

– Auszüge aus einem Brief

Die Natur in stillem Gebet

Ist Ihnen je aufgefallen, daß der religiöse Instinkt des Menschen, weil er durch ihn am gesamten Universum Anteil hat, vielleicht der tiefgründigste und zarteste und in gewissem Sinne der höchste Instinkt seines Wesens ist? Daß die Empfindung von Ehrfurcht und Verehrung den Menschen so erheben, weil er durch sie seine unbedeutende Persönlichkeit verliert, und daß die Ehrfurcht und die Verehrung, die in ihm sind, wenn er nur ein wenig erwacht ist, auch in der Natur vorhanden sind? Sind Ihnen die Folgerungen, die Sie daraus ziehen müssen, bewußt? Mir waren diese Gedanken schon seit meiner Kindheit sehr vertraut. Ich ging gewöhnlich nachts hinaus und betrachtete die majestätischen Sterne. Am Tage stieg ich auf die Berge, legte mich auf die grünen Wiesen, um die Wolkenbilder zu beobachten, und überall erkannte ich Verehrung und Ehrfurcht.

Damals erschien es mir – wenn ich die Gedanken meiner Kindheit zum Ausdruck bringe –, als ob sich die ganze Natur in stillem Gebet befände. Ich sah überall Erhabenheit, unaussprechliche Weisheit, weil ich sie in mir fühlte, unentwickelt natürlich, aber der Keim lag in mir, weil ich ein Kind der Götter bin. Die Götter sind in mir, weil sie auch in der Natur sind. Für mich ist die Natur immer – im höchsten Sinne des Wortes – religiös: ihre Ordnung, ihre Erhabenheit, ihr Mitleid lassen ihre unaussprechliche Macht und ihre Weisheit ermessen, die überall und in allem zu erkennen ist. Diese Dinge haben mir immer das Vorhandensein dessen bezeugt, was sich so zart und nur schwach bewußt in mir zu offenbaren begann.

Wie ehrfurchtsvoll sollten wir gerade auch in unserer Einstellung unseren Mitmenschen gegenüber sein, denn wenn wir diese Gedanken hegen, die uns als Menschen eine so große Würde verleihen, dann fühlen wir, daß wir, wenn wir einem Mitmenschen die Hand reichen, wie der Dichter sagt, einen Gott berühren. Darin liegt etwas Großes. Das Bewußtsein des Menschen hat sich dann über das Oberflächliche, Gewöhnliche, Kleine und Niedrige und Unvollkommene erhoben zu den großen fundamentalen Maßstäben des Universums und Lebens.

Bedenken Sie: Die Natur, selbst unser kleines Sonnensystem als eines der unzähligen Wesen im grenzenlosen Raum, ist eine religiöse Wesenheit. Ihr Verhalten zeigt Verehrung und Ehrfurcht und Ordnung. Warum? Wegen der innewohnenden kosmischen Seele, wie Emerson sagt, dem innewohnenden Geist, der aus dem Grenzenlosen stammt. Als Kinder des Raumes, wie Sie und ich, sind wir ebenso auch Kinder des Grenzenlosen.

Zwei Auffassungen von der Realität

Was während des kosmischen Mahā-Pralayas immer noch ist, ist das Wirkliche, die Wirklichkeit, Sat, genauer gesagt, Asat, Tat; und all die manifestierten Universen werden herausgeträumt, wenn Brahma(n)nwährend dieser Zeit in den Schlaf fällt, die wir das Manvantara nennen.

An dieser Stelle muß darauf hingewiesen werden, daß es in diesem Punkt eine Meinungsverschiedenheit gibt, nicht im Wissen, sondern in der Ausdrucksweise, sogar unter den Okkultisten. In alten Zeiten war es allgemein üblich – ich benutze jetzt die Hindu-Bezeichnungen –, vom Erwachen Brahmans zu sprechen, das zu Brahmā und dem gesamten manifestierten Universum mit allem darin Enthaltenen wird. Anders ausgedrückt, Brahman erwacht, wenn das Manvantara beginnt, und fällt in Schlaf, wenn das Pralaya einsetzt. Das ist richtig, wenn man es von diesem Blickwinkel aus betrachten will. Ich möchte hier anfügen, daß diese Idee auch in der Philosophie der Griechen und Römer zu finden ist. Um das zu illustrieren, braucht man nur den Stoiker Cleanthes zu zitieren. Obgleich Grieche, kleidete er den Gedanken in die lateinischen Worte: Quodcumque audiveris, quodcumque videris, est Jupiter, „Was immer Du hörst und siehst, alles ist Jupiter“ – im alten Hindustan war das ein ganz vertrauter Gedankengang. Man sagte dort, Brahmā habe das Universum aus sich selbst hervorgebracht, mit anderen Worten, Brahmā ist das Universum und alles, was es enthält, und bleibt doch transzendent. Man erinnere sich der Worte Krishnas in der Bhagavad-Gītā: „Ich errichte dieses ganze Universum mit einem einzigen Teil von mir, ohne dadurch meine selbständige Existenz aufzugeben.“

Den gesamten Vorgang kann man jedoch auch noch von einem anderen, ebenso richtigen Blickwinkel aus betrachten. Vielleicht ist dieser sogar noch spiritueller und wirklichkeitsnäher als die vorige Betrachtungsweise, wenn ich darüber nachdenke. Aber er ist für uns Menschen schwieriger zu begreifen. Er geht davon aus, daß Brahman erwacht, wenn das Mahā-Pralaya erwacht, denn dann beginnt sozusagen das Wirkliche seine Flut von Lebewesen von neuem auszuströmen. Die phänomenalen Universen haben bis zum Beginn des nächsten Manvantara zu existieren aufgehört und verschwinden wie Blätter im Herbst, wenn der Herbst zu Ende geht, und der Winter beginnt. Von den Winden des Pralaya hierhin und dorthin geweht, hört schließlich alles manifestierte Leben in seiner manifestierten Form auf. Alles, was Wirklichkeit ist, wird nach innen und aufwärts zur ursprünglichen Wirklichkeit eingezogen. Und dann ruht die Göttlichkeit in sich selbst. Das versteht man unter dem Begriff Paranirvāna. Jetzt ist das Göttliche vollständig erwacht. Bis zum Beginn des nächsten Manvantara hat es keine Träume mehr.

Die Befürworter der zuletzt erörterten Betrachtungsweise vertraten im Altertum den Standpunkt, daß das Wirkliche erst dann vollständig erwacht, wenn die manifestierten, phänomenalen Dinge in den Pralayazustand eintreten. Um dies zu illustrieren, bedienten sie sich verschiedener bildlicher Ausdrucksweisen oder Sprachfiguren. Eine besonders bevorzugte war, alle manifestierten Welten könne man so betrachten, als wären sie lediglich Träume von Brahman. Brahman schläft und träumt karmische Träume, Träume, die durch Karma bedingt sind. Diese Träume sind die Welten des Manifestierten und all dessen, was in ihm ist. Wenn der Traum endet und das Universum verschwindet, wenn die Träume enden und die Universen verschwinden, erwacht Brahman. Es tritt wieder in Existenz.

Ich meine, beide Betrachtungsweisen sind richtig. Aber ich habe mich, wie gesagt, oft gefragt, ob nicht die zweite Betrachtungsweise die erhabenere, der unaussprechlichen Wahrheit nähere ist, als die populärere, die einfacher zu verstehen ist. Wir können Analogien dazu in unserem eigenen Leben finden. Wenn wir morgens erwachen, beginnen wir unsere täglichen Pflichten, wir erfüllen sie, und sie sind karmischer Natur. In der Nacht jedoch, wenn wir schlafen, verschwinden die physischen Dinge und die niederen Denkformen aus unserem Bewußtsein. Wir treten mit unserer inneren Göttlichkeit in engere Verbindung. Wir erheben uns, nähern uns dem inneren Gott, dem Abstrakten, und wenden uns vom Konkreten ab.

Ich glaube, diese zweite Betrachtungsweise, obwohl sicher nicht richtiger als die erste, läßt uns etwas besser verstehen, was man unter dem Begriff Mahā-Māyā versteht, unter kosmischer Māyā.

Wenn man sich vergegenwärtigt, wie am Ende des Lebens von Brahmā, wenn selbst die Tage und Nächte Brahmās aufgehört haben zu existieren, weil die letzte Wirklichkeit sie ausgelöscht hat, und Brahmā mit dem Innersten des Herzens des Wirklichen verschmilzt, wenn man begreift, daß also alles ausgelöscht wird, alles verschwindet, alles gleichsam nach innen und aufwärts zurückgezogen wird, dann scheint mir die zweite Feststellung, wie man das Erwachen und das Einschlafen von Brahmā deuten kann, der Wirklichkeit näherzukommen. Am Ende von Brahmās Leben, wenn Brahmā wieder zu Brahman wird, hören nicht allein alle manifestierten Dinge auf zu existieren wie sich auflösender Nebel. Selbst der kosmische Mahat hört mit seiner Tätigkeit auf und verlöscht. Auch Mahā-Buddhi verschwindet, nichts bleibt, nur Brahman. Für eine uns unendlich erscheinende Zeitdauer, für einen Zeitraum von Hunderten von Trillionen Jahren, verbleibt Brahmā in einem Wachzustand, träumt keine Träume von karmischen Universen, sondern – wie wir es auszudrücken gezwungen sind – ist in die Realität gesunken, in die unaussprechlichen Tiefen von Brahmans eigener Essenz. Alles außer Brahman hat aufgehört zu sein. Die Träume sind zu Ende. Erst wenn der neue Lebenszyklus beginnt, wenn sich Brahmā erneut verkörpert, erwacht die Galaxie; Brahman aber beginnt wieder zu träumen, träumt die Welten, träumt die Universen in ihre Existenz, träumt die karmischen Träume des Schicksals. Auf diese Weise wird das Eine zu den Vielen: die Armeen, die Heere, die Vielzahl der Wesenheiten beginnen aus dem Bewußtsein des Unaussprechlichen hervorzuströmen. Wieder einmal wird der abstrakte Raum mit Sonnen, mit Sonnensystemen und mit sich drehenden Welten erfüllt.

Daraus ergibt sich, daß man Brahman und Brahmā, das Kind Brahmans, nicht nur auf eine Planetenkette beziehen kann, sondern ebensogut auf ein Sonnensystem, eine Galaxis, oder auf einen noch größeren Bereich, wie z. B. auf eine Supergalaxis, die viele Galaxien innerhalb des endlosen Raumes umschließt. Anders ausgedrückt, die Begriffe Brahman und dessen Kind Brahmā kann man auf jede, auf alle die verschiedenen Stufen unterschiedlicher Größe anwenden. Brahman träumt karmische Träume, und die Universen treten ins Dasein; sie erscheinen wie Samen des Lebens oder Keime des mütterlichen Raumes; und das nennen wir Manvantara oder Mahā-Manvantara. Wenn umgekehrt die Träume Brahmans zu Ende gehen, hören die Welten auf zu existieren und Brahman beginnt, sein eigentliches Selbst wahrzunehmen.

Abschließend sollten wir uns außerdem vergegenwärtigen, daß wir das grenzenlos Unendliche, das Anfang- und Endlose, das Unbegrenzte, mit dem Sanskritwort Tat bezeichnen. Es bedeutet einfach: „Jenes“. Alle die unzähligen Brahmans, seien sie groß oder klein, sind in ihren unzähligen Mengen alle im grenzenlosen Tat enthalten.

Die Orakel der Alten

Die Orakel beantworteten Fragen niemals direkt mit Ja oder Nein. Sie redeten nur in Sprachbildern. Ihre Ausdrucksweise war immer so, daß sich der Fragesteller vor die Notwendigkeit gestellt sah, seine eigene Entscheidung zu treffen und somit seinen eigenen freien Willen und seine eigene Intelligenz zu benutzen. Würde sich das Orakel anders verhalten – und Sie können die ethische Bedeutung sofort verstehen –, so würde der freie menschliche Wille in Zeiten der Anspannung und Bedrängnis, also gerade dann, wenn ein Mensch ganz besonders eine innere Entscheidung treffen muß, nachhaltig beeinflußt werden. Dadurch, daß man ihm den Weg zu Sicherheit, Frieden und Erfolg zeigen würde, würde man ihm seinen Weg so ebnen, daß sich sein Karma gar nicht richtig auswirken könnte, er wäre moralisch verletzt. Würde ein schlechter Mensch dem Orakel die Frage stellen: „Werde ich Erfolg haben, wenn ich dies und jenes tue?“ und der Gott würde „Ja“ sagen, dann wäre dies genauso, als würde die Gottheit dem Fragesteller den Weg in den Abgrund zeigen.

Ich erzähle Ihnen ein Beispiel: Krösus, der König von Lydien, war zu seiner Zeit ein mächtiger Herrscher. Er war ehrgeizig und glaubte sich von den ihn umgebenden Feinden sehr gehaßt; und es kam die Zeit, als die Perser einige seiner Handlungen mißbilligten. König Krösus war sich nicht sicher, ob er mit den Persern jetzt einen Krieg anfangen sollte oder nicht. Um sich für die Rechtmäßigkeit seines Unternehmens göttliche Autorität zu sichern, schickte er Gesandte nach Delphi und ließ dort den Gott Apollo fragen: „Soll König Krösus mit den Persern einen Krieg beginnen?“ Das Orakel antwortete: „Wenn König Krösus mit den Persern einen Krieg beginnt, wird er ein mächtiges Reich zerstören.“ Krösus dachte in seiner Torheit und Selbstsucht, dies wäre ein göttliches Versprechen für einen Erfolg seiner selbstsüchtigen Pläne Er stürzte sich also in einen Krieg mit Persien – und verlor sein eigenes, mächtiges Reich. Er zerstörte ein Reich, aber es war sein eigenes. Erkennen Sie den ethischen Hintergrund?

Pflicht und moralisches Gleichgewicht

Allein das Wissen um die segensreiche Wirkung von Karma mit seinen unendlich gerechten Maßstäben für Gerechtigkeit bewahrt den Verstand und das Herz der Menschen davor, in tiefste Verzweiflung zu fallen. Nur dieser Schlüssel ist es, der die heutigen Menschen, falls sie ihn zu gebrauchen verstehen, zu höheren Bereichen führt, aufwärts mit einer sich erweiternden Vision, bis wir schließlich die Wirklichkeit sehen, wenigstens so viel davon, wie unser Verstand fassen kann. Schließlich begreifen wir, daß trotz allen Leides, das es in der Welt aufgrund der karmischen Notwendigkeit gibt, grundsätzlich alles wohlgeordnet ist.

Möge jedoch niemand sein Herz verhärten und glauben, er müsse sich nicht anstrengen, anderen zu helfen oder eine helfende Hand auszustrecken oder dem Verdurstenden einen Schluck kühlen Wassers zu reichen. Erinnern Sie sich an das alte Gesetz, das H. P. Blavatsky lehrte: wenn Barmherzigkeit not tut, wird Untätigkeit zu einer Todsünde.

Ich möchte gern wissen, wieviele von uns unsere fundamentale Lehre der Universalen Bruderschaft vergessen. Es sind ganz einfache Worte. Sie scheinen so abgedroschen zu sein und dennoch enthalten sie die Lehre der Götter. Sie umfassen das ganze Gesetz und alle Propheten. Seien Sie sich immer dessen bewußt, daß Wissen nicht nur Macht bringt. Es schließt auch Verantwortung in sich ein. Was noch entschuldbar ist, wenn Sie unwissend sind, wird Ihnen als belastend angerechnet, wenn Sie das Gesetz kennen. Das ist nur einer der Gründe dafür, weshalb die Meister die tieferen Lehren der Theosophie, die okkulten Lehren, so strikt geheimhalten. Viel wird demjenigen verziehen, der nicht weiß. Wenig wird demjenigen verziehen, der weiß und untätig bleibt. Nichts würde demjenigen verziehen, der weiß, der die Macht zu handeln hat, der aber trotzdem nicht tätig wird. Er macht sich eines Verbrechens gegen die Natur schuldig. Das Einzige, worauf wir als Schüler der alten Weisheit achten müssen, ist, niemals eine Handlung zu begehen, durch die ein Bruder gekränkt oder verletzt wird. Es ist dabei völlig gleichgültig, wie berechtigt wir uns dazu fühlen. Genauso bedeutungslos ist es, ob unser Bruder unserer Meinung nach im Unrecht ist. Es ist Ihre und meine Pflicht, allein dem eigenen Dharma zu folgen. Unser eigenes Dharma, unsere eigene Pflicht, zu vernachlässigen, statt dessen sich aber anzumaßen, über einen Bruder zu richten, Maßnahmen gegen ihn einzuleiten, um gegen ihn vorgehen zu können, das birgt eine Menge Gefahren in sich. Dharma oder die Pflicht eines anderen ist für Sie äußerst gefährlich. Verfallen Sie daher niemals der Kritiksucht!

Ach, was sind das alles für einfache Wahrheiten. Wie logisch und wie klar sind sie und wie sehr mahnen sie uns! Unsere Erde wäre ein Himmel, wenn wir Menschen ihnen nur folgen würden! Aber die Menschen machen sich heutzutage selbst etwas vor, sogar die Vertreter hoher öffentlicher Ämter. Unglücklicherweise glauben sie, Auseinandersetzungen, Bestrafung und Haßtiraden wären eine moralische Pflicht. Zeigen Sie mir eine einzige Redewendung von einem der Heilande der Welt, die dieses Verhalten rechtfertigen würde, nur eine einzige Passage. Sie werden keine finden. Das Geheimnis liegt vielmehr darin, daß man seine eigene Pflicht erfüllen muß, ganz gleich, wo man sich befindet und zwar immer. Sie haben eine Pflicht sich selbst gegenüber, Ihrer Seele gegenüber. Es ist die vordringlichste Pflicht eines Menschen, aufrichtig zu denken, lautere Gedanken zu pflegen, ein makelloses Leben zu führen und niemals einen Bruder zu verletzen. Die nächsten Pflichten sind dann jene, die man seiner Familie und seinem Land gegenüber zu erfüllen hat; und einige wenige haben die Pflicht gegenüber den Göttern oder Halbgöttern. Das alles ist jedoch in der einen Feststellung über die universale Pflicht eines Menschen der Menschheit gegenüber enthalten, die alle anderen in sich einschließt.

Bilden Sie sich keinen Augenblick ein, ich hätte Widersprüchliches geäußert, daß es nämlich einen Konflikt geben könnte zwischen dem Gerechtigkeitsempfinden gegenüber der Person Y oder dem Gerechtigkeitsempfinden gegenüber der Person X. Einen solchen Unterschied kann es niemals geben. Unmöglich. Sollte es in Ihrem Denken je solch einen Konflikt geben, dann zeigt das nur, daß Ihr Verstand noch nicht klar genug ist, und daß Sie sich noch an etwas klammern. Wenn Ihr Verstand klar genug ist, um die spirituelle Inspiration in sich zu fühlen, werden Sie keine Zweifel haben. Was Ihre Pflicht ist, wird Ihnen klar vor Augen liegen, denn richtige Pflichterfüllung macht es niemals erforderlich, einem anderen Menschen zu schaden. Die Schwierigkeit ist es manchmal, in Zeiten der Verzweiflung, wenn wir uns sehr bemühen herauszufinden, was das Richtige ist, zu wissen, was das Richtige ist. Der Grund dafür liegt in unserem noch sehr unvollkommenen spirituellen und intellektuellen Wachstum. Alles, was wir in einer solchen Situation tun können, ist einfach unser Bestes zu geben, das Prinzip der Regel einzuhalten, nie einen anderen Menschen zu verletzen, loyal zu unserem Wort zu stehen und an unserem Gelübde festzuhalten. Seien Sie aufrichtig und in allen Belangen in Ihrer Gesinnung sauber. Seien Sie anständig und ohne Arg. Seien Sie weise wie Schlangen, das heißt, weise wie Adepten, und unschuldig und arglos wie Tauben. Die Taube war in alten Zeiten das Symbol für einen Chela.

Ein großer Europäer wurde einmal gefragt, was er in einer Pflichtenkollision als die vorrangigste Pflicht betrachte. Seine Antwort war: erfülle die Pflicht, die dir als erste vor die Füße kommt. Alle anderen Pflichten werden dann ihren angemessenen Platz erhalten. Ein Mensch, der so handelt, wird, weil er sich selbst getreu ist, auch seiner Familie gegenüber getreu sein. Natürlich wird er auch seinem Vaterland gegenüber ergeben sein und sich mit der Ausweitung der Vision, die die Befolgung dieser Regel mit sich bringt, schließlich auch der gesamten Menschheit gegenüber richtig verhalten.

Ein Leben – ein Gesetz

Wie großartig bringt die uralte, göttliche Weisheit der Menschheit alle Erscheinungen der Natur auf einen einzigen majestätischen Nenner, so daß alle Dinge in den Bereich eines einzigen, für uns Menschen verständlichen Gesetzes fallen: die göttliche Weisheit zeigt uns, daß so, wie wir geboren werden, wie wir unsere kleine Lebenssphäre mit Leben erfüllen und sterben, dies auch die Welten tun und die Sonnen in diesen Welten und die Planeten und die verschiedenen Naturreiche der verschiedenen Sonnen und die Atome, die alle Dinge bilden, und die Elektronen in den Atomen. Alle sind periodischer Natur; nicht nur in dem Sinne, daß sie sich zyklisch verhalten, sondern weil sie Perioden haben: Anfänge, Höhepunkte, Endphasen und nach der Vollendung des Zyklus in den unsichtbaren Welten erfolgt ein neuer Anfang, ein zweiter Höhepunkt und dann ein Verschwinden, ein erneutes Eintauchen in die unsichtbaren Welten, um dort neue und unendlich größere Abenteuer zu erleben, als unser kleineres Sonnensystem sie bieten kann.

Alle Dinge funktionieren ähnlich, weil die Natur nur ein Grundgesetz hat, das seinem Ursprung nach – ein göttlicher Ursprung – nur Energie ist. Gewohnheiten, Abläufe, Naturgeschehnisse werden alle von den gleichen kosmischen Kräften und Intelligenzen regiert, was einfach heißt, daß alle Dinge diesen gleichen fundamentalen Gesetzen in ähnlicher Weise gehorchen, daß alle unter der Herrschaft des kosmischen Lebens stehen und all die möglichen Variationen durchlaufen, die die Natur zu unserer Bewunderung und höchsten Verehrung so verschwenderisch bereithält. Wenn auch alle Dinge, alle Wesen, den gleichen fundamentalen Gesetzen und Bahnen folgen, so hat doch jede Einheit, gerade weil sie eine Einheit und ein Individuum ist, ihr eigenes Mindestmaß an Willen – nennen Sie es freien Willen, wenn Sie wollen –, wodurch sie mehr oder weniger ihre eigenen Bahnen verändern, modifizieren kann, doch stets innerhalb der umfassenden Energie des Universums.

Das bedeutet: Wenn auch alle Wesen diesen allgemeinen Regeln und analogen Verfahrensregeln folgen – Analogie ist der Hauptschlüssel des Lebens –, modifizieren sie doch, eben weil sie Wesen sind, kraft ihrer eigenen innewohnenden Energie, die aus der kosmischen Quelle entnommen wird, mehr oder weniger die Einzelheiten der Verfahren und Bewegungen. So wird auch die Sonne wie ein Kind geboren, aber die Einzelheiten sind verschieden. Die Details sind nicht so wichtig wie der Hauptfaktor: die Geburt, das Wachstum, der Tod, die unsichtbaren Welten, die neuen Abenteuer, das Wiedererlangen einer neuen Verkörperung, ein neuer Höhepunkt auf einer etwas höheren Ebene, ein neuer Tod, dem wieder die gleiche Umdrehung des Lebensrades folgt – aber immer fortschreitend, immer wachsend, immer größer werdend. Schritt für Schritt entwickeln sich alle Dinge weiter.

Daher ist es wirklich so, wie der Okkultismus, die göttliche Weisheit, zeigt, daß man, wenn man das Schicksal, die Geburt, den Ursprung und das zeitweilige Ende einer Sonne kennenlernen will, einen Menschen von der Geburt an bis zum Tode studieren muß. Und wenn Sie es können, dann studieren Sie seine Abenteuer nach dem Tod, und Sie werden wissen, was die solare Gottheit, aber natürlich auf größeren und höheren Ebenen, in den unsichtbaren Welten erlebt. Unsere sichtbare Welt ist nur eine Schale, ist nur der Körper, der äußere Panzer, die Haut der Dinge. Das Leben, die Individualität, die Kraft, der Wille, das Denken, die wirkliche Wesenheit, sind nicht diese äußere Schale. Ob ein Mensch, eine Sonne, ein Sonnensystem, eine Milchstraße oder ein ganzes Universum – die Wirklichkeit liegt im Innern. Und der Körper bringt mehr oder weniger zum Ausdruck, wenn auch nur schwach, was die inneren Kräfte auf dieser äußeren Ebene hervorbringen.

Wer von Ihnen die wissenschaftlichen Experimente verfolgt hat, wird das noch besser verstehen als jene, die sie nicht studiert haben. Aber wenn Sie etwas darüber nachdenken, dann werden Sie alle wissen, daß Sie Ihre Kraft, Ihre physische und geistige Kraft, Stunde um Stunde verströmen. Der Mensch, der eine große Idee hervorbringt, erschüttert die Fundamente der Zivilisation. Der Mensch, der ein majestätisches kosmisches Philosophiesystem schafft und die Menschheit mit Bestimmtheit führt – ist es nicht seine Vitalität, die die Menschen bewegt? Das sind Tatsachen. Der einzige Unterschied zwischen einer Sonne und einem Menschen liegt in den Einzelheiten, von denen einige majestätisch, wirklich majestätisch sind; die Abläufe unterscheiden sich aber tatsächlich nur in den Details. Das Grundprinzip des fundamentalen Gesetzes ist für alle gleich. Jeder Mensch ist tatsächlich nur eine embryonale Sonne, eine Sonne, die in der entfernten Zukunft entstehen wird – nicht sein Körper, denn dieser ist nicht der Mensch. Sein Körper ist nur seine Haut, seine Bekleidung aus Fellen, von der in der Genesis des Alten Testaments gesprochen wird. Ein Mensch ist die innere Kraft, der Geist oder die Monade. Diese Energie oder Kraft ist es, die verursacht, daß der Mensch von der Geburt bis zum Tod der gleiche ist, die verursacht, daß die Sonne ihre Form bewahrt und von ihrer Geburt bis zu ihrem Tod ihre Funktion beibehält. Ein Atom, eine Blume, ein Baum oder ein Tier – alle unterliegen dem gleichen kosmischen Gesetz der Ähnlichkeiten, wenn nicht positiver Gleichheiten. Lediglich das Detail variiert.

Die weisesten und größten Männer des Altertums wiesen darauf hin, daß unser Vater Sonne in der Tat Vater Sonne war, doch ebenso unser älterer Bruder; unser Vater und doch unser Bruder. Das Tier und die Pflanzen sind gewissermaßen unsere Kinder, denn sie blicken zu uns auf, so wie wir zu den Göttern. Sie sind in gewissem Sinne unsere Kinder, und sie folgen unseren Spuren zur Menschheit hin, zum Status und zur Entwicklungsstufe der Menschheit. Die Tiere folgen uns langsam nach, so wie wir zu den Göttern aufblicken, unseren Eltern und Großeltern. Und wenn wir unsere Seelen mit ihrer Lebenskraft und einem Funken ihrer leuchtenden Intelligenz erfüllt und inspiriert finden, dann werden wir auf dieser Erde zu Gottmenschen, weil unsere Gedanken und unsere Gefühle gottgleich sind und unsere Handlungen, die unseren Gedanken und Gefühlen folgen, ebenfalls gottgleich werden.

Daher sind die Atome des Körpers und die Moleküle und Protonen und Elektronen, die die physische Substanz des Körpers aufbauen, in gewissem Sinne seine Kinder, und sie empfinden den Eindruck unserer Gedanken und Gefühle. Entsprechend leiden sie durch unsere Sünden und werden durch unsere Tugenden erhoben; so eng sind alle Dinge verknüpft, ein Lebensgewebe, von dem jeder Strang ein Produkt spiritueller Magie ist.

Ich sage Ihnen, daß wir selbst für die Atome, die unseren Körper aufbauen, Verantwortung tragen, ob wir ihr Wesen beschmutzen oder reinigen. Wenn wir das Wesen der Atome beschmutzen, die uns bilden, werden sie eines Tages zu uns zurückkehren und gesäubert werden wollen, reingewaschen von den Sünden, die wir ihnen aufluden. Und das gilt für alle inneren Bereiche der menschlichen Konstitution, für die Vehikel seines Geistes, seiner Gefühle und seiner Gedanken.

Geburt und Tod: Was sind diese Veränderungen? Eine Geburt im Körper ist für die Seele ein Tod, denn sie verläßt ihre eigenen inneren Sphären, ihre eigenen inneren Ordnungen ihres dortigen Lebens und steigt oder fällt sozusagen wie ein Stern zur Erde und wird im hilflosen Körper eines menschlichen Babys geboren und muß dann in dieser Zeit die karmische Rückzahlung für ihre ganze Vergangenheit erfahren. Und wenn wir sterben, ja, wenn wir sterben, dann sind wir befreit, dann schwingen wir uns vorwärts und aufwärts und weiter auf den Flügeln unserer Seele; diese starken Schwingen tragen uns durch all die planetarischen Wohnungen bis zum Thron von Vater Sonne. Es ist die Wiedergeburt für die Seele, so wie die Wiedergeburt auf dieser Erde für die Seele Tod bedeutet. So ist es bei der Sonne, so ist es mit den Welten, die geboren werden und sterben. Die Sonne verliert viel von ihrer Herrlichkeit, wenn sie sich auf dieser Erde verkörpert. Wenn die Stunde für die Sonne geschlagen haben wird und sie von dieser Ebene scheidet, eilt sie wie ein göttlicher Gedanke direkt in die unsichtbaren Reiche und fliegt in Herrlichkeiten, die wir uns nur schwach vorstellen können. Die Blume, die ihre Seele durch Duft und Schönheit zum Ausdruck bringt, wiederholt bei ihrer Geburt aus dem Samen lediglich das gleiche kosmische Gesetz. Die Blumen sind junge Brüder des Menschen. Einige sind für uns giftig. Irgendwie haben wir sie in der Vergangenheit vergiftet. Jetzt vergiften sie in karmischer Rückzahlung uns.

Die Geburt eines Menschen von gewöhnlicher Menschlichkeit zur Mahatmaschaft ist eine innere Geburt. Das Wachstum eines Mahatmas zur Buddhaschaft oder Bodhisattvaschaft, oder wie die Vedantisten sagen, das Einswerden mit Ātman: die Entwicklung dieses Wachstums liegt in Ihrer Hand, und bei niemandem sonst. Es steht in Ihrer Macht, auf dieser Erde zu Gottmenschen zu werden; andererseits hat jeder von uns auch die Möglichkeit, sein Leben so zu ruinieren und zu schädigen, daß er dem furiengejagten Opfer gleicht, das in der griechischen Sage beschrieben wird, getrieben von unsagbaren Gewissensbissen und gejagt von dem Gefühl: Ich habe mein Spiel gespielt, und ich habe verloren. Zu spät, es ist zu spät! Die Theosophie sagt jedoch: Es ist nie zu spät! Wenn Sie Ihr Spiel schlecht gespielt haben, ordnen Sie Ihre Karten neu und spielen Sie wie ein Mann, spielen Sie mit dem Teufel um die Rettung Ihrer eigenen Seele, mit dem Teufel Ihres eigenen niederen Selbst und gewinnen Sie! Wenn Sie gewinnen, liegt die Göttlichkeit vor Ihnen. Über den Gipfeln des mystischen Ostens, des Ostens im Herzen jedes Menschen, geht die Sonne der Wahrheit auf, die die Heilung im Herzen trägt. Die Wahrheit wird Sie frei machen!

Die Theosophie Chinas

Sie haben heute von einem Menschen, der die Weisen Chinas liebt, etwas über die Theosophie jenes alten Landes gehört. Sie haben dabei tatsächlich auch ein wenig von der archaischen Weisheit des alten Atlantis vernommen, das China geerbt und aufbewahrt hat. Die heutigen Chinesen sind die bedeutendsten und ursprünglichsten Abkömmlinge des alten Atlantis, obwohl sie natürlich mit anderen Blutströmen der menschlichen Rasse vermischt wurden. Die chinesische Psychologie zeigt in ihrem Svabhāva, in ihrem Charakter, einen typisch atlantischen Esoterizismus. Das kann man besonders gut in den Lehren von Konfuzius und Lao-tse studieren. Ersterer stellte die Ausübung der Tugend, die Unterordnung unter das Gesetz und die überlieferte Ordnung in den Mittelpunkt seiner Lehren. Darin spiegelt sich eine Gedankenwelt, die besonders am Höhepunkt der atlantischen Kultur gepflegt wurde. Lao-tse lehrte über die Seele des Menschen eine Mystik, die sehr schwer zu durchschauen ist, sich jedoch sehr verführerisch darbietet. Sie fasziniert besonders unsere menschliche Natur und ermutigt diese, über sich hinauszuwachsen. Beide Denksysteme sind die Lehren von Weisen. Zu diesen gänzlich entgegengesetzten Denkansätzen des alten China gesellte sich nun die Spiritualität unserer eigenen fünften Wurzelrasse, wie sie in den Lehren des Gautama Buddha gefunden werden kann. Die Essenz seiner Lehre war universale Liebe und universales Mitleid ohne Unterschied und ohne Einschränkung, gepaart mit einem dem Spirituellen ergebenen Intellekt, also Eigenschaften, die das Beste in uns aktivieren. Tatsächlich sind die Lehren von Jesus, den man den Christus nannte, und die Lehren von Gautama, dem Buddha, den man als den Erwachten bezeichnete, wenn man sie richtig analysiert, im Kern ein und dieselbe Lehre, obwohl jede in ein unterschiedliches Gewand gekleidet und verschiedenartig ausgeschmückt dargeboten wurde. Sie repräsentieren beide die gleiche fundamentale Lehre, die zum Wohle der fünften Wurzelrasse verkündet wurde – Theosophie ist in beiden.

Ich bin jetzt sehr kühn, hoffentlich nicht zu kühn und riskiere den Versuch, die Bedeutung des Titels des einzigen schriftlichen Werkes Lao-tses, das uns überliefert wurde, zu interpretieren. Sein Titel lautet: Tao Teh Ching. King oder Ching bedeutet „Buch“, „Werk“, „Schatz“. Im alten China war Gelehrsamkeit so hoch geachtet, daß sogar ein Manuskript oder ein gedrucktes Buch, weil in ihm Gedanken ihren Niederschlag gefunden hatten, aus dieser Tatsache verehrt wurde. Kein echter Chinese, sei er Kuli, Mandarin oder Kaiser, hätte im alten China je eine gedruckte Seite zu einem schmutzigen obszönen oder gemeinen Zweck benutzt. Ein auf dem Boden liegendes Buch oder ein beschriebenes Blatt Papier, das ein Windstoß herabgefegt hatte, hätte er sorgfältig in Sicherheit gebracht. Gelehrsamkeit wurde im alten China als so bedeutend und für die Verstandesschulung als so wichtig erachtet, daß man sich für die Vorbereitung und das Training auf ein hohes Staatsamt nur sie allein als Kriterium vorstellen konnte. Wie sollte auch ein ungebildeter Mensch, ein untrainierter Verstand, einer, der nicht einmal seine Mitmenschen kennt, nichts über Geschichte, nichts über das Wesen und die Wirkungen von Gedanken weiß, fähig sein, ein Volk zu regieren? Wie könnte so jemand, so argumentierte man, ungebildet und innerlich unerweckt, sich selbst beherrschen? Wie seine Mitmenschen lenken und leiten? Das kann man nur, das wußten sie, wenn man seinen angeborenen, inneren Genius benutzt. Bei uns, so sagten sie, wo der Abkömmling des Himmels herrscht, sollte jedermann diesen angeborenen Genius in der richtigen Art und Weise gebrauchen. Er diene ausschließlich dazu, sein Wissen zu erweitern und dann mit diesem Wissen dem Staate zu dienen. King oder Ching bedeutet, wie gesagt, „Buch“, und weil ein solches das Ergebnis von weisen Gedanken ist, kann man den Begriff auch mit der Wortbedeutung „Schatz“ übertragen. Das Wort läßt sich daher nicht einfach übersetzen. Es kann nur umschrieben werden.

Tao-Teh läßt sich ebenfalls nicht wortwörtlich übersetzen. Es gibt über vierzig Wörter für Tao und genauso viele für Teh. Die grundsätzliche Bedeutung, soviel ich weiß, ist etwa: das Buch oder der Schatz hinsichtlich des Pfades, wie man mit dem wahren Wesen des Alls auf mächtige und wundervolle Art und Weise verschmelzen kann, wobei Tao alles Gesetz, alle Ordnung, alle Liebe und Weisheit sowie alle Intelligenz und Energie umfaßt, die im All enthalten sind. Tao ist sowohl der Pfad als auch der Pilger, der diesen Pfad beschreitet, und ebenso ist es das Ziel von allem. Es beschreibt genau das gleiche wie die Redewendung, die im Neuen Testament dem Avatāra Jesus in den Mund gelegt wurde, nicht dem Menschen Jesus, sondern dem Christus, dem Christus-Geist, dem Avatāra, der in jedem von uns ebenfalls vorhanden ist: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Ich gehe den Weg, ich verhelfe der Wahrheit zum Durchbruch, und ich lebe, um zu wirken. Ich bin der Sitz des Lebens, und dieses Leben ist das Ziel. Genau das, wie ich es sehe, ist die Essenz der Bedeutung von Tao. Jenes erwähnte Ziel ist nicht etwas, das sich außerhalb befindet. Es ist innen und außen, es ist überall. Jeder Mensch ist ein solcher Pilger, jeder Mensch ist in seinem Inneren dieser Weg. Der Weg und das Ziel sind eins. Das versteht man unter Tao.

Die Verantwortung der Wissenschaftler

Die ganze Menschheit durchläuft zur Zeit eine ihrer dunklen Geschichtsperioden. Die verständigsten Menschen sind verwirrt und verunsichert. Sie halten danach Ausschau, wo sie Hilfe finden können. Was ist da wohl nötiger als die Überzeugung, daß es echte geistige und sittliche Werte gibt, die nicht nur unter den Menschen, sondern überall in der Natur, von der die Menschen ja nur ein untergeordneter Teil sind, Gültigkeit haben? Der Mensch sollte die spirituelle Intuition und die Einsicht wiedererlangen, daß die Natur im Ganzen wie auch in ihren Teilen, von den geistigen bis zu den physischen Bereichen, aus verschiedenen Abstufungen von Bewußtsein besteht. Das würde den tragischen Verlust an Verantwortungsgefühl wettmachen, für den der Materialismus, das tote, seelenlose und mechanistische Denken einer verflossenen Wissenschafts-Ära verantwortlich gemacht werden muß, ganz abgesehen davon natürlich auch der Materialismus und Dogmatismus der offiziellen kirchlichen Organisationen.

Das sind für die Theosophen Gründe genug, die Verlautbarungen prominenter Wissenschaftler zu schätzen, durch welche denjenigen unter uns, die an eine Leitfunktion der Vertreter der Wissenschaft glauben, ein Weg zu einer geistigen und intellektuellen Verjüngung der menschlichen Rasse gewiesen wird. Auf den Schultern der Wissenschaftler ruht eine schwere Verantwortung, denn vor allem die Wissenschaftler werden von der Öffentlichkeit als richtungsweisend betrachtet. Meiner Meinung nach werden die zukünftigen Wissenschaftler, wenn sie ihrem edlen Werk treu und aufrichtig ergeben bleiben, die neuen Hohepriester der Natur werden. Ihr Tempel wird das Universum, ihr Altar der Altar der Wahrheit sein, und in ihrem Amt werden sie der Menschheit sowohl spirituelle und intellektuelle als auch physische Hilfe leisten.

Engel und Dämon

Es wurde die Frage gestellt, was meiner Ansicht nach der Engel in uns, was der menschliche Teil in uns, was der sogenannte Dämon in uns ist. Wir Theosophen verwenden die Ausdrücke Engel und Dämon nicht in ihrer alten christlichen Bedeutung, die tatsächlich davon ausgeht, daß sich ein Engel vom Himmel in der menschlichen Konstitution niedergelassen hat, oder daß ein Dämon von außerhalb der Natur in uns seinen Wohnsitz nimmt. Der höchste Teil des Menschen ist ein spirituelles Wesen, das von Göttlichkeit überschattet ist; und von diesem sprechen wir manchmal als von einem „Engel“, weil dieser Begriff der christlichen Vorstellungsweise im Westen gut bekannt ist. Wenn wir von dem inneren Dämon sprechen, möchte ich ihn als den tierischen Teil in uns bezeichnen, eine sehr reale Wesenheit, der von dem menschlichen Teil in uns, dem zentralen Teil unserer Konstitution, im allgemeinen in einen Dämon verwandelt wird.

Die Tiere haben ihren Platz im Universum. Ihr Leben ist in vieler Hinsicht bemerkenswert und äußerst interessant. Sie besitzen ein bestimmtes Maß, eine gewisse Entwicklung von Individualität. Niemand wird behaupten, daß ein Hund eine Katze, oder eine Katze ein Elefant, oder ein Schwein ein Pferd sei. Es sind verschiedene Tierarten, jede mit ihrer eigenen Individualität; und jede Art hat ihre eigenen Tugenden – und im normalen Ablauf der Natur sind es diese Tugenden der Tiere, die vorherrschen und uns Menschen interessieren. Erst wenn der Mensch die unglücklichen Tiere stört, sieht man, daß sie vom unschuldigen und natürlichen Leben abweichen, mit dem die Natur sie begabt hat. Die meisten Tiere haben instinktive, edle Eigenschaften, bis der Mensch ihr unbewußtes Vertrauen zu ihm bricht und ihre Instinkte entstellt. Man beobachte die Treue des Hundes, des Pferdes und selbst der Hauskatze! Wir sind es, die sie dazu bringen, ein entstelltes Leben zu führen, ein Leben, das sie von ihrem natürlichen Entwicklungsstrom wegreißt; und genau dies macht auch der menschliche Teil in uns mit dem tierischen Teil in uns.

Ich möchte meine Ansicht noch deutlicher ausdrücken. Ich glaube nicht, daß es gut ist, das natürliche, unschuldige Tier im Menschen zu unterdrücken, es muß vielmehr beaufsichtigt werden. Warum? Der Mensch ist nur zum Teil menschlich, er ist nur zum Teil Mensch. Was wir unter einem Menschen verstehen, besteht zuerst aus einem inneren Gott – man kann ihn einen inneren Buddha, einen inneren Christus nennen –, dem Ursprung seines ganzen Wesens. Diesem Teil der menschlichen Natur gaben die Griechen den Namen Nous, der noetische Teil, die Wurzel unseres Höchsten, das Zentrum des Bewußtseins und des Gewissens, das Zentrum der Unterscheidung, des Mitleids, des Mitgefühls, der Weisheit, des Verstehens der anderen Dinge im Universum, der Intuition, der Sympathie, der Sympathie für die Seelen der Menschen und aller Dinge. Es ist der höchste Teil in uns, unser spiritueller Teil.

Der speziell menschliche Teil in uns ist das, was wir die höhere Psuche, die Psyche nennen; und was wir als das Tier bezeichnen, kann man andererseits auch den natürlichen Teil des Menschen nennen, und dieser ist nicht sein Körper. Es ist ein törichter Irrtum von Leuten, die dieses Problem nicht geprüft und studiert haben. Sie machen den Körper für die menschlichen Fehler und Sünden verantwortlich. Erkennen Sie denn nicht, daß es Anzeichen dafür geben müßte, wenn er es wäre, der sündigt? Sie wissen ganz genau, wenn Sie sich prüfen, daß der Körper nur sündigt, weil er durch Gefühle und niedere Gedanken dazu gezwungen oder gedrängt wird, als Instrument zur Ausführung bestimmter Dinge zu dienen.

Ich denke, es ist völlig falsch, zu lehren – das Tier auszurotten. Im Gegenteil, wir wollen das Tier veredeln, erheben und erhöhen; mit anderen Worten, es mit unserer Menschlichkeit beseelen, anstatt ihm zu erlauben, unser menschliches Wesen zu beherrschen – und das genau tun so viele Männer und Frauen. Sie erlauben dem Tier in sich, sie zu beherrschen. Doch, was wäre der Mensch ohne seine tierische Natur? Er wäre nur zum Teil Mensch. Glauben Sie, daß ich, G. de P., ein Menschenwesen, je wünschen könnte, meinen tierischen Teil fallenzulassen? Auf keinen Fall! Er gibt mir eine Gelegenheit, mich auf dieser Ebene zu manifestieren. Es ist meine Pflicht, meine Aufgabe, dieses Tier zu einem anständigen Tier zu machen, zu einem menschlichen Tier, es so zu vermenschlichen, daß ich, das Ego, durch es arbeiten kann.

In Wirklichkeit wohnt bei uns Menschen die Sünde weder im Körper, noch in unserem tierischen Teil. Sie wohnt in unserem menschlichen Teil, in unseren Gefühlen, in unseren willentlichen, selbstsüchtigen Gedanken, die das Tier in uns erregen und die falsche Seite zur Tätigkeit anregen und es zwingen, Dinge zu tun, die den Körper mitreißen. Nein, ich möchte ein ganzer Mensch sein, ein vollständiger Mensch: Geist, Seele, beherrschtes und veredeltes Tier und menschlicher Körper. Wenn ich dann einen Teil meines Wesens mißbrauche, wird Gesundheit zu Krankheit, Anstand zu Unanständigkeit, vom Menschen werde ich zum Tier.

Jene Menschen, die davon reden, das Verlangen und das Tierische müsse abgetötet werden, sind für mich ganz einfach dumm. Es fehlt ihnen das psychologische Verständnis. Ein Mensch muß zur Ausübung seiner Arbeit in dieser unserer Welt ein vollständiges siebenfältiges Wesen sein. Wenn er ein Gott sein möchte, stirbt er, und für die betreffende Zeit ist er ein Gott oder ein Halbgott. Solange er sich jedoch auf der Erde befindet, ist es seine Pflicht, ein ganzer, vollständiger Mensch zu sein und wie ein Mensch zu handeln, nicht wie ein entarteter Mensch, der von seinem tierischen Teil beherrscht wird. Das Tier soll vielmehr als ein Vehikel zur Arbeit und Manifestation benützt werden, in dem die edelsten Eigenschaften des menschlichen Tieres hervorgebracht werden: die Ergebenheit, wie sie der Hund zeigt, die Zuneigung, wie sie das Pferd hat; den tierischen Instinkt der Erinnerung, wie er beim Elefanten zu finden ist. Sie alle sollen dazu verwendet werden, menschlich zu handeln. Auf diese Weise soll ein Mensch leben und schließlich sterben.

Für dieses Tier trägt er die Verantwortung, es ist ein Teil seiner Konstitution, der in unbestimmten zukünftigen Zeitaltern selbst ein menschliches Wesen sein wird. Geradeso wie unser heutiger spiritueller Teil – der Christus in uns, der Buddha in uns – früher, in vergangenen Zeitaltern ein Mensch war, jetzt aber durch Evolution, das heißt durch inneres Wachstum Bodhisattva-gleich, Christus-gleich geworden ist, genauso wie in uns Menschen heute der zentrale Teil unserer Konstitution danach strebt oder danach streben sollte, sich zu einem Bodhisattva-gleichen Teil, dem Christus-gleichen Teil von uns zu erheben.

Glauben Sie, ein Mensch wäre so liebenswert, so zugänglich, der nur zum Teil menschlich wäre? Ich meine, wenn er nur einen Teil seiner jetzigen Konstitution hätte? In unserem gegenseitigen menschlichen Verstehen verbirgt sich ein in mancher Hinsicht eigenartiges und schönes Paradoxon; es sind nicht die kalten hervorragend schönen, kristallklaren Tugenden, die wir am meisten aneinander lieben, sondern jene Dinge, die wir gemeinsam empfinden, das allgemein Menschliche in uns. Denken Sie darüber nach. Das soll nicht heißen, die schönen, heiligen, leuchtenden, reinen, kristallklaren Tugenden seien nicht unser höchster Teil. Sie sind es. Sie sind unser Ideal und unser Leitstern. Wir entwickeln uns ihnen entgegen, und der größte Mensch ist genau der, der sie am höchsten entwickelt hat. Wenn diese Eigenschaften aber kein Instrument haben, durch das sie wirken können – ein empfängliches, verständnisvolles menschliches Bewußtsein, durch das sie sich ausdrücken können und das seinerseits den tierischen Teil von uns leiten und inspirieren kann, damit wir auf der ganzen Linie voll menschlich werden können –, dann haben wir einen Menschen vor uns, der zwar äußerlich vollständig ist, der aber aufgrund eines Minderwertigkeitskomplexes, wie man heute sagt, wegläuft und sich selbst von der Welt absondert, weil er ihr nicht entgegentreten will.

Die theosophische Auffassung vom idealen Menschen ist nicht der abgemagerte, blasse Asket, der seine Pflicht gegenüber der Menschheit und der Welt aufgibt, nur um seine eigene mittlere Konstitution zu kultivieren. Unser Ideal ist der ganze Mensch, der vollständige Mensch, ein Mensch wie Buddha, ein Mensch wie Christus, ein Mensch wie die Meister, ein Mensch, der im menschlichen Tier lebt, es aber leitet und beherrscht und aus ihm ein feines Instrument für sich macht, es in Harmonie und Schönheit umwandelt. Er muß ein vollständiger siebenfältiger Mensch sein, wie es der normale Mensch ist; aber jedes der Prinzipien muß aktiv sein und alle müssen in edler Harmonie für das allgemeine Gute wirken. Das ist unser Ideal.

Was nützt die Geißelung, das Auspeitschen des Körpers, die Kasteiung des Fleisches, Aushungerung, oder Mißbrauch der Gesundheit? All diese Dinge bedeuten Schwäche, schwaches Verständnis und mangelhafte Schulung und eine ganz falsche Psychologie. Wenn Sie vor sich selbst Angst haben, dann deshalb, weil Ihr menschlicher Teil in einem entsprechend Zustand ist: schwach, wankelmütig, ungeschult, unzuverlässig, ein unvollkommenes Instrument für das Licht von oben.

Wir halten auch das Leben eines solchen Menschen nicht für ideal, der zur Erlangung innerer, individueller Erlösung Nirvana über die Hintertreppe erreichen möchte, oder der sich das Recht verweigert, seine menschliche Pflicht in der Welt auszuführen, indem er sich kasteit und den Körper geißelt und ihn manchmal tötet aufgrund der völlig irrigen Vorstellung, das Unrecht, das Böse und die Sünde entstünden im Körper selbst. Der Körper ist nur das vergängliche Instrument des Gemüts. Es ist das Gemüt, in dem das Unrecht geboren wird, in bösen Gedanken. Es ist nach meinem Dafürhalten schlimm, die Gabe zu mißbrauchen, die die Natur uns allen gegeben hat, das Geschenk eines gesunden Körpers, und diesen mit aller Gewalt zu ruinieren, ihn für die Pflichten unbrauchbar zu machen, für die die Natur ihn vorgesehen hat. Christus tat dies nicht. Buddha tat dies nicht. Die Meister tun dies nicht. Es sind nur die selbstsüchtigen Asketen, die sogenannten Yogis, Fakire, die mit ihren Tugenden vor der Welt paradieren, oder bestenfalls den Hatha-Yoga-Weg beschreiten, damit sie vor den weltlichen Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten Ruhe haben. Das ist nicht der Weg der Meister.

Denken Sie aber keinen Augenblick lang, daß ich Animalismus predige. Wenn Sie das annehmen, haben Sie meine Gedanken nicht im mindesten erfaßt. Meine Ansicht ist dem genau entgegengesetzt. Der wahre Mensch ist nie animalisch. Er ist essentiell menschlich, zart, mitfühlend, mitleidsvoll, intelligent, selbstaufopfernd, voller Sympathie, verständnisvoll gegenüber anderen; und weil er selbst einen niederen Teil hat, seinen tierischen Teil, hat er Sympathie und Mitleid und Verständnis und Nachsicht für die Fehler anderer. Wir sollten jedoch immer nach oben sehen, himmelwärts; denn wenn wir unsere Augen nach unten gerichtet halten, erdwärts, dann geht das Menschliche im Animalischen verloren – und wir alle kennen die Entartungserscheinungen, die sich daraus ergeben!

Die Alten Griechen, überhaupt alle alten Völker, verstanden die psychologische Komposition des menschlichen Wesens sehr genau – die moderne Psychologie ist gerade dabei, sie wieder neu zu entdecken. Diese Kenntnis der menschlichen Konstitution und Natur ist so alt wie die denkende Menschheit. An oberster Stelle in der Reihenfolge steht das Göttliche oder das Geistige im Menschen, der Ursprung des Höchsten, die Quelle, aus der all seine übrigen Teile auch kommen; sein Bewußtsein strömt herab wie ein Strom von dem inneren Gott, durchströmt jeden Teil und bringt Herrlichkeit, Erleuchtung und Licht, bis er den niedersten Teil erreicht und sein Gehirn berührt wird. Dies ist der Nous, der noetische Teil. Dann kommt der rein menschliche Teil, das Vehikel für das Vorhergehende, die höhere Psuche, dann das Psychische, der Sitz unserer Emotionen und gewöhnlichen Gedanken, Sie und ich als normale Menschenwesen. Dann folgt der tierische Teil in uns, mit dem wir bestimmte Lebensfunktionen ausüben, die in der Tat sehr notwendig sind, und der uns auch hilft, uns gegenseitig, soweit wie möglich zu verstehen; ohne ihn könnten wir uns auf dieser Erdebene gar nicht manifestieren. Dann kommt der arme, unglückliche Körper. Der Körper ist lediglich ein Werkzeug, ein Instrument, das unseren Gefühlen und Gedanken gehorcht. Hier liegt das Problem, in unseren Gefühlen und Gedanken, nicht in dem unglücklichen Körper. Die Sünde wird im Gemüt geboren, im Denken, im Gefühl. Wenn wir eine Sünde ausradieren wollen, müssen wir uns auf unser Selbst besinnen, den menschlichen Teil.

Das Wichtigste, Freunde, ist: lassen Sie den Engel, unseren höheren Teil, dominieren und nicht unterlegen sein. Lassen Sie das Tier sein, was es ist, lassen Sie es unschuldig instinktiv sein, aber immer unter Kontrolle. Lassen Sie es rein sein. Lassen Sie einfach den Strom von oben, vom Menschen, wie heilenden Tau in die tierische Seele oder in das tierische Gemüt einfließen und es erleuchten und leiten, anstatt es zu entstellen, wie es heute so oft geschieht. Dann hat man einen feinen Menschen, einen Gentleman im alten Sinne des Wortes und einen Menschen, der instinktiv das Rechte liebt, der selbstaufopfernd und entschlossen ist, diesem Gesetz zu folgen, koste es ihn, was es wolle. Das ist der Gentleman; und weil das unser menschliches Wesen ist, ist es schön, wenn der Geist in uns, das spirituelle Licht, unseren menschlichen Teil erfüllt und die Strahlung nach unten zu dem Tier weitergibt. Dann hat man einen Menschen, der in seinem höheren Teil ein Held ist, in seinem menschlichen Teil ein wahrer Führer, ein echtes Vorbild für die Menschen, ein hervorragender Lehrer, der in seinem menschlichen Teil sympathisch, treu, liebend und wahr ist; und der Körper wird all diese wunderbaren Dinge zum Ausdruck bringen.


Über das Heilen

In allen Bereichen seines Wesens als einheitliches Ganzes zu existieren oder heil und gesund zu sein, bedeutet das gleiche. Im Englischen sind die beiden Worte Gesundheit (health) und Ganzheit (wholeness) aus dem gleichen Wortstamm abgeleitet.

„Deine Erkenntnis hat dich geheilt.“ Pistis wird meistens mit „Glauben“ übersetzt, es ist jedoch ein Wort, dessen Bedeutung nur sehr schwer zu erfassen ist; es bezieht sich auf die innere Überzeugung, daß es kosmische Wahrheiten gibt, und daß man Dinge, die unsere Augen nicht wahrnehmen, trotzdem erkennen kann. Wer Wissen erlangt hat, braucht keinen weiteren Beweis. Ein solcher ist erbracht, wenn unser Verstand überzeugt ist. Wer Überzeugung gewonnen hat, für den ist jeder weitere Beweis überflüssig.

Wenn ein Mensch durch alle Bereiche seines Wesens als ein einheitliches Ganzes funktioniert, ist er heil und gesund. Das Bemühen der Theosophischen Gesellschaft besteht hauptsächlich darin, die Menschen in spiritueller, moralischer und intellektueller Hinsicht so zu fördern, daß sie auf allen Ebenen ihres Wesens, in jedem ihrer sieben Prinzipien ihrer Konstitution, aktiv werden. Wer das tut, durch dessen spirituelle, intellektuelle, psychische, astrale und physische Bereiche strömt ein göttliches Feuer, besonders durch den wichtigsten Wesensteil, den moralischen. Letzterer entstammt unserem spirituellen Wesen. Wenn uns das gelingt, sind wir innerlich und äußerlich tatsächlich ein einheitliches Ganzes. Dann sind wir vollständig gesund und unser gesamtes Wesen befindet sich in Harmonie.

Das Bemühen der Theosophischen Gesellschaft zielt darauf ab, das Herz und den Verstand der Menschen so zu verändern, daß diese anfangen, ihr Leben und damit auch das Leben der Völker dieser Erde neu zu gestalten. Bedeutet das nicht, mit dem Heilungsprozeß an der Wurzel anzusetzen anstatt bei den Symptomen zu beginnen? Die göttliche Weisheit geht der Krankheitsursache auf den Grund und beseitigt diese. Ein erfolgreicher Theosoph ist nicht jener, der am besten über Theosophie schreiben und beinahe alles faszinierend darlegen kann, sondern der, welcher Theosophie lebt. „Ein Theosoph ist der, der Theosophie in seinem Leben verwirklicht.“

Sie erinnern sich der Berichte im Neuen Testament – ich erwähne das, weil es den im Westen lebenden Menschen bekannt ist – in denen von Heilungen berichtet wird, die der Avatāra Jesus vornahm. Ganz ähnliche Erzählungen können Sie übrigens in allen anderen alten und modernen Religionen oder Philosophiesystemen auch finden. Auch unter den Heiden in den Tempeln des Aesculap waren Patienten, die kamen und dort für eine Nacht schliefen und sich am nächsten Morgen gesund fühlten. In der Überlieferung heißt es: „Sie wurden von Gott geheilt.“ In Wahrheit wurden sie „geheilt durch innere Wandlung“, nicht eine Wandlung im Denken des Gehirnverstandes, sondern die Wandlung eines Lebens: nach oben zu blicken und nicht nach unten. Die dankbaren Patienten, die sich von ihren Leiden geheilt fühlten, legten ex voto [d. h. in Erfüllung eines Gelübdes – Zusatz des Übersetzers] Dankesspenden im Tempel nieder und ließen Bilder von den kurierten Körperteilen auf die Tempelwände gravieren – einen Kopf, ein Bein, einen Arm, eine Leber, ein Herz oder sonst etwas, eben ein Hinweis auf den geheilten Körperteil. Das sollte bedeuten: „An diesem Körperteil wurde ich gesund.“ So etwas gab und gibt es überall auf der ganzen Welt. In diesem Fall handelt es sich um Selbstheilung durch Ganzwerden, genau das.

Ein anderer Aspekt ist die Tätigkeit jener Ärzte, die sich bemühen, andere Menschen zu heilen. Es ist nichts dagegen einzuwenden, wenn jemand, der gesund und edel gesinnt ist, versucht, mittels Übertragung eigener Lebenskraft Heilerfolge zu erzielen. „Energie ist von mir ausgegangen“, sagt Meister Jesus im Neuen Testament. Das griechische Wort für diese „Energie“ oder Stärke, bzw. Macht ist Dunamis. Etymologisch ist das korrekt. In den modernen Übersetzungen kommt jedoch nicht klar genug zum Ausdruck, daß dieses Wort noch eine Nebenbedeutung hat. Letztere richtet unsere Aufmerksamkeit darauf, daß es sich bei dieser Stärke oder Kraft, von der Jesus sprach, um ein Ausströmen von Lebenskraft, ein Abgeben von Vitalität handelte. Von diesem griechischen Wort Dunamis stammen die in den modernen europäischen Sprachen so geläufigen Bezeichnungen wie dynamisch, Dynamo oder Dynamit. Die Redewendung „Energie ist von mir ausgegangen“ bezog sich also auf die Übertragung seiner Vitalität, auf die Übermittlung seiner Sympathie. Dem Lehrer war bewußt, daß er etwas von sich wegschenkte. Ein Arzt hat nur dann Erfolg, wenn er etwas von sich opfert. Sie sehen, wie wundervoll die alte Wahrheit auch hier gilt: man muß den anderen etwas von seinem Besten geben, wenn man helfen will.

Menschen mit einem Herz, das härter als ihr Kopf war, äußerten gelegentlich: „Schau, da ist ein kranker, schwächlicher, ja, hinfälliger Theosoph. Dem geht es ganz erbärmlich. Er kann nicht einmal einer normalen Arbeit nachgehen. Das ist sein Karma. Das muß er aushalten!“ Das stimmt, aber niemand hat das Recht, einem anderen zu sagen, daß er sein Karma aushalten muß. Unsere Pflicht ist es, zu helfen und der Natur den Heilungsprozeß zu überlassen. Es ist äußerst verletzend, einem anderen Menschen gegenüber, der krank und leidend ist – ganz gleich, ob Theosoph oder nicht – die Vermutung zu äußern, seine Sünde hätte ihn eingeholt. Das mag sogar wahr sein, aber es steht uns nicht zu, zu Gericht zu sitzen. Erinnern Sie sich stets an die Worte des Meisters Jesus, die er sprach, nachdem er jemanden durch die Weitergabe seiner reichen spirituellen Vitalität geheilt hatte: „Gehe hin und sündige hinfort nicht mehr“, denn deine Sünde war der Anlaß deiner Krankheit.

Wenn wir gegenwärtig leiden, ist das kein Beweis dafür, daß wir in diesem Leben gesündigt haben müssen. Es mag vor vielen vergangenen Zeitaltern gewesen sein. Jedoch jetzt, wo man seine Vitalität, seine ganze Stärke und Gesundheit braucht, um vorwärts zu schreiten, gerade jetzt meldet sich die alte Sünde wieder und sucht sich irgendwo ein Ventil. Begreifen Sie das moralische Element in dieser Feststellung. Unsere Sünde wird uns in diesem oder in einem späteren Leben zu finden wissen. Es ist viel besser, die Krankheit schnell herauszulassen und ihren Ausbruch nicht auf ein zukünftiges Leben zu verschieben. Vielleicht wäre es uns dann lieber, wir hätten das damit verbundene Leid bereits ausgestanden und wären von dem Gift aus einem früheren Leben frei.

Ich selbst wäre, falls ich von einer Krankheit nicht geheilt werden könnte, lieber tot, als zu versuchen, sie durch die Anwendung schwarzer Magie zurückzudrängen und für die Zukunft aufzusparen; vielleicht für einen Zeitpunkt, an dem ich jede Unze meiner Kraft, meiner Stärke und meiner Gesundheit brauche. Wir sollten davon Abstand nehmen, einen anderen Menschen zu verurteilen und festzustellen, seine Sünden hätten ihn bestraft. Das ist nicht der richtige Weg, um ihm zu helfen. So ermutigen wir ihn nicht. Das ist nicht gütig und barmherzig. Abstrakt gesehen, mag es zwar stimmen, aber unser Einblick ist zu gering, um die Zusammenhänge zu erkennen.

Noch ein anderer Gedanke drängt sich hier auf. Man wird nicht wegen seines Körpers zu einem Chela. Man wird ein Chela, weil man Anstrengungen unternimmt, das Wachstum des inneren Menschen anzuregen, das heißt, die emotionalen, mentalen und spirituellen Teile unseres Wesens in ihrer Entwicklung zu beschleunigen. Ein Genie, ein ganz gewöhnliches Genie, zeichnet sich nicht durch einen besonders spiritualisierten Körper oder durch eine relativ vollkommene physische Erscheinung aus. Wenn Sie ernsthaft die Annalen der Geschichte durchblättern, können Sie die erstaunliche Beobachtung machen, daß die Mehrzahl aller Genies einen schwächlichen Körper hatten. Oft hatten sie irgendwelche Krankheiten, manchmal sogar ein Gebrechen oder sie waren irgendwie verkrüppelt. Es war das flammende Feuer ihres inneren Genius, das ihren Körper verzehrte. Weil ihre Seele der Lebenskräfte so dringend bedurfte, raubte sie diese dem Körper.

Manchmal verhindert eine unverwüstliche, durch nichts zu erschütternde physische Gesundheit sogar ein inneres Wachstum. Das ist dann der Fall, wenn die physischen Lebensenergien so stark sind, daß sie die Seele wie einen undurchdringlichen Schleier umhüllen.

Der Mensch in einem gerechten und geordneten Universum

Im Grenzenlosen gibt es keinen Zufall. Gebrauchen Sie all Ihren Scharfsinn, um die daraus abzuleitenden Folgerungen zu verstehen. Die erste Folgerung ist, daß es keine Planlosigkeit geben kann, weil nichts zufällig ist. Alles, was sich ereignet, ist ein Glied innerhalb einer Kette von Ursachen. Auf jede Ursache folgt eine Wirkung. Diese Wirkung verursacht eine neuerliche Ursache, und die wiederum löst eine weitere Wirkung aus, usw. Das nennen wir Karma.

Allem, was sich ereignet, liegt deshalb Gesetzmäßigkeit zugrunde. Das ist nur ein anderes Wort für kosmische Vitalität gepaart mit Intelligenz, mit dem, was wir ethischen Instinkt nennen, Ordnung; all das zeigt sich unserem staunenden, fragenden Blick, wenn wir das Universum studieren. Überall bemerken wir Ordnung, Gesetz und Vorgänge, die auf dem Prinzip von Ursache und Wirkung beruhen. Wenn in einem einzigen Atom des Unendlichen ein totales Durcheinander herrschen würde, stünde es außerhalb des Ordnungsprinzips, das ein Kennzeichen des Unendlichen ist. An diesem Punkt wäre etwas anderes als das Unendliche vorhanden. Da es das nicht geben kann, weil das Unendliche dann nicht mehr unendlich wäre, ist die Annahme, es könne auch nur ein einziges solches Atom geben, völlig absurd.

Wenn Sie mit den Lehren der modernen Wissenschaft vertraut sind, und Ihre Kenntnisse über die göttliche Weisheit anwenden, sollte Ihnen Ihre Logik sagen, daß alles, was sich aufgrund des Gesetzes von Ursache und Wirkung innerhalb des Unendlichen ereignet, auch gerecht sein muß.

Bei unserer Erforschung und Untersuchung der Natur können wir zwei Fakten feststellen: erstens ein alles umfassendes, alles umschließendes Ordnungsprinzip, das uns unter dem Begriff Naturgesetze bekannt ist. Zweitens können wir in der Natur, durch dieses universale Gesetz verbunden, eine endlose Anzahl von Individuen, von Einzelwesen beobachten, die diesem kosmischen Gesetz unterworfen sind. Kein Wesen kann ihm entfliehen. Es gibt also eine Einheit, eine göttliche Einheit, die sich durch diese unendliche Anzahl von Lebensarmeen zum Ausdruck bringt. Eine dieser Armeen sind wir Menschen. Aber außer dieser gibt es noch die der Götter, der Engel oder Dhyāni-Chohans, der Pflanzen, der Tiere, der Atome, usw. Alle diese Individuen sind dieser fundamentalen kosmischen Ordnung unterworfen und untertan. Sie sehen, wie logisch diese Gedanken sind. Sie führen uns Schritt für Schritt zu einem immer neuen Gesichtspunkt. Schließlich müssen wir nicht nur neue Schlußfolgerungen ziehen, sondern diese müssen auch mit allem, was wir über die universale Natur wissen, in Übereinstimmung sein. Das bedeutet, daß sie auf unsere Lebensführung einen Einfluß nehmen müssen, sowohl auf unsere Gedanken als auch auf unsere Gefühle.

Wenn jemand einmal verstanden hat, daß es im Universum keinen Zufall gibt, daß der Mensch nur eine Bewußtseinseinheit innerhalb einer Hierarchie ist, und daß es zahlenmäßig unendlich viele solche Hierarchien gibt, wenigstens so weit wir Menschen dies erkennen können, – nehmen Sie nur beispielsweise die Himmelskörper im kosmischen Raume, auch sie sind, wie wir, Kinder des endlosen Lebens – wenn jemand dies alles begriffen hat, geschehen mit ihm verschiedene Dinge. Wenn er Gedanken solcher Art in sich bewegt und wenn ihm durch Nachdenken darüber ihre unbesiegbare Kraft vollständig klar geworden ist, verliert er erstens alle Furcht vor dem Tod, und zweitens begreift er, daß er für alles, was er tut, verantwortlich ist, das heißt, für alles, was er denkt und an Gefühlen entwickelt, und daß er den Wirkungen seiner Gedanken, Gefühle und Handlungen nicht entrinnen kann. Vor allem aber versteht er, daß die größte und wunderbarste Hoffnung für die Menschheit gerade in der Tatsache liegt, daß es für uns Menschen unmöglich ist, der Vergeltung, bzw. der Rückzahlung durch das kosmische Gesetz zu entkommen.

In der altvertrauten christlichen Sprache, die diesen Gedanken allgemein verständlich formuliert, heißt das, daß der Mensch weder dem Himmel noch der Hölle entkommen kann. Er kann sich der Vergeltung für das Gute, das er in der Welt getan hat, niemals entziehen. Irgendwann, irgendwo wird sie ihn treffen. Sie wird ihn verfolgen, wo immer er sich auch verstecken mag, sie wird sein Leben erleuchten und ihm Mut machen. Sie wird ihm neue Hoffnung und neue Beherztheit schenken. Genauso werden ihn jedoch auch die Auswirkungen des Bösen, das er getan hat, die Wirkungen seiner Ungerechtigkeiten, seiner Unfairneß und seiner Verbrechen als Folge der Ursachenkette zu finden wissen. Selbst wenn er sich in den Schluchten der Berge oder in den tiefsten Abgründen der Hölle versteckt, er kann trotzdem der gerechten Heimzahlung nicht entgehen. Die Verfahrensweisen der ewigen und universalen Natur lassen sich nicht aufhalten.

Nein, es gibt keinen Zufall im grenzenlosen All. Begreifen Sie das immense Gewicht dieser Gedanken. Sie wirken auf uns wie ein moralischer Motor. Wir begreifen dadurch auch, worauf die größten Weisen, welche die menschliche Rasse je hervorbrachte, ihre gesamte Ethik und ihre gesamten moralischen Lehren gründeten. Vor allem sehen wir die Begründung dafür, warum die größte aller Hoffnungen, denen sich die Menschheit hingibt, in den Lehren liegt, die sich daraus ableiten.

Eine dritte Anmerkung sei gestattet: Wir Menschen auf dieser kleinen Erde, die uns so groß erscheint, sich aber im Vergleich mit den riesigen Planeten unseres eigenen Sonnensystems so klein ausnimmt, sollten uns stets bewußt sein, daß jeder einzelne von uns, weil er einen untrennbaren Teil der kosmischen Struktur darstellt, für das kosmische Gesetz genauso wichtig ist, wie der gewaltigste Stern am Himmel. Das Neue Testament bezieht sich darauf und sagt in seiner Sprache, die für viele von uns fremd klingt: Wißt ihr nicht, daß die Haare auf eurem Kopf gezählt sind? Kein Sperling fällt vom Dach, ohne Übereinstimmung mit dem göttlichen Gesetz. Auf diese Feststellung gründet sich auch der Gedanke, daß wir nicht nur die Abkömmlinge der Götter sind, sondern tatsächlich auch Embryo-Götter, denn in uns liegen die Urquellen des göttlichen Lebens verborgen, die Schatzkammern des göttlichen Stoffes, der das Universum erfüllt. Was sollten wir sonst sein? Können Sie dem widersprechen und behaupten: „Nein, das sind wir nicht. Wir sind kein Bestandteil des Universums. Wir sind kein Teil seines Lebens. Wir nahmen in ihm nicht unseren Ursprung.“ Bemerken Sie, wie absurd das ist?

Unser göttlicher Ursprung macht uns mit allem und mit jedem Wesen artverwandt. Wir sind nicht nur mit der gesamten Menschheit verwandt. Alle anderen Wesen und Dinge, die es gibt, sind unsere anderen Selbste. Alle haben im selben universalen Ozean ihren Ursprung. Er ist unsere Ewige Mutter, Vater-Mutter. Das ist ein wunderbarer Gedanke.

Wenn Sie das nächste Mal eine Blume pflücken, dann erinnern Sie sich daran, daß Sie einen jüngeren Bruder berühren. Vielleicht blicken die höheren Götter auf uns in der gleichen Weise, wie wir diese Knospen betrachten, die so voller Schönheit sind. Sie sind sozusagen junge Embryo-Seelen, Monaden, die sich auf dieser Ebene in einem jungen Zustand befinden, und ihr Leben, ihre Schönheit und ihr Duft erfreuen uns, und so sehen die höheren Götter auch uns. Ich möchte gern wissen, wie oft die Götter uns pflücken, weil wir in ihren Sphären Schönheit und Duft verströmen und wir ihnen gefallen: diejenigen, die die Götter lieben, sterben jung. Ein ganzes Mysterium liegt in diesem Gedanken verborgen. Der Tod ist kein Unglück. Genausowenig wie das Geborenwerden. Nehmen Sie keinen Augenblick an, ich würde mit der geschilderten Ursachenkette den alten, wissenschaftlich toten, seelenlosen Determinismus aus der Zeit unserer Großväter meinen. Damals glaubte man, daß sich alles wie eine seelenlose Maschine, die niemals gestoppt werden kann, bewege. Man vergaß damals jedoch, daß eine Maschine eines Ingenieurs bedarf, der sie entwirft und in Gang hält. Man benutzte damals einfach Worte und gab sich damit zufrieden. Nein, ich meine nicht diesen seelenlosen Determinismus. Ich beziehe mich auf die Struktur des Universums, die aus Hierarchien von verkörpertem Bewußtsein entsteht. Durch sie bringt sich die Vielfältigkeit des Kosmos zum Ausdruck. Diese Hierarchien sind aus unzähligen Familien von Wesenheiten aufgebaut. Alle sind sie jedoch von dem großen Hierarchen umschlossen, beschirmt, beschützt, geführt und bewacht, dessen Kinder wir sind, wie alle anderen Wesen auch. Es gibt keinen Unterschied zwischen diesem Hierarchen und unserem inneren Selbst. Wir sind sozusagen seine Funken, Funken aus der zentralen Flamme unseres Universums.

Wo kann die Wahrheit gefunden werden?

Ich liebe es, weite Vision zu erkennen, Reichtum an Gedanken, anstelle von engstirnigen, dogmatischen und bigotten Beschränkungen von Gedanken in einem Rahmen, dem sich menschliches Genie beugen muß, wenn es nicht als ausgestoßen angesehen werden will. Glauben Sie mir, die Welt braucht das erstere jetzt dringend, glauben Sie mir, da das Mittelalter zu uns zurückzukehren scheint, gekennzeichnet von Intoleranz, einer beständigen Abnahme der Bereitschaft, die Menschenrechte zu respektieren, und einer fortschreitenden Vernachlässigung der größeren zwischenmenschlichen Pflichten – Pflichten, die sogar höher stehen als Rechte.

Ein altes spanisches Sprichwort lautet: La verdad no se casa con nadie: „Die Wahrheit ist mit niemand bestimmtem verheiratet.“ Sie können die Wahrheit überall finden, wo der menschliche Genius tätig war, überall dort, wo sich Menschen mit Erfolg bemühten, wenigstens einige der wirklichen Vorgänge im Kosmos zu entschlüsseln und dadurch Einblick in die Wahrheit zu erhalten. Ich wage zu behaupten, daß sie allein deshalb diese Geheimnisse entschlüsseln konnten, weil sie die Dinge nicht von außen betrachteten und nicht nur die Welt studierten, die uns umgibt. Sie bemühten sich vielmehr, den Kosmos von innen her zu studieren, denn allein in den geheimnisvollen Quellen des menschlichen Herzens und des menschlichen Geistes kann man der Wahrheit und Wirklichkeit am allernächsten kommen. Warum? Weil unsere innerste Essenz, in der die Wahrheit in ihrer ganzen Fülle liegt, identisch ist mit der Essenz und dem Stoff des kosmischen Lebens, der kosmischen Intelligenz und dem kosmischen Raum. Wir sind tatsächlich Kinder des Weltraums.

In jeder Weltreligion läßt sich Wahrheit finden. Jede große Religion und Philosophie der Vergangenheit entsprang letztlich der Theosophischen Bewegung ihres Zeitalters oder wurde von einem Boten der Mahatmas gegründet. Dieser Bote kam mit dem Auftrag, erneut die Grundtöne der Wahrheit anzuschlagen, deren Klang in jedem wachen Menschenherzen vernommen werden kann. Seine Tätigkeit bestand darin, die Herzen zu erwecken und die Saiten der Harmonie anzuschlagen, die jeder Mensch in sich hat. Durch ihren Klang schöpften die Menschen neue Hoffnung und wurden von einer neuen Vision erfüllt. Sie wurden sehend und hatten neues Vertrauen, denn im Inneren wissen sie. Die Saiten der Intuition oder des Herzens wurden in ihnen berührt.

Ich bete nur darum, daß unsere Theosophische Gesellschaft getreu zu dem Werk steht, das durchzuführen uns aufgetragen wurde. Es ist ein schwerer Auftrag, und es hängt gänzlich von uns und unseren Brüdern und Freunden ab, die sich im Herzen mit uns verbunden fühlen, ob wir die Theosophische Gesellschaft und ihre Mitarbeiter so zu führen verstehen, daß im Laufe der kommenden Jahre immer mehr Menschenseelen zu uns stoßen. Wenn wir versagen, wird es allein unser Fehler sein. Wollen wir hoffen, daß das nie geschieht. Erinnern Sie sich auch daran, daß die Theosophische Gesellschaft nur eine Hierarchie unter anderen Hierarchien ist, die alle in einer umfassenden lebendigen und vitalen Sphäre einer anderen und noch größeren Hierarchie zusammenwirken. Wir können sie die Hierarchie der Söhne des Lichtes nennen. Es ist völlig nebensächlich, welchen Namen wir für sie benutzen. Man kann die Hierarchien dieser Söhne des Lichtes als die Engel und Erzengel, als die Tugenden, Prinzipien und Mächte, Cherubim und Seraphim bezeichnen, wenn wir wollen. So taten es die frühen Christen. Worauf es ankommt, ist, den Gedankengang hinter diesen Worten zu begreifen. Wir selbst nennen sie allgemein die Hierarchie der Dhyāni-Chohans, eine schöne Bezeichnung, wenn sie richtig verstanden wird: Herren der Meditation in Weisheit – so ausdrucksvoll.

Kein selbstloses und würdiges Streben einer menschlichen Seele, wo immer sie sich befindet, bleibt unbeantwortet. Das könnte nie sein. Die Welt wird durch geistige Kräfte und von Intelligenzen gelenkt, gegenüber denen wir, wenn man uns mit ihnen vergleicht, den Verstand von kleinen Kindern besitzen. Das Symbol des Buddha mit den langen Ohren ist nur ein Symbol für einen Meister, der jeden Hilferuf, von welchem Teil der Welt er auch kommt, vernimmt. Die großen Ohren, mit denen die Buddhas dargestellt werden, und die oft im Westen Heiterkeit erregen, sind ein Symbol dafür, daß das Buddhaprinzip den Ruf auch aus größter Entfernung vernimmt und Hilfe schickt, ganz gleich, aus welcher Himmelsrichtung der Ruf kommt. Diese Hilfe erreicht uns stets in der Stille, außer das Klopfen an der Tür ist sehr stark; dann beginnt ein Leben als Schüler.

Eine der westlichen Tragödien ist die Tatsache, daß die Menschen nicht mehr wissen, daß die Dinge dieser Welt nicht willkürlich, sondern nach Gesetz und Ordnung ablaufen. Man hat vergessen, daß hinter ihnen leitende Intelligenzen stehen, Herzen, deren Sympathien den gesamten Kosmos umfassen. Nur wir kleinen Winzlinge verursachen ein Durcheinander. Durch unsere heißen Gefühlsausbrüche und fiebrigen Wunschvorstellungen verursachen wir Disharmonie, wo Harmonie herrschen sollte. Es ist jedoch tröstlich, sich daran zu erinnern, daß die gesamte Natur auf Harmonie aufgebaut ist. Das Mittel, um an der Harmonie der Natur und des Kosmos teilhaben zu können, besteht darin, in unser eigenes Herz Harmonie einkehren zu lassen. Das ist das Anklopfen.

Mit Sanftheit und Güte gewinnen

Ich habe niemals ein Vergnügen darin gesehen, Idole zu zerstören. Ich bin vielmehr davon überzeugt, daß diese Idole in vergangenen Zeiten durch den göttlichen Instinkt des menschlichen Herzens aus Liebe und dem Wunsch geschaffen wurden, das Verstehen zu fördern. Wir wissen heute nur nicht mehr, was sie darstellen sollen und was sie bedeuten. Die Kenntnis ihrer Bedeutung ist uns verlorengegangen. Die großen Menschen der Vergangenheit, die sie schufen, ermutigten mit ihrer Hilfe viele jahrtausendelang die Menschen. Ich finde kein Vergnügen daran, Idole zu zerbrechen und in die Menschenherzen gepflanzte Ideale zu zerstören. Viel besser ist es dagegen, Sanftheit und Güte zu zeigen, zu überzeugen, die Herzen zu gewinnen und zu sagen: „Mein Bruder, ich möchte Dir hier etwas unterbreiten, das ich für außerordentlich überzeugend und gut halte, und mit dem Du Dich einmal beschäftigen solltest. Versuche es. Unterziehe es einer genauen Überprüfung. Solltest Du es ebenfalls gut finden, dann komm und hilf dabei, es an andere weiterzugeben.“

Es ist leicht, Idole zu zerstören. Meiner Meinung nach hat man dies, obwohl es in der Geschichte der Menschheit immer wieder geschieht, schon viel zu lange getan. Sie können natürlich argumentieren, ein Idol enthalte einen wertvollen Edelstein, und um ihn allen zugänglich zu machen, müsse man das Idol eben zerstören. Doch da gibt es ganz andere Methoden. Falls dieses Idol einen wertvollen Edelstein enthält, dann wurde er von sehr weisen Menschen dort versteckt; und es gibt eine Möglichkeit, in den Besitz dieses Juwels zu gelangen, ohne dabei das Idol zu zerstören, das sonst danach wertlos und nutzlos würde.

Welche Idole ich meine? Ich beziehe mich nicht auf solche aus Messing, Stein oder Holz. Ich meine ganz allgemein jene, die den Menschen teuer sind und die sie in ihrem Herzen und in ihrem Denken errichtet haben. Können Sie es nicht verstehen, daß Sie durch Ihre übertriebenen bilderstürmerischen Aktivitäten sogar Menschenherzen verletzen, entmutigen und vom Betreten des Pfades abhalten können? Es ist leicht, sich als ein Zerstörer von Idolen zu betätigen, sehr leicht. Es ist leicht, etwas kaputtzumachen und zu Fall zu bringen. Sehr oft ist es sogar allgemein üblich. Für edelmütige Menschen gibt es jedoch etwas Besseres zu tun.

Der Berg des Verstehens

Alle Wahrheiten sind wie Diamanten. Wenn man sie schleift und poliert, reflektiert jede einzelne Facette dennoch nur das, worauf sie gerichtet ist. Denn die Wahrheit ist Allgemeingut und nicht exklusiv. Sie ist etwas Spirituelles und durchdringt alles. Wir Menschen und alle Wesen, die unterhalb der großen spirituellen Wesenheiten des Kosmos stehen, stoßen nur darum in den niedrigeren Bereichen des Bewußtseins an Grenzen, weil die evolutionären Vehikel, deren sich selbst diese großen Wesenheiten bedienen müssen, noch unvollkommen sind. Wir sollten uns dieser Tatsache stets bewußt sein. Sie macht uns demütig und auf noble Weise bescheiden. Wir begreifen so, daß andere eine größere Vision von der Wirklichkeit haben können.

Wie erhebend, wie großartig und wie veredelnd ist es für uns Menschen, in brüderlicher Eintracht zusammenzuleben. Trotz der Tatsache, daß wir Menschen in unserer evolutionären Entwicklung noch sehr unvollkommen sind, können wir wahrnehmen, wenn wir das Panorama vom „Berg des Verstehens“ aus betrachten und mit unserer Vision hinter die Schleier des bloßen Scheins dringen, wo die unbeschreiblichen Wunder des Menschenherzens verborgen liegen, daß jeder unserer Mitmenschen eine Offenbarung ist, ein wundervolles Mysterium, denn jeder Mensch ist ein Kind der Ewigkeit, ein Kind des Unendlichen.

Es war eine Offenbarung für mich, als mir in diesem Leben diese große Wahrheit wieder bewußt wurde. Von dem Augenblick an sah ich in meinen Mitmenschen mehr als nur die Tatsache, daß sie eben Menschen sind. Ich erkannte, daß sie in Wirklichkeit Wunderwesen sind, von denen man etwas lernen kann, vom scheinbar Unbedeutendsten wie auch von dem am weitesten Fortgeschrittenen. Indem ich diesen wundervollen Gedanken weiterverfolgte, wurde mir bewußt, daß Wahrheit überall gefunden werden kann. Sie liegt tatsächlich, hätten wir nur Augen, um sie zu erkennen, in den Pflanzen, den Steinen, in den kreisenden Umdrehungen der Himmelssphäre wie auch in den Augen unserer Mitmenschen, wenn wir ihnen auf den Grund sehen und die Wunder dort bemerken.

Was ist dieser Berg des Verstehens? Dieser Ausdruck versinnbildlicht einen der ältesten Gedanken des menschlichen Genius. Wir können diese wundervolle Sprachfigur, diesen bildhaften Ausdruck, diese Metapher, die beschreibt, daß man den Berg der Vision besteigen sollte, in allen großen Philosophien und Religionen der Vergangenheit finden. Der Gedanke war immer der gleiche, ob man, wie die Juden, vom Berg Zions sprach, oder ob man einen anderen Ausdruck wählte. Die schönste Bezeichnung, die mir einfällt, die anschaulichste und tiefste, findet sich in den von A. Trevor Barker publizierten Mahatma-Briefen an A. P. Sinnett. Dort spricht der Mahatma vom „Turm des grenzenlosen Gedankens“, von dem aus die Wahrheit gesehen wird.

Was ist also dieser Berg des Verstehens? Zunächst ist er natürlich eine Metapher. Könnten wir, soweit es uns Menschen betrifft, darunter nicht das wundervolle Organ der menschlichen Konstitution verstehen, das Theosophen das Buddhi-Prinzip nennen, das Organ des Verstehens, der ungetrübten Wahrnehmung, der Einsicht, das Organ, mit dem die Wirklichkeit ohne Einschränkung erkannt werden kann? Dieses Organ des Verstehens für einen Menschen ist der Mensch selbst in seinem höchsten Aspekt, in seinem Bindeglied mit dem Göttlichen. Das ist der Berg des Verstehens in jedem von uns.

Die Quintessenz aller Lehren der archaischen Weisheit ist einfach folgende: wir sollen uns selbst als ein Instrument der Realität erkennen, als eines ihrer Vehikel; wir sollen uns aus den Miasmen und den Nebelschwaden und den Wolken dieser niedrigen Ebenen aufwärts und nach innen erheben, um so im Bewußtsein mit der Göttlichkeit im Inneren, mit Ātma-Buddhi, zu verschmelzen. Dann wird, wenn wir es nur wollen, alle Erkenntnis uns gehören, die gesamte Vision der Wirklichkeit wird sich vor uns ausbreiten, denn dieses Organ ist von keinem Gewand umhüllt, das seine Erkenntniskraft einschränkt. Es sieht die Wirklichkeit sozusagen von Angesicht zu Angesicht, da es mit der Wirklichkeit identisch ist. Es ist, wie gesagt, unser Bindeglied mit dem Göttlichen und schließt die Wirklichkeit, die Wahrheit, alle Weisheit, alle Liebe und alles Wissen in sich ein.

So liegt der Berg des Verstehens in unserem Inneren. Obwohl er für jeden von uns der gleiche ist, ist er dennoch in einem anderen Sinne auch für jeden von uns ein anderer. Es ist so ähnlich wie beim Pfad, der zur Wahrheit führt: er ist für alle derselbe und doch für jene, die den Pfad beschreiten, ein verschiedener. Die Pilger und der Pfad sind ein und dasselbe. Der Mensch besitzt keine andere Möglichkeit, die Wirklichkeit zu erfassen, es sei denn, er bedient sich seiner eigenen Kraft, seines eigenen inneren Organs, seines eigenen inneren Wesens. Natürlich kann er Hilfe von außen erhalten, und er erhält sie auch. Sie ist wundervoll. Es ist unsere Pflicht, Hilfe zu geben und Hilfe anzunehmen, die uns gegeben wird. Aber anzuerkennen, daß wir Hilfe empfangen, ist nur der äußere Auslöser, durch den das innere Organ des Empfängers wachgerüttelt wird. Dieses innere Organ trügt nicht und vermittelt keine physische Vision. Erinnern Sie sich der Geschichte, die in einer der philosophischen Schriften der Hindus steht: ein Mann geht in der Nacht nach Hause und sieht eine Schlange vor sich auf dem Weg. Er springt zur Seite und muß am Morgen erkennen, daß die vermeintliche Schlange nur ein Gewandgürtel war. So trügerisch sind alle unsere physischen Sinnesorgane! Der Blinde kann die Wunder der Morgendämmerung nicht sehen. Aber selbst er besitzt ein inneres Organ, das ihn befähigt, wenn er es in sich aktiviert, sich über die trügerischen Organe der physischen Wahrnehmung zu erheben und die Wirklichkeit zu sehen.

Das Buddhi-Prinzip in uns, das wir, wann immer wir wollen, benutzen können, unterliegt keiner Täuschung. Es kann weder geblendet noch in die Irre geführt werden. Seine Vision ist unmittelbar und direkt. Es befindet sich auf derselben Ebene wie die Wirklichkeit. Wenn wir die Verbindungskanäle zwischen unserem höchsten Teil und unserem Gehirnverstand öffnen, werden wir inspiriert, empfangen Erleuchtung und tauchen in ihre Tiefe. Dann werden wir den Göttern gleich.

Das also ist der Berg des Verstehens, der Vision und daher auch der Weisheit, des Wissens und der Liebe. Diese drei Attribute sind vielleicht die höchsten Qualitäten im Bewußtsein des Menschen. Sich zu verlieren in kosmischer Liebe, sich zu verlieren in der erhabenen Vision der Weisheit, sich zu verlieren in der höheren Interpretation der Vision, die Wissen ist – Religion, Philosophie, Wissenschaft, drei in einem und eine in drei; und das ist keine theologische Trinität, sondern die eine Wahrheit.

Drei Aspekte Karmas

Die Griechen hatten eine höchst interessante und in der Tat tiefgründige Weise, Karma zu beschreiben. Sie sprachen vom Schicksal, von den Römern oft als „Fatum“ bezeichnet, manchmal als von einer Einheit und manchmal als von einer Dreiheit oder von den drei Moiren; wie auch wir oft davon sprechen, daß Karma einheitlich oder dreifältig ist: aufgeteilt in die drei großen Zeitperioden Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

So wurden die drei Schicksalsgöttinnen oder die drei Spinnerinnen des Schicksals von den Alten Griechen entsprechend drei in einem und eins in drei bezeichnet als Atropos mit der Bedeutung, „das, was nicht verändert oder beiseite gesetzt werden kann“; Klotho, die Spinnerin und Lachesis „das, was uns aufgrund der Vergangenheit zustößt“.

Atropos war die Zukunft, das, was unausweichlich kommt. Sie war mit der Sonne verbunden, mystisch war sie mit unseren geistig-intellektuellen Teilen verbunden oder sie ist, wie wir sagen würden, die im Mānasaputra verkörperte Schatzkammer des Schicksals. In der Kunst wurde sie als eine Grabjungfer dargestellt, die auf eine Sonnenscheibe zeigt – und damit das bezeichnet, was im Schoße der Zeit wartet, bis die dahinziehenden Stunden es uns näher bringen.

Klotho war die Spinnerin, das, was jetzt stattfindet; das, was wir jetzt in unserem Denken und in unseren Gefühlen spinnen oder weben. Sie wurde die Gegenwart genannt und als Grabjungfer dargestellt, die eine Spindel hält und den Faden des gegenwärtigen Schicksals spinnt, das die Zukunft wird; bedeutungsmäßig wurde sie unserer psychisch-persönlichen Natur zugeordnet, die wir als unseren Verstand bezeichnen und die mystisch und historisch eng mit dem Mond verbunden ist, sozusagen mit dem Schatten der Sonne, mit der Reflexion, mit dem reflektierten Licht.

Lachesis war mit der Erde verbunden und repräsentiert die Vergangenheit, die wir jetzt ausarbeiten; in der Kunst wurde sie dargestellt als eine Grabjungfer, die einen Stab hält, der auf ein Horoskop zeigt; das, was man in der Vergangenheit aufgebaut hat, ist jetzt unser.

Atropos, die Zukunft, die Sonne, die mānasaputrische Intelligenz; Klotho, die Spinnerin, die Gegenwart, der Mond, der gegenwärtige aktive Verstand; Lachesis, die Vergangenheit, die wir jetzt auswirken, in diesem Körper, auf dieser Erde. Glauben Sie nicht auch, daß diese griechische Auffassung eine wirklich großartige Weise darstellt, Karma sowohl als Einheit wie auch als Dreiheit anzusehen? Je mehr ich über das subtile griechische Denken nachsinne, das diese Vorstellung entwickelt hat, die drei in einem und das eine in drei, desto mehr bewundere ich diese Auffassung. Karma ist durch solche Methoden in drei Schicksalswege teilbar: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, eines in Dreien.

Deshalb prädestiniert ein Mensch sich selbst, er hat dies in der Vergangenheit getan; was er jetzt auf der Erde ist, ist die Frucht: mit seinem Verstand oder lunaren Teil webt er jetzt sein Schicksal, das sich sozusagen, wenn er es entwirrt, als gesammeltes Wissen in seinem solaren Teil, in der Sonne, in der mānasaputrischen Schatzkammer des Schicksals niederläßt, um eines Tages Gegenwart zu werden und kurz danach Vergangenheit.

Wie Ostern ein christliches Fest wurde

Was ist Ostern, dieses uralte Fest? Für Theosophen ist es in der Tat eine sehr heilige Zeit, eine von den vier wichtigen heiligen Jahreszeiten. Das Wort Ostern wird nicht nur im Englischen, sondern auch in anderen Sprachen gebraucht. Ursprünglich stammte es von den Angelsachsen und wurde von diesen an die Engländer weitergegeben. In anderen Ländern gebraucht man ein aus dem Griechischen stammendes Wort oder vielmehr ein Wort, das von den Griechen aus dem alten Hebräischen entlehnt wurde. Das griechische Wort hieß πάσχα, pascha, und war vom Hebräischen תםפ חספ pesahh, abgeleitet. Es bedeutete „überschreiten“, „überspringen“ und daher auch „verschonen“. Das bezog sich auf die alte jüdische Geschichte in der Bibel, in der erzählt wird, daß zu der Zeit, als Gott der Herr die Kinder Israels aus der ägyptischen Knechtschaft führte, in der Nacht, ehe sie sich auf den Marsch begaben, der Racheengel Jehovas Ägypten heimsuchte und alle erstgeborenen Ägypter erschlug. Er verschonte nur die Häuser der Juden, weil sie von Jehova angewiesen worden waren, ein Mal von Lammblut an der Haustür anzubringen. Das ist eine sehr merkwürdige, alte Erzählung. Wie es so kommt, wurde sie von den meisten Juden und Christen wortwörtlich genommen. Sie ist in der Tat sehr dazu geeignet, Geringschätzung, wenn nicht Verachtung für etwas zu erzeugen, was im Kern wahrhaft wundervoll und von heiligem Charakter ist.

Das Passahfest übernahmen die Christen von den Juden. Sie wollten dieses jüdische Fest, das die Juden an einem bestimmten Datum feierten, jedoch nicht genauso haben. Obwohl die frühen Christen sehr viel von den Juden übernahmen, wollten sie den Dingen gern ihren eigenen Stempel aufdrücken. Sie änderten darum das Datum etwas ab, akzeptierten das jüdische Passahfest im ganzen, übernahmen es, gaben ihm jedoch ein christliches Ansehen und eine christliche Wendung. Die Juden feierten ihr Passahfest am 14. Tag oder am Vollmond ihres Monats Nīsān, ursprünglich ’Ābīb genannt. Das war in der Zeit, wenn der Frühling zur fruchtbringenden Erde zurückkehrt und die Knospen und Bäume zu sprießen beginnen. ’Ābīb bzw. Nīsān◊√ ist der erste Frühlingsmonat. Im Frühjahr nimmt ja alles einen neuen Anfang.

Die Juden feierten, wie gesagt, ihr Passahfest am Vollmondtag des Monats Nīsān, das heißt, 14 Tage nach dem Neumond. Die Christen folgten diesem Beispiel, wollten sich von dem jüdischen Festtag jedoch distanzieren. Aus Unwissenheit oder vielleicht auch aus anderen Gründen, jedenfalls nach jahrhundertelangen Diskussionen – im zweiten, dritten und vierten Jahrhundert waren sie am erbittertsten – entschieden sie sich zu folgender Regel: Ostern, die Zeit der Auferstehung unseres Herrn Jesus Christus, sollte von da an auf den ersten Sonntag fallen, der dem Vollmond nach der Frühlings-Tagundnachtgleiche folgt. Achten Sie auf die Verknüpfung mit einem uralten kosmischen Gedanken. Erst müßte also die Frühlings-Tagundnachtgleiche eintreten, dann wartete man auf den folgenden ersten Vollmond und nahm schließlich den ersten Sonntag nach diesem Vollmond, um Ostern zu feiern. Nach der ursprünglichen jüdischen und auch heidnischen Sitte wurde das Passahfest jedoch weiterhin am Vollmondtag im Monat ‘Ābīb oder Nīsān, im Frühjahr, gefeiert.

Ostern ist kein Fest, das mit einem örtlichen Ereignis zu tun hat. Es ist auch keinesfalls nur ein christliches Fest. Es ist ein Fest von kosmischer Bedeutung. Es stützt sich auf die Jahreszeiten und hauptsächlich auf das Datum der Frühlings-Tagundnachtgleiche. Hier liegt der Schlüssel zum Verständnis des ursprünglich heiligen Festes. Es hatte ganz und gar nichts mit Jesus Christus zu tun. Die frühen Christen hatten jedoch vortrefflichen Grund, dieses Datum für die sogenannte Auferstehung Christi zu wählen. Sie wußten etwas darüber, was im Allerheiligsten des Tempels stattfand. Sie wußten etwas über die vier heiligen Jahreszeiten, die, wie der große heidnische Philosoph Plato sagte, ein Kreuz in der Natur bilden. Die beiden Sonnenwenden stehen sich, genau wie die beiden Tagundnachtgleichen, im Jahresablauf gegenüber und bilden so eine Art griechisches Kreuz. Bei allen Initiationen wurde der Kandidat auf ein kreuzförmiges Lager oder Ruhebett gelegt. Auf diesem kreuzförmigen Bett ruhte er während seines Trancezustandes.

Dieses Niederlegen, der Beginn der Marter, der Prüfung, des Testes, des Kampfes, geschah zu jeder der vier heiligen Jahreszeiten am Neumondtag. Die Initiation begann immer zur Zeit des Neumonds. Fiel der Neumond mit den Tagundnachtgleichen oder einer der Sonnenwenden zusammen, dann wurde das als ein besonders heiliger Zeitpunkt betrachtet. Und das war er auch.

Kennen Sie die christliche Gepflogenheit, mit der nur wenige vertraut sind, und die von den meisten christlichen Geistlichen ignoriert wird, daß als Passionssonntag der 14 Tage vor Ostern liegende Sonntag festgelegt wurde, weil man glaubte, an diesem Tag hätte die Passion oder die Leidenszeit von Jesus Christus begonnen?

Warum wurde die Typenfigur Jesus, der große Lehrer, der Avatāra, mit dem Lamm in Verbindung gebracht und somit zweifellos mit den Lehren über den Tierkreis? Aus einem einfachen Grund: die Christen wollten ihren Lehrer auf jeden Fall mit dem von den Juden erwarteten Messias in Zusammenhang bringen. Sie konnten dies mit Erfolg und sogar mit einem Funken von Wahrheit nur dann tun, wenn sie die alten jüdischen Geschichten mit übernahmen. Die Juden feierten ihr Passahfest, indem sie ein Lamm verzehrten, das an diesem Tag getötet und im Ofen gebraten wurde. Sie verwandelten die esoterische Weisheit über die der Natur innewohnenden kosmischen Gesetze und Verfahrensweisen, wie alle anderen alten Nationen auch, in ein Ritual und eine Zeremonie.

Zeit, Dauer und das ewige Jetzt

Das Wichtigste, an das wir uns im Zusammenhang mit Zeit erinnern sollten, ist, daß es so etwas wie Zeit zwar gibt, aber nicht in einem absoluten Sinne. Was im absoluten Sinne ist, ist Dauer. Worin besteht der Unterschied zwischen Zeit und Dauer? Zeit ist, wie alle manifestierten Dinge, relativ und teilbar. Zeit untergliedert sich in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Jeder dieser drei Zeitabschnitte unterscheidet sich von den beiden anderen. Dauer ist dagegen unteilbar. Sie hat weder Vergangenheit noch Zukunft und folglich ist Gegenwart keine charakteristische Zeit. Was es jedoch gibt, wenngleich es in unserer unvollkommenen Sprache nur sehr schwer ausdrückbar ist, ist ein ewiges Jetzt. Das alles ist wirklich sehr schwer zu beschreiben, obwohl der Gedanke an sich sehr einfach zu erfassen ist.

Die Römer zum Beispiel lebten, litten, ergötzten sich, starben, stolzierten zu ihrer Zeit auf der Weltbühne herum und hatten ihren Auftritt, wie Shakespeare sagte. Jetzt sind sie verschwunden. Ihre Zeit ist zu Ende. Vom Standpunkt der Dauer aus gesehen, sind diese Römer zum augenblicklichen Zeitpunkt genauso lebendig, wie sie es damals waren, denn alles existiert innerhalb eines ewigen Jetzt. Auf die Gegenwart bezogen, können wir ein ähnliches Phänomen beobachten. Die Zukunft ist für uns ein Zeitabschnitt, der erst auf uns zukommt. Der Zeitbegriff ist in unserem Bewußtsein mit der Vorstellung von zeitlichem Abstand verknüpft. Der Grund dafür liegt darin, daß sich unser Gehirnverstand immer auf einen bestimmten Moment fixiert. Vom Standpunkt der Dauer aus gesehen, existiert die Zukunft bereits jetzt.

Wenn ich beispielsweise versuchen würde, meinen gegenwärtigen Verstand, mein augenblickliches Denkvermögen und mein gegenwärtiges Bewußtsein schlagartig in einen Zustand zu versetzen, in dem die Zeit ausgelöscht wäre, dann könnte ich die Existenz eines alten Volkes, wie das der Römer, das bereits sein Ende gefunden hat und für immer verschwunden ist, gar nicht wahrnehmen. Ich könnte nur feststellen, daß wir hier sind, und daß ich über das, was sich in der Zukunft ereignen wird, überhaupt nichts weiß. Wenn es mir jedoch gelänge, meinen Verstand, mein Denkvermögen und mein Bewußtsein in einen solchen Zustand zu versetzen, daß diese zeitmäßig eine unendliche, grenzenlose Dauer umfassen könnten, dann wären meinem Bewußtsein alle Wesen und Dinge der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft gegenwärtig. Und nicht nur das, sondern auch alles Jetzt, das sich im unendlichen Raum und innerhalb der endlosen, grenzenlosen Dauer abspielt.

Natürlich gibt es so etwas wie Zeit, aber sie ist eine Illusion, eine Māyā, das heißt, daß das Ganze für uns sehr schwer zu verstehen ist. Wir können das Wesen der Zeit nicht so, wie es notwendig wäre, begreifen. Aber das liegt nicht an der Zeit. Das ist allein unser Fehler. Unser Verständnis ist zu schwach, um ihr Wesen zu erfassen, und um zu verstehen, warum sie existiert. Wir nennen Zeit deshalb eine Māyā, eine „Illusion“. Das bedeutet nicht, daß sie etwa nicht existiert. Wenn sie das nicht täte, wäre sie keine Illusion. Sie ist etwas, das unser Verständnis täuscht, eben eine Illusion, eine Täuschung.

Newton hatte die Idee, wie man jetzt betont, daß Zeit, ebenso wie Raum und Materie, eine absolute Größe sei; und daß Zeit als absolute Größe in ständiger Bewegung sei – fließend war das Wort; sie fließt aus der Vergangenheit in die Gegenwart in die Zukunft. Die wissenschaftlich geschulten Philosophen der Gegenwart lehnen diese Idee ab. Sie behaupten, daß es gut ist, die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft als einen einfachen, bequemen Weg zu betrachten, um unsere täglichen Pflichten zu erfüllen und um das Leben um uns herum zu verstehen; aber es ist eine irreale Angelegenheit. Zeit ist keine absolute Größe. Man mag dann fragen, was ist eine absolute Größe? Sie werden sagen, es ist das Raum-Zeit-Kontinuum. Darin liegt viel Wahrheit, denn sie haben zuguter Letzt Raum und das, was wir Zeit nennen, zu einem zusammengefügt. Und beide sind das, was wir Dauer nennen. Denn Dauer ist Raum, und all ihre Manifestationen sind Zeit, in der Zeit und durch die Zeit.

Wie illusorisch Zeit für unser Verständnis ist, läßt sich für den Verstand vielfach illustrieren. Wenn wir glücklich sind, vergeht die Zeit sehr schnell. In der Kindheit verging die Zeit, je nach Gemütslage, rasend schnell oder entsetzlich langsam. Später jagt die Zeit ebenfalls davon, oder sie schleppt sich, je nachdem wie wir uns fühlen, unendlich langsam dahin. Was ist also die Zeit an sich? Sie ist eine Bewußtseinsfunktion, im vorliegenden Fall eine Funktion unseres menschlichen Bewußtseins. Dieses ist jedoch ein Attribut des Raum-Zeit-Kontinuums innerhalb der kosmischen Unendlichkeit.

Ob Sie sich nach all diesen philosophischen Erörterungen sehr viel weiser fühlen? Ich kann Ihnen noch das folgende erklären. Es gibt einen Weg, wie man sich bewußt machen kann, was Dauer per se ist, wenn das Bewußtsein außerhalb der Zeit zu stehen scheint. Das ist etwas, das man nicht beschreiben kann. Man versteht es nur solange, wie man sich in diesem Zustand befindet. Ich frage mich dennoch, wie viele Menschen schon die Erfahrung gemacht haben, in dem Augenblick zwischen Wachen und Träumen, oder kurz vor dem Einschlafen, oder vielleicht während eines Ohnmachtsanfalls oder kurz davor oder danach, wenn alle Eigenschaften der Zeit plötzlich verschwinden, und man sich nur äußerster Unermeßlichkeit und äußerster Realität und Zeitlosigkeit bewußt ist, und alles verschwunden ist, das für den Gehirnverstand erfaßbar ist; durch Intuition jedoch völlig verständlich – in die höchsten Ebenen erhoben, das heißt in reines, unverfälschtes Bewußtsein des Geistes, in dem alle Weisheit und Vision enthalten ist – ist das, was die Hindu-Yogis meinen, wenn sie über Sambuddhi-Samādhi sprechen, oder einfach über Samādhi. Wenn das Bewußtsein in diesem Zustand fixiert ist, sprechen die Buddhisten von Nirvana. Nirvana bedeutet „ausgeblasen sein“. Warum? Weil das eingetreten ist, was ich gerade beschrieben habe. Alle niederen Attribute des persönlichen Ego sind in Dunkelheit versunken, haben aufgehört, zu existieren oder wurden überwunden. Ihr Bewußtsein ist für diese Zeit mit dem Universum im Einklang. Sie nehmen in Ihrem Bewußtsein keine Bewegung und keinen Wechsel von Dingen wahr, kombiniert mit dem psychologischen Phänomen von Attributen, wodurch sonst die Wahrnehmung und Einteilung von Zeit entsteht. Jede Wahrnehmung der vorbeiziehenden Ereignisse ist erloschen. Das Bewußtsein hat sich über alle Ereignisse, die mit der Manifestation zu tun haben, erhoben und verweilt allein bei der Wahrnehmung zeitloser Dauer.

Als Illustration, wie illusorisch Zeit ist, – erinnern Sie sich bitte, daß mit der Bezeichnung Illusion nicht behauptet wird, daß sie etwa nicht existiert, man könnte sonst überhaupt nicht über sie argumentieren – möchte ich mich an jene unter Ihnen wenden, die ihre Träume beobachtet haben, ganz gleich, ob diese äußerst lebendig oder nur schwach ausgeprägt waren. Sie werden mir bestätigen, auf wie kuriose Weise sich Zeit und die mit ihr verbundenen Phänomene in diesen Träumen verändern können. In der Psychologie ist es allgemein bekannt, daß sich in Träumen oder unter dem Einfluß einer Droge die Erlebnisse eines ganzen Lebens auf einige wenige Momente verdichten können. Aber auch das Umgekehrte kann passieren: Ereignisse, die sich im Wachzustand, unter normalen Lebensumständen, innerhalb weniger Augenblicke abspielen, können in solchen anomalen Traumsituationen so auseinandergezogen erscheinen, als ob sie Jahre dauerten. Es ist dasselbe Bewußtsein, das diese außergewöhnlichen Visionen zuläßt. „Zeit“ scheint in jedem dieser Zustände wie auch im normalen Jāgrata oder Wachzustand dem damit beschäftigten Bewußtsein genauso „real“ zu sein wie zu jedem anderen Zeitpunkt eine andere Erfahrung.

Der reflektierende Verstand schließt aus diesen Tatsachen schnell, daß es allein das wahrnehmende Bewußtsein ist, das in Wirklichkeit die Zeitvorstellung erzeugt. Es webt die Zeitempfindung aus dem Stoff zeitloser Dauer, die in einem sehr wahren Sinn mit der Essenz des Bewußtseins identisch ist. Es wird manchmal gesagt, daß ein Ertrinkender, den man wieder ins Leben zurückrufen konnte, alle Ereignisse seines Lebens in einem unendlich raschen Überblick vor seinem Bewußtsein vorbeiziehen sieht. Der gesamte Ablauf aller Ereignisse, die Jahre bedurften, zieht nun vor den Augen des wahrnehmenden Bewußtseins in rasend kurzer Zeit wie ein Blitz vorüber, und der Wahrnehmende weiß, daß nichts ausgelassen wurde.

Zeit verhält sich also zu Dauer wie Ausdehnung zu Raum. Zeit ist genauso ein Phänomen der Dauer, wie Ausdehnung ein Phänomen des Raumes ist. In beiden Fällen sind Dauer und Raum das Wirkliche, die Noumena, und Zeit und Ausdehnung die Phänomene, die Illusion, die Māyā.

Bedenken Sie auch, daß es kollektive Formen von Māyā gibt. Eine solche ist es zum Beispiel, wenn die Menschen es als selbstverständlich annehmen, alle Menschen auf der Erde hätten dasselbe Zeitbewußtsein hinsichtlich Tag und Nacht oder wenn sich bei einer Gruppe von Leuten, die ein Theater besucht, an einem Picknick teilnimmt, in einem Zug fährt oder gemeinsam eine Woche am Meer verbringt, ein gleiches Zeitgefühl dafür einstellt, wie lange etwa eine Stunde dauert.

Der Weg der Natur nach dem Tod

Ich glaube, daß es unmöglich ist, zwischen Verstorbenen und den auf der Erde Zurückgebliebenen irgendeine schriftliche oder mündliche Kommunikation herzustellen. Es gibt dafür Tausende von Gründen, Gründe, die auf den Harmoniegesetzen der Natur beruhen.

Eine einzige Ausnahme gibt es von dieser Regel: sie betrifft Sterbende oder Menschen, die gerade gestorben sind. Ein im Bewußtsein eines Sterbenden vorhandener Gedanke kann eine machtvolle, magnetische und intellektuelle Kraft entwickeln. Er kann sich durch die unsichtbaren Wellen des Äthers schwingen und jemanden erreichen, der ihn aufgreift. Dabei kann es geschehen, daß der Sterbende versucht, sich durch eine Art Erscheinung, durch eine leuchtende Gestalt demjenigen verständlich zu machen, an den er denkt. Manchmal springt der Gedanke über, meistens jedoch nicht. Dies sind die einzigen Gelegenheiten, in denen sich ein Sterbender oder ein gerade Verstorbener mit Worten oder schriftlich an die Hinterbliebenen wenden kann.

Die Spiritisten haben in einem Zeitraum von weniger als hundert Jahren ihre verschiedenen Ideen entwickelt. Sie selbst versuchten damit zurechtzukommen, und eine eigene Philosophie aus den Botschaften zu gestalten, die sie von ihren toten Freunden zu erhalten glaubten; und die Widersprüche dabei waren äußerst zahlreich. Diese Widersprüche beweisen uns, daß wir keiner Offenbarung in Gestalt solcher Mittel von außen teilhaftig werden. Andererseits erzählt und lehrt die gesamte Menschheit, ob zivilisiert oder unzivilisiert, seit undenklichen Zeiten, das genaue Gegenteil dessen, was unsere Brüder, die Spiritisten, zu verstehen und mit den wenigen Fakten zu erklären versuchten, die sie haben. Alle großen Menschen des Altertums, ganz gleich, aus welcher Gedankenrichtung oder aus welchem Kulturbereich sie kamen, nannten die Kommunikation zwischen den Lebenden und den Verstorbenen stets Nekromantie. Sie konnten die dabei auftretenden Vorgänge erklären und zögerten nie, die Praxis der Nekromantie zu verdammen. Ich möchte diese Dinge nicht überbetonen. Gewisse geschichtliche Tatsachen sollte man sich jedoch ins Gedächtnis zurückrufen.

Wurde durch diese Offenbarungen, diese Nachrichten oder Mitteilungen eine wissenschaftliche, religiöse oder philosophische Wahrheit verkündet? Sehen Sie sich diese sogenannten Nachrichten doch einmal näher an. Von wenigen Beispielen abgesehen, offenbaren sie, höflich ausgedrückt, nichts als leutseliges, dummes Geschwätz: „Lieber Vater, liebe Frau, liebe Tochter, lieber Sohn! Mir geht es gut, ich bin im Geisterland. Mein Führer teilt mir mit, daß Ihr wartet. Habt bitte keine Sorgen. Übermittelt der kleinen Janie meine Liebe. Ich muß jetzt gehen. Mehr nächstes Mal.“

Welch grenzenloses Pathos liegt in solchen Dingen. Wir sollten die Spiritisten nicht verdammen, wenn sie an so etwas glauben. Ihre Herzen hungern nach einem Beweis für die Kunde aus dem Jenseits, wie sie es nennen. Unser Standpunkt, Brüder, ist folgender: das Einzige, das Sie überzeugen darf, daß Sie auf etwas Wahres in der Natur gestoßen sind, ist Ihr Verstand, eine erdrückende Beweislast und die innere Überzeugung. Anders gesagt, Fakten und keine Theorien.

Es ist natürlich richtig, das ernsthafte Zeugnis eines Einzelnen zu akzeptieren. Was dieser zu sagen hat, wenn er es ehrlich meint, sollte durchaus Gewicht haben. Ich weiß, daß an den Gerichtshöfen das Zeugnis eines ehrlichen Menschen immer Anerkennung findet. Zwei solche Zeugnisse sind selbstverständlich überzeugender. Drei solche Zeugnisse scheinen fast erdrückend zu sein. Wenn wir jedoch diese zwei, drei oder vier Zeugnisse gegen das aufwiegen, was die gesamte Menschheit seit undenklichen Zeiten untrüglich beobachtet hat, müssen wir dann dem Zeugnis der größten Denker, die je in der Vergangenheit lebten, oder dem der bedeutendsten Vertreter der Gegenwart nicht mindestens genauso viel Gewicht beimessen, wie wir bereit sind, den wenigen Enthusiasten, wie ehrenhaft sie auch sein mögen, einzuräumen? Enthusiasmus und Ergebenheit in eine Sache ist noch lange keine Gewähr für Wahrheit. Sie meinen es ehrlich, aber was sie sagen, entspricht nicht der Wahrheit.

Lassen Sie uns einen Moment innehalten und die Sache von einem anderen Blickwinkel aus betrachten. Gehen wir einmal von der Voraussetzung aus, daß wir bis zur Todesstunde noch wissen, was sich auf der Erde abspielt. Und nun stellen Sie sich vor, die Natur würde den Sterbenden erlauben, alles darüber zu wissen, was sich nach ihrem Tod auf der Erde ereignet. In welcher unbarmherzigen Hölle würden sich die Verstorbenen befinden! Könnte es einen Frieden, eine Ruhe, ein Glücklichsein für sie geben, wenn sie immer die schrecklichen Verhältnisse und das Leid auf der Erde vor Augen hätten? Könnte jemand von Ihnen glücklich sterben, müde, sich nach Frieden und Ruhe sehnend, wie es die Gesetze der Natur für uns vorgesehen haben, genauso, wie sie uns in der Nacht Schlaf schenken, um den müden Körper zu erquicken – könnte jemand von uns zufrieden sterben, wenn er weiter damit belästigt wird, zu sehen, was sich in den nächsten 10, 20 oder 50 Jahren auf der Erde ereignet? Solche Fehler macht die Natur nicht. Sie behandelt ihre Kinder nicht in einer solchen Weise. Selbst wenn sie uns wegen unserer Fehler und falschen Verhaltensweisen krank werden läßt, schenkt sie den Körpernerven oft, vielleicht immer, nur ein dumpfes Gefühl, so daß der beruhigende Balsam des Vergessens in das Herz des Leidenden eingeht. Die Natur ist auf Harmonie und Mitleid begründet. Wenn wir sterben, erwartet uns völlige Bewußtlosigkeit, vollständige, barmherzige Bewußtlosigkeit. Es ist kein schmerzlicher Vorgang. Der Vorgang des Todes gleicht einem Einsinken in tiefe Bewußtlosigkeit und einem Hinübergehen in einen vorübergehenden, völlig traumlosen Schlafzustand. Dann kommt für den Durchschnittsmenschen der Augenblick – ich spreche jetzt nicht von Ausnahmefällen, wie sie auf besonders gute oder besonders böse Menschen zutreffen, ich beziehe mich auf die vielen Millionen Durchschnittsmenschen – in dem das Bewußtsein gewahr wird, daß es, wie wir sagen, in Devachan erwacht, in einem Zustand unaussprechlichen Glücks und unaussprechlicher Seligkeit. Devachan ist, wenn Sie es so bezeichnen wollen, ein Traum. Aber es ist ein Traum, der das ganze Wesen erfaßt, das müde Gemüt und das müde Herz. Er läßt alles zur Ruhe kommen und schenkt neue Kräfte.

Was ist dieses Devachan? Es ist das Erblühen der Aktivität all der schönen und lieblichen Dinge, die wir auf Erden in unseren Gedanken geschaffen haben, und für die wir keine Ausdrucksmöglichkeit gefunden haben. Wenn der Körper stirbt, erinnert sich die befreite Seele automatisch, und setzt diese lieblichen Ideale und Sehnsüchte in Bewegung, alles, was erhaben, schön und edel war, und der Verstand verweilt bei ihnen; und er erfährt Friede, Segen, Glück und Ruhe. Alles Leid und aller Schrecken der niedrigeren Ebenen sind vergessen.

Die Natur kümmert sich um ihre Kinder besser als wir, unendlich sorgfältiger und liebevoller als die hingebungsvollsten Eltern, die wissen, wie sie für ihre Kinder sorgen, wie sie ihre Kleinen beschützen müssen. Bezweifeln Sie das? Dann möchte ich Ihnen eine Frage stellen. Erkennen Sie, daß Sie in diesem Augenblick und während Ihres ganzen Lebens von den bösartigsten Krankheitserregern umgeben sind, die Sie sofort töten würden, wenn nicht ein Schutzmechanismus in Ihrem Körper tätig wäre? Wer veranlaßt das? Mutter Natur. Sie wissen es nicht, aber die Natur beschützt Sie gegen Gefahr, deren Sie sich gar nicht bewußt sind; und es ist nur des Menschen eigener Wahnsinn, seine Schlechtigkeit, mitunter die Boshaftigkeit seines Herzens, seine eigene Schwäche, die die Höllen auf der Erde, die wir kennen, erschaffen. Sie sind kein Werk der Natur. Jeder, der versucht, sich seiner moralischen Verantwortung zu entziehen und vorgibt, daß er nur in Übereinstimmung mit der Natur so handelt, weiß in seinem Herzen, daß er lügt. Er selbst ist der Bösewicht. Die Natur beschützt uns, wenn wir es ihr erlauben; und sie beschützt uns wie Eltern, die ihr Kind vor seiner eigenen Unerfahrenheit zu schützen suchen. Die Natur, regiert vom göttlichen Gesetz, versucht sogar, die Körper, die wir beständig unbarmherzig und manchmal sogar mit gieriger Wollust mit Dingen, die Krankheiten nach sich ziehen, schwächen und verderben, wieder zu heilen. Die Natur heilt, vergibt und gibt uns immer wieder eine neue Chance. Sie hält unsere Körper, geschwächt wie sie vielleicht sind, am Leben und schenkt ihnen Heilung. Welcher Schaden auch immer verursacht wurde, er wurde von uns verursacht.

Das Herz der Natur besteht aus grenzenloser Liebe, unendlichem Mitleid und vollständiger Harmonie. Beispiele dafür können wir zu jeder Zeit rings um uns wahrnehmen. Die Natur kümmert sich um ihre Kinder. Sie gibt ihnen Hilfe und beschützt sie. Der Kummer mit uns ist, daß wir uns ständig mit unserer Mutter anlegen. Dabei ist sie die mitleidsvollste und weiseste Mutter, die die menschliche Rasse überhaupt haben kann. Die daraus zu ziehende Lehre kann nur sein: helfen Sie der Natur und arbeiten Sie mit ihr zusammen. Dann wird sie Sie als einen Ihrer Meister betrachten und Ihnen gehorchen.

Wein als mystisches Symbol

Unter vielen Völkern wurde Wein und das Weintrinken als mystisches Symbol benutzt. Wenn wir dieses eine Faktum verstehen, werden wir viele ansonsten unerklärliche Situationen im Leben großer Okkultisten verstehen. Nehmen Sie zum Beispiel den Vorwurf der Trunksucht, den man gegen Paracelsus erhob. Jemand, der vorgibt, ein Okkultist zu sein und trinkt, ist keiner. Das weiß man, seit es denkende Menschen gibt. Niemand hat bewiesen, daß Paracelsus jemals trank oder sich in Tavernen und Spelunken herumtrieb. Haben sich die Gelehrten je überlegt, daß es weise sein könnte, die damit verbundenen Ideen einmal zusammenzutragen, bevor sie irgendwelche Anschuldigungen dieser Art erheben? In der ganzen Welt war es bei den Mystikern eine übliche Gewohnheit, vom Wein oder vom Geist des Weines zu sprechen, wenn man Gott meinte. Selbst heute noch zeigt das Wort „Spirituosen“, eine Bezeichnung für alkoholische Getränke, den Hintergrund der ursprünglichen Idee, denn es enthält den Wortteil „Spirit“ und der bedeutet „Geist“. Das hat nichts damit zu tun, daß alkoholische Getränke etwa gut wären. Da sich im Traubensaft Alkohol entwickeln kann, der sich als entzündbarer und entflammbarer „Geist“, wie die mittelalterlichen Menschen sagten, als Dampf ausscheiden läßt, sagten sich die idealistischen Philosophen, daß man mit dem damit verbundenen Ideenkomplex sehr gut eine Parallele herstellen könnte. Sie betrachteten daher den Wein als ein ausgezeichnetes Symbol für den Geist und sprachen vom Wein Gottes, vom Wein des Lebens.

In der christlichen Kirche gibt es die Kommunion, das Abendmahl. Wird nicht dort der Wein als Kennzeichen des Blutes ihres Heilands betrachtet? Das ist nicht mehr eine bloße Theorie; die lateinische Phrase lautet vere et realiter [d. h. wirklich und wahrhaftig, der Übersetzer]. Die Idee ist natürlich eine Glaubenssache, und dennoch steckt ein großartiger und wundervoller Gedanke dahinter – dieses Teilhaben am Wein in der Verbundenheit des Geistes war die Teilnahme am Geist Christi. Und das war die ursprüngliche Idee der sogenannten heidnischen Griechen bei ihrer mystischen Kommunion in den Bacchusriten.

Gibt es nicht auch eine ähnliche Vorstellung bei den Sufis? Sie gehören zu den mystischsten Völkern der Erde, die das Symbol des Weinkrugs, des fließenden Weines, des fließenden Bechers, als Symbol der Fülle des Herzens betrachteten, das erleuchtet wurde, das mit dem Licht des Geistes erfüllt wurde. War ein Mensch mit dem Göttlichen in seinem Herzen in Gemeinschaft, dann sagten sie, er wäre trunken von Gott, trunken von Geist. Das war eine andere Bezeichnung für jemanden, der innerlich erleuchtet war. Beachten Sie aber, wie man wundervolle Gedanken degradieren kann. Je schöner die Gedanken sind, desto mehr kann man sie entwürdigen!

Die Vierzeiler von Omar Khayyam können jedem klarmachen, was die Sufis meinten, wenn sie von Tavernen, Spelunken und überfließenden Weinkrügen schrieben. Von den Sufis war allgemein bekannt, daß sie keinen Alkohol tranken. Die Orthodoxen unter ihnen rührten höchst wahrscheinlich niemals Alkohol auch nur an. Und dennoch ist ihre Poesie von dem eben erwähnten Gedanken erfüllt, um ihn zu verschleiern, um ihn unschuldig erscheinen zu lassen, wenn Gefahr im Verzug war. Es war die Art, in der die verfolgten Mystiker vertrauensvoll miteinander sprachen.

Die vier Yugas

Zyklen sollten jeden intelligenten Menschen interessieren, denn sie sind ein Ausdruck dessen, wie die Natur funktioniert. Sie sind nichts Wesensfremdes, nichts, was dem Universum von einer außerkosmischen Macht aufgezwungen worden wäre, denn das Universum ist unendlich und durch seine evolutionäre Entfaltung im ewigen Wechsel begriffen. Weil das so ist, muß es die innewohnenden göttlichen Kräfte, welche die gesamten unsichtbaren Bereiche des Universums repräsentieren, vollständig zum Ausdruck bringen. Genauso wie es im Kleinen ist, z. B. beim menschlichen Körper, der nur der äußere und sichtbare Ausdruck dafür ist, daß eine innere, spirituelle Wesenheit am Werk ist, genauso ist es auch in der Natur. Der Mensch kopiert die Natur im Kleinen. Etwas anderes könnte er gar nicht tun, denn es gibt nur ein einziges fundamentales Gesetz, eine einzige fundamentale kosmische Vernunft und einen einzigen fundamentalen kosmischen Plan. Deshalb muß jede Wesenheit im kosmischen Ganzen, sei sie klein oder groß, genauso funktionieren wie der gesamte Kosmos und zwar hinsichtlich ihrer Handlungsweise, ihrer Substanz und ihrem Plan.

Daher sind die Zyklen, denen die kosmischen Körper gehorchen, die Himmelskörper, die Sonnen, Planeten, Kometen oder Nebel, nur die gewaltigen Auswirkungen der kosmischen Gesetze, denen auch kleinere Lebensformen, wie groß und bedeutend sie auch immer sein mögen, unterworfen sind, wobei die kleineren Zyklen die großen genau kopieren. Alle Zyklen sind dem kosmischen Gesetz unterworfen, folgen ihm, folgen seinem Tätigkeitsschema und folgen dem kosmischen Plan. Sie können nicht daraus ausbrechen. Wenn sie es tun würden, würden sie einem Schema folgen, das dem kosmischen Plan, der kosmischen Intelligenz und den kosmischen Kraftströmen entgegenlaufen würde; und das ist unmöglich.

Zyklen sind daher nur kleinere Wiederholungen von Vorgängen, die sich auf einer göttlichen Ebene abspielen. Zu fragen, ob es die Zyklen sind, welche die Evolution auslösen, oder ob die Zyklen erst eine Folge der Evolution sind, bedeutet nur, den Blickwinkel zu verschieben. Beides stimmt. Zyklen zeigen lediglich, wie die Natur funktioniert. Sie sind daher gleichzeitig Ursache und Wirkung. Man kann die Kette der Natur nicht unterbrechen, man kann die Kette des Schicksals nicht unterbrechen. Die vorausgehende Ursache löst eine Wirkung, eine Konsequenz aus, die dazu im entsprechenden Verhältnis steht. Diese Wirkung ihrerseits ist auch nur ein Glied in der kosmischen Lebenskette und erweist sich in der Folge als die Ursache für eine neue, weitere Wirkung und so geht es unaufhörlich weiter. Diese Abfolge von Ursachen und Wirkungen ist die Verfahrensweise der Natur, ihre Arbeitsweise. Eine andere Methode ist unvorstellbar. Ziehen Sie in Ihrem Denken deshalb die naheliegende und unvermeidliche Schlußfolgerung und logische Konsequenz daraus. Diese kann nicht anders lauten als: alles ist zyklisch. Wenn wir deshalb von der Lehre der Zyklen sprechen, sagen wir nichts Neues, von dem niemand vorher je gehört hätte. Wir zeigen einfach ein Faktum der Natur, ein kosmisches Faktum. Beobachten Sie den Verlauf von Fieberanfällen, Krankheiten, Epidemien, beobachten Sie die kontinuierlichen Umdrehungen der Sonne und der Planeten, die zyklischen und regelmäßig aufeinanderfolgenden Bewegungen überall in der Natur: Tag und Nacht, Sommer und Winter, Kälte und Hitze, Nässe und Trockenheit.

In einem gewissen Sinn würde ich auch sagen, daß Zyklen nicht nur die Funktionsweise der Mutter Natur sind, sondern von einem etwas anderen Blickwinkel aus sind sie Evolution, der Weg, wie dieses sonderbare Gesetz arbeitet, das wir den evolutionären Fortschritt zu immer größerer Vervollkommnung nennen.

Die alten Hindus hatten eine Überlieferung, wonach jedes große Zeitalter oder jede große Wurzelrasse vier Zyklen durchläuft, bzw. aus vier kleineren Zeitaltern zusammengesetzt ist. Das erste dieser Zeitalter nannten sie Satya – ein Sanskritwort mit der Bedeutung „Wahrheit“. Sie wollten damit zum Ausdruck bringen, daß in diesem zyklischen Zeitabschnitt die Wahrheit sozusagen auf vier Beinen ruht. Den nächsten Zeitabschnitt, das zweite Zeitalter, nannten sie TretāYuga. Tretā bedeutet „das Dritte“, wenn man vom letzten Zeitalter aus vorwärts zählt. Man sagte, in diesem Zeitalter stünde die Wahrheit nur noch auf drei Beinen. Nicht, daß das vierte Bein, symbolisch gesprochen, verschwunden wäre, aber die Hindus sagten, daß man in einer gewissen Weise vergessen hatte, wie es zu gebrauchen wäre. Es schien an Muskelschwund zu leiden, zeigte Lähmungserscheinungen und erwies sich zeitweilig als nutzlos. Es war also nicht gänzlich unbrauchbar, aber doch zum überwiegenden Teil. Das dritte Zeitalter nannte man Dvāpara Yuga. Dvāpara bedeutet „das Zweite“, vom letzten Zeitalter aus vorwärts gezählt. In ihm, so sagte man, steht die Wahrheit nur noch auf zwei Beinen. Die anderen beiden sind zu einem großen Teil jetzt nicht mehr funktionsfähig. Im vierten Zeitalter, im gegenwärtigen, dem Kali Yuga, dem Eisernen oder „Dunklen“ Zeitalter, hüpft die Wahrheit, im übertragenen Sinne, nur noch auf einem Bein. Das bedeutet nicht, daß die anderen drei Beine nicht mehr da wären. Man hat nur größtenteils vergessen, wie sie zu gebrauchen sind.

Die Bedeutung dieser sehr interessanten Hindu-Parabel ist sehr einleuchtend: In der Natur existieren vier Grundeigenschaften, vier Grundprinzipien. Eigentlich sind es sieben, aber in der gegenwärtigen Evolutionsperiode sind bei uns lediglich vier entwickelt, da wir uns erst in der sogenannten vierten Runde befinden. Diese vier genannten Zeitalter stehen für die spirituelle, intellektuelle, psychische und physische Seite der Natur, für ihr vierfaches inneres Gerüst. Diese Seiten sind sozusagen die vier Beine, auf denen die Wahrheit beruht. Das besondere Kennzeichen des ersten Zeitalters ist Spiritualität. Die anderen drei Grundprinzipien funktionieren unter ihrer Führung. Im zweiten Zeitalter ist die Spiritualität zwar noch spürbar, hat aber deutlich an Einfluß eingebüßt. Dafür ist der Intellekt jetzt das dominierende Element, ohne jedoch die anderen drei Grundprinzipien gänzlich zu unterdrücken. Im dritten Zeitalter sind im Menschen und in der Natur vor allem die psychischen Instinkte dominierend. Natürlich spielen die spirituellen und intellektuellen Bereiche auch noch eine Rolle, aber die Menschen betrachten diese nicht mehr als die dominierende Kraft in ihrem Leben. Wenn die Menschheit ins vierte Zeitalter, ins Kali Yuga eintritt – wir befinden uns gerade darin – und die Wahrheit nur noch auf einem Bein steht, dann legt sie allen Angelegenheiten eine besondere Bedeutung bei, die mit rein materiellen Dingen zu tun haben. Das verbleibende Bein ist ein Symbol für die Wertschätzung aller Dinge, die mit der physischen Seite der Natur verknüpft sind. Obwohl wir fühlen, daß spirituelle Elemente in uns vorhanden sind und unser intellektueller und psychischer Apparat funktioniert, lassen wir diesen Teilen unserer Konstitution nicht die Vorherrschaft. Statt sie zu den dominierenden Kräften in unserem Leben werden zu lassen, bleiben sie für uns wie Traumgebilde. Nur in unseren höchsten Idealen sind sie lebendig. Dafür interessieren uns nur materielle Dinge. Was mit diesen, mit der Ausübung von Macht, von Gewalt und Gewalttätigkeit zu tun hat, das allein ist im Mittelpunkt unseres Interesses. Wahrlich, die Wahrheit steht nur noch auf einem Bein.

Wenn dieser Zyklus endet, wird ein neuer beginnen. Für die Zeit, die der neue Zyklus dauert, wird die Erkenntnis der Wahrheit wieder die dominierende Kraft in unserem Leben sein. Die Menschen werden dann hauptsächlich im Einklang mit spiritueller Anziehungskraft handeln, denken und fühlen.


Wie kann man Reinkarnation beweisen?

Wie kann man beweisen, daß die Reinkarnation eine Tatsache ist? Dies ist eine der am häufigsten an uns gestellten Fragen. Trotzdem frage ich mich immer wieder, wie man eine solche Frage überhaupt stellen kann. Erwartet man einen Labortest für einen Umstand, der mit einem Labor gar nichts zu tun hat?

Was ist ein Beweis? Ein Beweis liegt dann vor, wenn im Verstand Überzeugung geweckt wird, daß etwas wahr ist. Das ist die Beweisdefinition, wie sie bei Gerichtsverfahren angewandt und für überzeugend gehalten wird. Wenn also durch die Vorlage von Beweismaterial der Verstand von der Wahrheit eines Sachverhaltes nicht überzeugt werden kann, dann ist die betreffende Sache auch nicht bewiesen, selbst wenn sie wahr ist. Das heißt also, die einzige Möglichkeit, sich eine Sache zu beweisen, besteht darin, daß man sie bis zum Ende durchdenkt. Erst dann ist man überzeugt. Selbst wenn man noch so unrecht hat, bleibt dies für denkende Menschen die einzig mögliche Art und Weise, sich einen wirklichen Beweis zu verschaffen. Man verwechsle aber nicht Beweismaterial und Beweis. Ich habe zum Beispiel eine Quittung, die besagt, daß eine bestimmte Summe von tausend Dollar bezahlt wurde. Beweist dies, daß das Geld wirklich bezahlt wurde? Jeder Rechtskundige wird Ihnen bestätigen, daß dies kein Beweis ist. Diese Quittung ist lediglich ein Beweismittel für die mögliche Tatsache, daß tausend Dollar von diesem oder jenem an Herrn Soundso gezahlt wurden. Aber es kann auch ein Betrug vorliegen. Die Quittung muß gar keine echte Quittung sein. Wenn aber jemand, nachdem er ausführliche Einzelheiten über die Sachlage gehört und das seinem denkenden Gemüt unterbreitete Beweismaterial gesichtet und geprüft hat, davon überzeugt ist, daß X an Z tausend Dollar bezahlt hat, dann bekräftigt ein solches Beweismaterial die im Verstand hervorgerufene Überzeugung, da es diese verstärkt.

Wie kann man also irgend jemandem Wiederverkörperung beweisen? Indem man das unvoreingenommene und nachdenkende Gemüt davon überzeugt, daß sie die einzig mögliche und befriedigende Erklärung für das Vorhandensein menschlicher Wesen bildet. Wie kommt ein solcher einleuchtender Beweis zustande? Durch Nachdenken. Zum Beispiel: Wir müssen von der Wirklichkeit unseres Hierseins ausgehen. Wir sind nicht alle gleich. Wir unterscheiden uns stärker voneinander als die Blätter auf den Milliarden von Bäumen, die auf der Erdoberfläche wachsen. Jeder Mensch ist eine Einheit für sich. Wie kam dieses denkende und fühlende Geschöpf auf diese Erde? Wurde es von Gott erschaffen? Beweisen Sie mir erst, daß es solch einen schöpferischen Gott überhaupt gibt.

Wieviel einfacher und vernünftiger ist die – zunächst hypothetische – Annahme, daß wir mit dem Menschen ein denkendes, fühlendes und seiner selbst bewußtes Wesen vor uns haben, das sich in diesem Leben unter uns befindet. Wir finden dieses Wesen auf einer gewissen Stufe einer augenscheinlich unvergleichlich langen Entwicklungsreise. Dies ist der erste Gedanke. Wir sind hier. Wir wurden nicht durch ein Wunder erschaffen – von einem außerkosmischen Gott voll unendlicher Ungerechtigkeit, der einige Menschen fast gottähnlich erschuf und andere dafür schrecklich elend und unglücklich. Man kann den Verstand nicht betrügen und sagen, „diese Dinge müssen wir der göttlichen Barmherzigkeit überlassen, sie stehen außerhalb unserer Macht“. Das ist keine Antwort und kein Beweis für einen denkenden Menschen. So versucht man der Frage einfach aus dem Wege zu gehen.

Wir müssen mit der Tatsache unserer Existenz fertig werden und auch damit, daß wir uns weitgehend voneinander unterscheiden. Außerdem bemerken wir in uns die Fähigkeit des Wachstums. Wo können wir dieses Wachstum vollziehen, wenn wir nur ein einziges, kurzes Erdenleben zur Verfügung haben? Wie steht es mit den armen Kindern, die geboren werden und sterben, ehe sie ihre Chance zu äußerem und innerem Wachstum überhaupt wahrnehmen konnten? Erhalten sie keine neue Chance, um zurückzukommen, keine Gelegenheit zu einem neuen Versuch? Wir müssen die Dinge so sehen, wie sie sind. Ich würde es meinerseits niemals fertigbringen, den kosmischen Geist, dessen Kennzeichen Harmonie und kosmische Gerechtigkeit sind, der Ungerechtigkeit und Parteinahme zu beschuldigen – niemals!

Ein anderer Gedanke: wer sind wir eigentlich, wir menschlichen Egos mit unseren wundervollen Kräften und Empfindungen? Woher kommt unser Gefühl für Ethik? Dieser Gedanke veranlaßte den deutschen Philosophen Kant zu der Folgerung, daß es eine göttliche Gerechtigkeit geben muß, denn unsere ethischen Empfindungen stehen oft, wie es scheint, mit unseren selbstsüchtigen und rein persönlichen Interessen im Widerspruch. Das zeigt sich zum Beispiel dann, wenn jemand sein Leben für ein großes Ideal oder für jemanden opfert, den er liebt. Darin liegt etwas Göttliches. In diesem Augenblick zeigen wir das Göttliche in unserer Natur. Sagt uns dies nicht, daß wir unserem Wesen nach Söhne Gottes sind, wie die Christen sagen würden; Funken der göttlichen Flamme, die das Weltall im geordneten Ablauf hält – Funken jener göttlichen Harmonie und Intelligenz, welche die mannigfachen Wunder um uns im Himmel und auf Erden bewirken? Wir sind in diesem Universum, weil wir wesentliche, unzertrennliche Teile von ihm sind. Wir können es niemals verlassen. Wir gehören zu ihm. Es ist wir, und wir sind es in unserer Essenz. Was bedeutet es, wenn wir aus seinem Stoff, seiner innersten Essenz geformt sind? So wie es ewig ist, so sind auch wir ewig. Wir sind so beständig wie das Universum und genauso unvergänglich. Seine und unsere innerste Essenz sind identisch.

Lassen Sie uns in Gedanken einen Schritt weitergehen. Da es nirgendwo Zufall gibt, kein Ungefähr, nichts außer der unfehlbaren Tätigkeit des kosmischen Gesetzes, sind auch wir Menschen, die wir nur eine kleine Hierarchie in diesem Kosmos darstellen, nicht zufällig hier. Unsere Existenz hat einen Sinn, und dieser Sinn hat seine Wurzel im kosmischen Leben, in der kosmischen Intelligenz und im kosmischen Gesetz. Es wäre völlig sinnlos, wenn wir auf dieser Erde nur für ein kurzes Erdenleben erscheinen und wieder verschwinden würden, und wenn dabei nichts Gutes herauskäme, oder wir vielleicht für unsere bösen Taten nicht bezahlen müßten.

Warum sind wir hier auf dieser Erde? Warum sind wir gerade jetzt hier? Warum haben auch zu anderen Zeiten Menschen gelebt? Wie steht es mit den Menschen künftiger Zeiten? Warum werden sie dann hier sein? Das alles untersteht dem kosmischen Gesetz. Folgen Sie bitte dem Gedankengang weiter, denn wir wollen Schritt für Schritt vorwärts gehen. Da wir aufgrund eines kosmischen Gesetzes hier sind und ein einziges Leben zur Erfüllung der Absichten des kosmischen Willens völlig ungenügend ist, ist klar, daß unsere Existenz ein Beweis für die Reinkarnation ist. Was sollte uns sonst hierher bringen? Welcher kosmische Wille brächte uns gerade hierher, anstatt auf einen anderen Planeten in unserem oder in einem anderen Sonnensystem? Wir sind hier, weil wir schon früher hier gewesen sind, weil wir hier eine Saat für unser Schicksal gesät haben und nun zurückgekommen sind, um diese Saat zu ernten. Dieses vom kosmischen Gesetz regierte Universum wird es uns nicht gestatten, in der Gegend von San Diego Mais oder Weizen zu säen und drei oder vier Monate später nach Arizona oder Nevada zu fahren, um dort Mais oder Weizen zu ernten. Wo wir gesät haben, müssen wir auch die Ernte einbringen. Es geht nicht anders. Unser bloßes Dasein hier ist für einen Menschen, der klar und logisch von Stufe zu Stufe, von Gedanke zu Gedanke schlußfolgern kann, ein Beweis für die Reinkarnation. Sonst müßten wir glauben, das kosmische Gesetz habe uns nur zufälligerweise hierher gebracht. Wer aber glaubt etwas Derartiges? Würde der Zufall die Welt regieren, dann würden die Sterne und alle Planeten die kosmischen Räume in wildem Durcheinander, ohne Gesetz, ohne Vernunft, ohne Ordnung, ohne Intelligenz und ohne System durchziehen.

Hier haben Sie Ihren Beweis. Sie müssen nur darüber nachdenken. Denken Sie alles vernünftig durch und gehen Sie dabei logisch Schritt um Schritt vor. Wir befinden uns hier auf dieser Erde, weil wir hier Schicksalssaaten, Lebenssaaten gesät haben und deshalb kommen wir zurück, um sie hier zu ernten, um das Unrecht, das wir in der Vergangenheit getan haben, wiedergutzumachen und die Belohnungen zu ernten, zu welchen wir in der Vergangenheit den Samen gesät haben. Deshalb werden wir auch künftig zur Wiederverkörperung zurückkommen. Wir machen uns jetzt zu dem, was wir in Zukunft sein werden. Wir sind gerade dabei, unser Schicksal für unser nächstes Erdenleben vorzubereiten. Ich spreche jetzt nicht von den Zwischenstadien des Lebens zwischen zwei Erdenleben. Das ist eine weitere wunderbare Geschichte. Ich möchte hier nur darstellen, daß im Bereich des universalen Gesetzes alle Dinge gesetzmäßig ablaufen, nach Ursache und Wirkung verlaufen. Jede Ursache erzeugt eine Wirkung, der man nicht entgehen kann. Wenn Sie Ihre Seele durch übles Denken und Fühlen verunstalten, können Sie durch solches Tun nicht zu einem Engel des Mitleids werden. Sie werden innerlich häßlich und mißgestaltet und die Belohnung und Vergeltung davon ernten, was Sie sich selber angetan haben.

Das Universum ist beseelt. Diese Seele ist für das Universum das Gleiche, was die menschliche Seele für den Menschen ist. Das physische Universum, das wir rings um uns sehen, ist nur der Körper des Universums, geradeso wie der Körper des Menschen nur die physische Hülle für seine Seele ist. Sowohl das physische Universum als auch der menschliche Körper sind ein nur sehr unvollkommener Ausdruck für die göttlichen, spirituellen, intellektuellen, psychischen, astralen und all die höheren Gesetze, Energien, Kräfte und Substanzen, die in ihrer Gesamtheit die unsichtbaren Welten des Raumes sind.

Sehen Sie, wie wir Schritt für Schritt durch Vernunft, Instinkt und durch sorgfältiges Durchdenken der Sachlage zu der Überzeugung kommen, daß wir unserem innersten Wesen nach nicht nur Kinder oder Abkömmlinge des göttlichen Feuers sind, sondern als solche Funken der göttlichen Flamme in evolutionärem, zyklischem Wachstum ständig vom Niederen zum Höheren fortschreiten, geradeso wie ein Kind geboren wird und von seiner von Gedanken unbeschwerten Kindheit zu einem denkenden und fühlenden Menschen mit ethischer Veranlagung heranwächst?

Wenn Sie dieser Methode vernünftiger Schlußfolgerung nachgehen, dann brauchen Sie nie mehr jemanden zu bitten: Beweisen Sie mir, daß es Reinkarnation gibt. Sie können sich diesen Beweis selbst verschaffen.

Das unbesiegbare Feuer des Geistes

Wie ist es in der Tat vortrefflich und wunderbar, daß sich die Dinge des Geistes über die Dinge des Intellekts und des Körpers erheben und weit darüber stehen. Hier, im Feuer des Geistes und in der Flamme jenes Feuers, das in allen unseren Herzen brennt, sind wir Menschen wahrhaft unbesiegbar. Es hat nichts zu bedeuten, woran ein Mensch glaubt, was ihm sein Gehirnverstand eingibt oder welche Überzeugungen er hat. In ihm, im innersten Teil seines Wesens, leuchtet für immer das Licht der Seele, das ihn mit dem Göttlichen und daher auch mit allen Brüdern der menschlichen Rasse verbindet.

Behalten Sie es stets in Erinnerung: Hinter allen Wolken leuchtet das goldene Sonnenlicht, ein inneres wie äußeres Sonnenlicht, ein Sonnenlicht der Vision, der Überzeugungskraft, der Hoffnung und des Glaubens, der Pistis, wie die frühen Christen sagten, und sie bezogen sich dabei auf die Essenz der Dinge, die man nicht sieht, deren Vorhandensein einem jedoch bewußt ist.

Ein Mensch ist so groß wie die Kapazität seines Denkens ist. Nichts bestimmt ihn genauer. Soll ich hinzufügen, daß dies auch für die Tiefe seines Empfindens gilt? Es dürfte nicht notwendig sein, denn wer tiefe Gedanken hat, entwickelt auch tiefe Gefühle.

Wissen bringt Verantwortung

Es ist niemals wahr, daß es dem Adepten, dem Initiierten oder dem Wissenden erlaubt wäre, dem Pfad der linken Hand zu folgen oder diesen auszuüben. Niemals! Das ist immer falsch. Wenn wir das glauben, würden wir uns auf die Stufe jener stellen, die sagen: der Zweck heiligt die Mittel. In Wirklichkeit hilft der Starke dem Schwachen, streckt der Kräftige die helfende Hand aus und instruiert der Wissende den Unkundigen. Jene, die dem Pfad der linken Hand folgen, sind stets Schwächlinge, sind immer im Dunkeln – ein Synonym für den Pfad der linken Hand –, wogegen die stark und erleuchtet sind und das Licht bei sich haben, die dem Pfad der rechten Hand folgen.

Wissen bringt Verantwortung ebenso wie Macht, und verpflichtet diejenigen, die es besitzen, es zum Nutzen aller einzusetzen, unabhängig davon, ob sie dem Pfad der rechten oder der linken Hand folgen. Wenn jemand, der auf dem Pfad der rechten Hand geht, sein Wissen, seine Weisheit, seine Macht mißbrauchen könnte, wäre er nicht ein Vertreter des rechten Pfades, sondern des linken. Das würde selbst dann zutreffen, wenn er sein Wissen gegenüber jemandem mißbrauchen würde, der den Pfad der linken Hand geht. Der weiße Magier bemüht sich sogar um den Bruder des Schattens – damit er nicht weiter in den Abgrund fällt, sondern wieder nach oben findet! Er benutzt Macht und Weisheit allein für wohltätige Zwecke. Dem Pfad der linken Hand könnte er niemals folgen. Das würde ihn nicht nur völlig erniedrigen, sondern auch in seiner Entwicklung zurückwerfen. Es wäre ein vollständiger Rückschritt. Aus diesem Grunde ist es nur natürlich, daß von jemandem, der für den Pfad der rechten Hand arbeitet und ihm folgt, wesentlich mehr erwartet wird als von einem Menschen, der den linken Pfad geht. Er weiß mehr und besitzt größere Stärke. Es sind das Wissen und diese Stärke, die ihm Verantwortung auferlegen.

Lassen Sie niemals auch nur für einen einzigen Augenblick die Idee in Ihr Gemüt einsickern, daß Sie, weil Sie etwas wissen und dieses Wissen benutzen können, berechtigt sind, es zu mißbrauchen. Glauben Sie nie, daß von Ihnen weniger erwartet wird als von jenen, die dieses Wissen nicht haben. Anders ausgedrückt: Sie dürfen nicht dem winzigsten Gedanken in Ihnen Raum geben, der Ihnen zuflüstert, Sie hätten für irgend etwas dieser Art auch nur die geringste Erlaubnis. Das bedeutet, daß Sie nur dazu berechtigt sind, es zu einem guten Zweck zu verwenden. Das ist keinesfalls eine schwächliche Gefühlsregung. Zuweilen müssen Sie Ihre starke rechte Hand gebrauchen. Der Polizist ist manchmal genauso notwendig wie eine Krankenschwester. Beide sind Repräsentanten der Seite der rechten Hand. Würden sie ihre Stellung mißbrauchen, dann würden sie zur Seite der linken Hand gehören. Stärke verpflichtet zu einem ehrenhaften Verhalten. Wissen bedeutet, eine ehrenhafte Verpflichtung einzugehen. Das schöne, alte französische Sprichwort Noblesse oblige bedeutet nicht, Adel könne gefällig sein, sondern Adel verpflichtet. Das Merkmal einer edlen Abkunft zeigt sich im Willen, sich selbst zu opfern und für andere Verantwortlichkeiten zu übernehmen. Ein solcher Mensch ist ein Lastenträger, ein wirklicher Helfer. Selbst heutzutage hat niemand das Recht, sich als einen Gentleman zu bezeichnen, wenn er in erster Linie seine eigenen Interessen verfolgt. Wer dies tut, hat diese Bezeichnung nicht verdient.

Der Widersacher

Mit großem Interesse verfolge ich, wie viele Leute an einem Thema interessiert sind, dem einige Zweige der Religionsphilosophie den Namen „der Widersacher“ gegeben haben. Ich glaube, dies ist zum größten Teil der Tatsache zuzuschreiben, daß außerhalb des Dogmas, aus dem alles Leben entwichen ist, selbst in den exoterischen Lehren noch ein Überrest der Realität verblieben ist. Das menschliche Herz erkennt, daß all diese verschiedenen theologischen Lehren auf einer tief bedeutungsvollen Tatsache beruhen. Und dies ist meiner Ansicht nach der Grund dafür, weshalb die Christliche Kirche und die Christen so lange gekämpft haben, um die groben anthropomorphischen und wirklich absurden Vorstellungen zu überwinden, die sich um den zentralen Kern der reinen Wirklichkeit gebildet hatten.

Welches ist dieser zentrale Kern? Es gibt Opposition im Universum. Das ist der Grundton der Bedeutung des Hebräischen Wortes śātān: Widersacher, Opponent, oder des griechischen und lateinischen Wortes diabolos, von dem das deutsche Wort Teufel, das französische diable und das italienische diavolo und das englische devil herstammen. Die verschiedenen Ausdrücke und Schreibweisen des ursprünglichen Wortes entstanden in den verschiedenen Völkern; der ursprüngliche Ausdruck, von dem sie sich alle ableiten, war zweifellos das griechische Wort diabolos, mit der Bedeutung „Der Ankläger“ und daher „Der Widersacher“. Wie eben gesagt, verkörpert der Gedanke, der hinter dem Wort steht, die Idee eines Anklägers, eines Opponenten, eines Widersachers. Wie gröblich ist diese wunderbare philosophische und religiöse Idee entstellt worden durch eine rein anthropomorphische oder vermenschlichte Personifikation der Opposition in der Natur – eine Opposition, die in Wahrheit höchst wohltätig und hilfreich sein kann und es in der Tat ist, oder einer Opposition, die andererseits schädlich und böse sein kann. Dies ist der Grundgedanke der Lehre, und deshalb sagten die Hebräer, indem sie zur Erklärung einer großen kosmischen Wirklichkeit Worte gebrauchten: „Opponent“, „Widersacher“, und die wortgewandten Griechen sprachen vom „Ankläger“. Warum? Dieses „Warum“ wird in der theosophischen Lehre damit erklärt, daß es in Wirklichkeit kein kosmisches Individuum gibt, das als Opponent oder Widersacher der Menschen oder Götter wirkt, denn der „Ankläger“, der „Widersacher“, der „Opponent“ besteht in Wirklichkeit, soweit es den Menschen betrifft, aus unseren eigenen Schwächen, Übeltaten, schlimmen Gedanken und bösen Gefühlen, die eines Tages, früher oder später, karmisch auf unserem Weg auftauchen, um uns entgegenzutreten und uns anzusehen, uns anzuklagen und uns sozusagen als den Übeltäter auszuweisen. Sie, unsere eigenen früheren Selbste, sind nun zu den Widersachern und Anklägern des gegenwärtigen Selbst geworden. Dieses Phänomen in der Natur und im menschlichen Wesen haben die frühen Christen personifiziert und sprachen vom diabolos oder Satan, denn für sie war es ein sehr reales Ding.

Achten Sie jedoch darauf, wie erstaunlich und großartig uns jede Wahrheit wunderbare Dinge zu lehren vermag, denn der Widersacher, wie aus den vorangegangenen Bemerkungen klar hervorgehen sollte, wird in Wirklichkeit zu einem höchst wertvollen Lehrer; wir lernen aus den Fehlern der Vergangenheit nicht nur, sie in Zukunft zu vermeiden, sondern in Zukunft stärker zu werden als sie. Der karmische Widersacher wird deshalb zum Unterweiser; die Fehler, aus denen wir gelernt und die wir auf diese Weise überwunden und hinter uns gebracht haben, erweisen sich selbst als unsere Führer und Lehrer – mit anderen Worten: frühere Hindernisse werden, wenn sie überwunden wurden, Stufen zu höheren Dingen.

Indem sie dieser Idee in einer weiteren, aber gleich wichtigen Bedeutung nachgingen, haben die Alten Mystiker und Okkultisten, die Theosophen des uralten Wissens, stets gesagt, daß der Name des Lehrers, des Gurus, des Unterweisers, des Retters, der Widersacher sei. Dieser wird es dem Neophyten nicht erlauben, aufwärtszugehen, ehe dieser Neophyt nicht seinen Wert bewiesen hat, ehe er nicht die Schlüsselworte gelernt hat, die Paßworte, die in erster Linie Selbstüberwindung und künftige Sicherheit bedeuten. Sehen Sie, wie wunderbar leicht dieser Gedanke, diese Grundlehre, von einer Erklärung zu einer ebenso wichtigen Erklärung führt und trotzdem so schwierig erscheint. Daher wurden die alten Lehrer immer als Nāgas oder „Schlangen der Weisheit“ bezeichnet. Daher wurde gleichermaßen die opponierende Kraft in der Natur, ob göttlich oder schädlich, als ein Nāga bezeichnet, als eine Schlange im Garten Eden oder als eine Schlange der Weisheit.

Eine christliche Lehre im Neuen Testament, die vermutlich von inspirierten Intelligenzen stammt, fordert uns auf, die Schlangen zu verehren. Sehen Sie, wie anschaulich diese Aufforderung ist: „Seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben.“ Derart sind all die großen Adepten, all die Buddhas und Christusse, die Mitleidsvollen, die Betrübten, betrübt über die Unwissenheit der Menschheit.

Wir lernen, von unseren Schwächen zu höheren Dingen aufzusteigen. Unsere Schwächen selbst werden zu unseren Lehrern; und sobald wir die Lektionen aus den Schwächen gelernt haben, ist es nicht länger notwendig, uns wegen weiterer Instruktionen an sie zu halten. Dann, sagen wir, werden sie nämlich zu bösen Lehrern, denn wir haben bereits genug gelernt und sind mit ihrer Hilfe schon höher gestiegen. Wir verschwenden dann nicht nur Zeit, sondern handeln auch falsch, wenn wir uns von den Gedanken und Gefühlen und gegnerischen Emotionen der Vergangenheit beeinflussen lassen. Es ist unsere Pflicht, zu höheren Dingen zu schreiten und die neuen Opponenten herauszufordern, die neuen Ankläger. „Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an.“ Verstehen Sie den Gedanken? Die Tür öffnet sich. Der Widersacher, der augenblickliche Opponent sagt: „Wer bist du?“ Wenn man die richtige Antwort gibt, darf man passieren; ist die Antwort falsch, wird die Tür vor einem geschlossen, weil es so in Wirklichkeit ist. Man kann keinen Schritt vorwärts- oder aufwärtsgehen, bevor man nicht die Paßworte kennt, die Teile von einem selbst sind, mit anderen Worten, ehe man nicht den Willen und die Intelligenz hat, recht zu handeln. Man selbst wird dann in einem solchen Falle zum Widersacher, zum sogenannten Satan. Man muß sich selbst überwinden, diesen Teil von sich, um höher gehen zu können. Deshalb lernen wir, über die Stufen unserer früheren Selbste neue Selbste zu werden. Unsere besten Selbste sind ein Ideal vor uns, das wir erreichen und mit dem wir weiterbauen müssen. Unsere gegenwärtigen Selbste werden ihrerseits eines Tages weitergehen, und wir werden dem Geist, dem göttlichen Selbst der Zukunft begegnen, und auch dieses wird uns fragen: „Wer bist du? Gib das Paßwort.“ Das Paßwort ist Wissen, ist Weisheit, ist Selbstlosigkeit, der große Schatz vergangenheitslanger spiritueller Erfahrung. Seid weise wie die Schlangen, aber unschuldig und harmlos wie die Taube. Dies ist eine höchst wunderbare und tiefe Allegorie. Es nimmt nicht wunder, daß sie in den verschiedenen Teilen der Welt nacheinander von allen Völkern der Menschheit angenommen wurde. Steigt auf euren toten Selbsten zu höheren Dingen empor.

Ein Aspekt des Widersachers ist unser gegenwärtiges Selbst, ein wunderbarer Gedanke! Sollen wir das gegenwärtige Selbst überwinden, den Widersacher, der uns am Höhersteigen hindert, weil es nicht höher ist, weil es nur ein Selbst ist? Wenn wir dies tun, haben wir das Paßwort gegeben und steigen höher, wir durchschreiten die Portale der Weisheit. Der Widersacher ist nicht mehr länger ein Tyrann. Der Initiator muß nicht mehr länger unsere spirituellen und intellektuellen und moralischen Zeugnisse, unser eigenes Selbst, unsere eigene Inspiration prüfen. Der Widersacher wird zum göttlichen Freund, zum Retter aller Menschen, zur Schlange der Weisheit.

Dies ist eine großartige Allegorie voll tiefer Bedeutung. Sogar die Dichter der modernen Zeit, der relativ modernen Zeit, haben diese Idee begriffen. Mögen sie auch keine Theosophen sein, so erfaßten sie sie doch durch Wiedererinnerungen aus früheren Leben auf Erden, wo ihnen diese Lehre gelehrt wurde. Milton, der englische Dichter, beschreibt zum Beispiel den Fall Satans oder Luzifers, der gemäß christlicher Theorie einer der höchsten Engel war, der „fiel“. Das ist die gleiche Idee von einem etwas anderen Blickwinkel, eine neue Seite des Gedankens. Der Engel klettert innerhalb der himmlischen Sphären aufwärts, selbsterlöst. Das Selbst, der Hauptwidersacher, sei es das eines Gottes oder eines Menschen oder eines der in unzähligen Hierarchien lebenden Wesen in der menschlichen Natur, für jeden ist ein Widersacher da, für es oder ihn selbst. Und dennoch, großartiges Wunder, ist die Natur so mitleidsvoll aufgebaut, daß wir aus unseren Fehlern bessere Dinge lernen. Von der Häßlichkeit lernen wir Schönheit. Aus überwundener Schwäche wird neue Stärke geboren. Aus dem Unheiligen schreiten wir zur Heiligkeit fort. Was einst die Opposition, der Opponent, der Widersacher war, wird, wenn wir ihn mit Mut herausfordern, und das Himmelreich mit Stärke nehmen, zum Heiland, zum Initiator.

So ist es mit unseren eigenen Selbsten. Haben Sie je bedacht, daß ein überwundener Fehler zu einer neuen Stärke in Ihrem Charakter wird; daß eine überwundene Versuchung Ihnen mehr Kraft gegeben hat? Sie haben dieses Ziel ja durch die Ausübung Ihres Willens erreicht! Ihr Wille ist stärker geworden. Das Mitleid für andere ist in Ihnen mehr geweckt worden. Ihre Vision wird leuchtender, zu einer weitblickenden Hellsichtigkeit. Die Erfahrung lehrt uns denken. Es ist Erfahrung, die uns wachsen läßt. Diese Erfahrung ist es, die der Widersacher, der Ankläger ist.

Alle Völker haben über die Opposition im Universum gelehrt, und sie lehrten ausgezeichnet darüber. Aber soviel ich weiß, waren es ausschließlich die sehr primitiven Stämme und das spätere Christentum, die als einzige dieses kosmische Prinzip als eine engelhafte Wesenheit personifiziert und vermenschlicht haben, in einem Christentum dämonischer Art. Die grundlegende Idee ist auf der ganzen Erde die gleiche. Wenn uns also dieser Opponent begegnet, unter welcher von den tausendfältigen Verkleidungen wir ihm auch begegnen mögen, ob von göttlichem oder bösartigem Charakter, das zugrundeliegende Prinzip ist immer das gleiche. Für uns Menschen wird er teuflisch und bösartig, wenn wir schwächlich unterliegen. Wir haben die Aufforderung unserer eigenen Seele vergessen. Andererseits, wenn wir unseren vorwärts gerichteten Willen benützen und uns selbst zur Schulung in die Hand nehmen, dann werden wir stark, weil wir universaler werden. Unsere Vision bleibt nicht länger auf uns selbst begrenzt und erhebt sich deshalb entsprechend zum Göttlichen. Darum wird vom Göttlichen immer gesagt, es sei göttlich, und vom ungeheuer Eingeengten und Begrenzten und deshalb Selbstischen immer, es sei böse, weil das Kleine nur an sich selbst denkt und der Welt widerstrebt, um ein kleines Reich des niederen Selbst zu gewinnen, seine Kraft gegen das Universum zu richten und dadurch um so böser zu werden, wie die Keime einer Krankheit im menschlichen Körper. Wenn dieser störende Keim hinausgetrieben ist, wie es glücklicherweise geschehen kann, kehrt Gesundheit und universaler Frieden in den Körper zurück. Das ist die Idee. Je mehr wir universal werden, desto höher sind wir. Anders ausgedrückt, je stärker wir uns dem Göttlichen nähern, das universal ist, desto höher stehen wir. Um noch einen sehr tiefen christlichen Gedanken zu zitieren, der für mich von wundervoller Schönheit ist: „Wisset Ihr nicht, daß Ihr der Tempel Gottes seid und daß der Geist Gottes in Euch wohnt?“ Es liegt eine ganze kosmische Philosophie gerade in diesen einfachen Gedanken. Wenn Sie diese studieren, werden Sie die Erleuchtung finden, die Leben, Trost, ungeheure intellektuelle Aktivität höchster Art und schließlich, aber nicht zuletzt, Frieden bedeutet, jenen inneren Frieden, der alles Verstehen übersteigt, der aber erfahren werden kann.

Der Weihnachtsbaum

Der Weihnachtsbaum, übersät mit Lichtern und hell glitzerndem Lametta, das diese Lichter reflektiert und mannigfach vervielfältigt, ist ein altes vorchristliches Symbol, das von den Völkern Nordeuropas zur Zeit der Wintersonnenwende verwendet wurde. Und dies ist die innere Bedeutung:

Haben Sie nie von dem Weltenbaum gehört, mit seinen Wurzeln in den geistigen Sphären, und dessen Zweige die großen Sonnen und Sonnensysteme sind? Dieser Weltenbaum begann am Anfang dieses kosmischen Zeitalters all die himmlischen Heerscharen hervorzubringen. Die Wintersonnenwende ist der Anfang des kosmischen Neujahrs, und daher haben diese nördlichen Völker, die einiges über die alten Weisheiten wußten, dieses kosmische Ereignis mit dem Weihnachtsbaum gefeiert. Er symbolisiert den Weltenbaum, und die Lichter sind die Sonnen, die die Tiefe des Raumes übersäen, und sie weisen auf die Botschaft der Göttlichkeiten hin, die uns ständig das Licht der Liebe, das Licht des Geistes und das Licht ewiger Hoffnung geben. Wir haben uns jedoch so weit von der Weisheit unserer Vorväter entfernt, daß der Weihnachtsbaum nur noch ein Festsymbol für uns ist, außer für die wenigen, die seine Bedeutung in ihren Herzen bewahrt haben.

Das Überreichen von Geschenken unter dem Weihnachtsbaum war ein Symbol für die Selbsthingabe der Götter, durch die die Welten ins Dasein kommen konnten. „Hier ist meine Gabe. Sie ist aus mir selbst geboren.“

Die lebenden Buddhas in Tibet

Ich glaube, daß sich die Menschen im Westen hinsichtlich der sogenannten lebenden Buddhas viel zu eng an Vorstellungen halten, die man im Westen um östliche Glaubensüberzeugungen und Lehren konstruierte, obwohl wir Ausländer diese nur äußerst unvollkommen begreifen. Die westliche Annahme, die Tibeter würden glauben, die lebenden Buddhas seien eine Verkörperung von Gautama dem Buddha, ist völlig falsch. Der tibetischen Lehre liegt vielmehr ein ganz anderer Gedanke zugrunde. Gleich einigen intuitiven, tiefsinnigen Christen, die neuerdings davon sprechen, daß es einen kosmischen Christus gibt, von dem frühere, gegenwärtige und zukünftige christusähnliche Menschen gleichsam Strahlen sind, verkörperte Repräsentanten oder verkleinerte Abbilder, nehmen auch die Tibeter an, daß es einen kosmischen Buddha gibt. Jesus war einer dieser verkörperten Repräsentanten. Die alte tibetische Lehre, die sich auf die sogenannten lebenden Buddhas bezieht, ist, wie gesagt, eng mit diesem Gedankenkomplex verknüpft. Ganz ähnlich wie die Vorstellung einiger aufgeschlossener Christen besagt, daß der kosmische Christus nicht nur ein fundamentaler Bestandteil des Universums sei, sondern auch einen integralen Bestandteil des menschlichen Bewußtseins bilde, genauso behauptet die tibetische Lehre, daß es mit dem kosmischen Buddha sei. Die Tibeter nennen ihn in ihrer wundervollen Lehre den himmlischen Buddha. Auch sie sagen, daß alle Menschen gewissermaßen seine Strahlen sind. Anders ausgedrückt, jeder Mensch hat etwas von diesem kosmischen Buddha in sich. Sie sagen, er sei das innerste Wesen des Menschen, sein innerstes Selbst. Wenn jemand sein Bewußtsein so weit erhebt, daß er mit dieser in seinem Herzen brennenden Flamme des Göttlichen eins wird, eins mit dem Strahl des himmlischen Buddha, dann senkt sich dieser aus der Sonne kommende Strahl in das menschliche Herz. Er schenkt ihm Inspiration, Weisheit und Liebe. Er macht den Menschen zu einem lebenden menschlichen Buddha. Gautama, der Buddha, war dafür ein besonders bemerkenswertes und hervorragendes Beispiel.

Das ist eine wunderbare Lehre. Erkennen Sie die grenzenlose Hoffnung, die in ihr liegt und die ihr zugrundeliegende Inspiration? Dies himmlische Feuer ist unser innerstes Selbst. Wir alle haben an ihm Anteil, jeder von uns. Halten Sie es sich vor Augen und öffnen Sie Ihre Vision dafür, daß jeder Mensch, wenn er es nur will, in der Lage ist, mit ihm eins zu werden. Dafür müssen wir jedoch im wahren Sinn des Wortes das Leben leben und in unserem Studium fortfahren. Nur dann kann sich dieses Feuer in unserem Leben manifestieren. Erfüllen Sie Ihre Vision mit Größe und mit Schönheit. Dann wird Ihr Leben ebenfalls beginnen, diese Größe und Schönheit widerzuspiegeln, weil ein kosmischer Buddha in Ihnen denkt, fühlt und sich zum Ausdruck bringt.

Das ist letztlich die Essenz der tibetanischen Lehre vom lebenden Buddha. Wenn die kosmische Glorie im Herzen und im Verstand eines Menschen Platz ergreift, wird dieser Mensch, wie die Tibeter sagen, zu einem Christus auf Erden. Zunächst vielleicht nur in einem vergleichbar bescheidenem Maße – aber das hängt gänzlich von der Bereitschaft dessen ab, der dieses göttliche Feuer in sich fühlt. Je mehr man es entfacht und je weiter wir uns dem Einfluß von oben-innen öffnen, desto unsäglich mehr wird unser Buddha- oder Christus-Stadium hervorgebracht, desto größer wird es gemacht.

Gedanken über Karma

Es wurde mir oft die Frage gestellt, ob Karma eine bis ins Detail gleiche Reaktion bedeute. Wenn ich zum Beispiel jemandem Schaden zufüge, trifft es dann zu, daß mir dieser Mensch irgendwann in der Zukunft auf die gleiche Art und Weise Schaden zufügen wird?

Wir lehren keinen wissenschaftlichen Determinismus. Wir lehren genau das Gegenteil. Trotzdem entspricht es den Tatsachen, wie die göttliche Weisheit uns versichert, daß wir uns in einem Universum befinden, dem unentrinnbare Gesetzmäßigkeit innewohnt. Auf diesem Eckpfeiler ruht alle Hoffnung und die gesamte Theosophie, jede Religion, jede Philosophie und jede Wissenschaft. Wie ist es also? Gesetzt den Fall, ich betrüge einen Freund und breche sein Herz, wird dieser Freund mich irgendwann in der Zukunft ebenfalls betrügen und mein Herz brechen? In genau derselben Weise und unter Befolgung der gleichen Details? Die Antwort lautet nein, nicht in allen Details. Ein von mir betrogener Freund wird jedoch, unabhängig von seinem Willen, vom Schicksal getrieben, in einem zukünftigen Leben, nicht in identischen Details, aber doch eng der Verfahrensweise verbunden, in der ich ihn betrog, ähnlich mit mir verfahren, weil ich die mir zustehende Vergeltung einfach auf mich ziehe. Auch er wird möglicherweise mein Herz brechen, vielleicht gegen seinen Willen.

Wird das Opfer, das ich vorsätzlich getötet und umgebracht habe, mich in einem zukünftigen Leben ebenfalls umbringen? Persönlich neige ich dazu, dies zu bejahen. Die Details mögen voneinander abweichen, aber die Generallinie, der das Schicksal folgt, wird die gleiche sein. Prägen Sie sich die Lehre ein, die alle großen Weisen und Seher verkündet haben, ganz gleich, in welchem Zeitalter sie lebten: Was ihr sät, werdet ihr auch ernten, nichts anderes. Das ist ein christlicher Ausspruch und ein sehr wahrer.

Seien Sie sich bewußt, wie groß die moralische Wirkung dieser Lehre ist, wenn sie angenommen wird. Sie übt nicht nur eine Schutzfunktion für die Zukunft aus, sondern bewirkt auch eine Revolution im Fühlen und Denken, da sie den Charakter beeinflußt. Ein Mensch, der sie bejaht, nimmt sich sehr in acht, einem Mitmenschen ein Unrecht zuzufügen. Überlegen Sie, was diese eine Lehre allein für die Sicherheit und das Wohlergehen der Menschheit bewirken würde, wenn sie, wie früher einmal, auf der ganzen Erde angenommen würde. Wenn ich Gutes säe, stärke und veredle ich meinen Charakter. Gutes Denken versetzt meinen Charakter in Harmonie. Das Gefühl, etwas Gutes zu tun, bestärkt mich, noch etwas Besseres zu tun. Das ist einfach die Wirkung von Karma. Wenn ich dagegen etwas Böses denke und fühle und meinen Mitmenschen dieses Böse zufüge, muß ich außer der Tatsache, daß ich etwas Falsches tue und dafür in zukünftigen Leben Vergeltung zahlen muß, auch begreifen, was ich meinem Verstand und meinen Gefühlen antue. Bin ich irregeleitet, dann mache ich diese häßlich, entstellt und roh. Auch das ist Karma. Man kann diese Gedanken nicht denken, ohne sofort die Rückwirkung auf den eigenen Denkapparat zu spüren. Das Böse ist häßlich. Das Denken von häßlichen Dingen bewirkt, daß dieser Denkapparat auch häßlich wird. Ebenso ist es mit den Gefühlen. Wenn man häßlichen Gefühlen Raum gibt, werden sie mit jedem Tag stärker.

Reinkarnation ist nichts anderes als die natürliche Folgerung aus diesem Gesetz von Ursache und Wirkung. Wir haben auf dieser Erde bereits unzählige Male in der Vergangenheit gelebt. Wir sind jetzt hier, weil wir hierher zurückgezogen wurden. Vertraute Szenen haben uns wieder eingefangen. Es ist wie bei einem Reisenden, der sich in der Ferne befand und sehnsüchtig dem Zeitpunkt seiner Rückkehr entgegenfieberte. Die vertraute Umgebung, die häusliche Geborgenheit, der enge Familienkreis, die freundlichen, ansprechenden, vielleicht sogar von Liebe geprägten Erinnerungen sind es, die ihn zurückkehren ließen. Das ist die Begründung für Wiederverkörperung, ganz gleich, wo. Zu reinkarnieren bedeutet einfach, zu uns vertrauten Szenen auf dieser Erde zurückzukehren. Natürlich kennen wir auch noch vertraute Szenen auf anderen Planeten – aber dies ist eine andere Geschichte.

Wir Menschen sind Pilger, die ihrer Bestimmung folgen. Wir sind Kinder des Göttlichen und verfolgen auf unserer Wanderung einen bestimmten Zweck. Wir werden zweckdienlich von Karma, von unserem Schicksal, geleitet. Da wir Kinder des Göttlichen sind, haben wir in uns einen Funken göttlicher Intelligenz und göttlichen Willens. Wir können deshalb dem Universum und all seinen innewohnenden Schrecken entgegentreten, denn in uns, unbesiegbar und keinem Tod unterworfen, glüht dieser göttliche Funke. Wenn wir seinen Befehlen folgen, besitzen wir freien Willen, den freien Willen des Universums. Selbst wenn die ganze Kraft des Universums auf einmal über uns hereinbrechen würde, könnten wir nicht überwältigt werden, denn wir sind Kinder des Göttlichen. Dieses Universum sind wir selbst. Sein Herz und unser Herz sind eins und bedingen einander. Die unergründbare Verschlungenheit unseres Schicksals macht eine unergründbare Schicksalstiefe notwendig, und durch diesen Zusammenhang kann einer den anderen verstehen.

Jeder von uns hat ein gewisses Maß an freiem Willen. Ungeachtet der unwiederbringlichen Vergangenheit kann jeder von uns augenblicklich, im selben Augenblick, in dem ihm die Idee dazu kommt, sein zukünftiges Schicksal ändern. Die Vergangenheit können wir nicht ungeschehen machen. Sie schlägt sich in unserem Schicksal nieder. Wir müssen mit ihm fertig werden. Sie ist fest in uns eingebaut, aber wir können Änderungen anbringen, Modifizierungen vornehmen. Wir können uns für die Zukunft besser präparieren, indem wir von unserem göttlichen Vorrecht hier und jetzt Gebrauch machen, nachdenken und unseren freien Willen betätigen. Auf diese Weise nehmen wir unser Schicksal in unsere eigenen Hände und machen uns für die Zukunft geeigneter. In dieser Fähigkeit sind wir, wie in allen anderen Dingen, mit den Göttern, unseren Eltern, wesensverwandt.

Wie wundervoll ist die Vision, daß das empfindsame Herz und ein wacher Verstand die Fähigkeit besitzen, die Wirklichkeit zu sehen. Sie können überallhin Licht bringen. Das vermittelt ein Gefühl vollständiger Sicherheit, ein Gefühl für das Vorhandensein völliger Gerechtigkeit, ein Gefühl von tiefem Frieden. Manchmal fühlen wir, daß die Last aus unserer eigenen Vergangenheit zum Tragen fast zu schwer wird. Dann rufen wir in unserer Qual: Oh Gott, laß diesen Kelch an mir vorübergehen. Aber nicht mein, sondern Dein Wille geschehe! Wenn ich den Kelch trinken muß, werde ich es tun. Doch trotz meiner Ängste werde ich mir dessen bewußt sein, daß ich ein Kind des Göttlichen bin. Ich werde diesen Kelch leeren, den ich durch meine eigenen guten und schlechten Handlungen in der Vergangenheit gefüllt habe, aber ich fange jetzt damit an, für die Zukunft Vorsorge zu treffen. Jetzt, da der Schleier zurückgezogen ist, sehe ich in der Zukunft nur unsagbare Schönheit, unbeschreibliche Heiligkeit, unendlichen Frieden, eine ständig sich vergrößernde Liebe mit ihren Ausdehnungen auf alle Lebensbereiche, vor allem aber ein grenzenloses Verständnis, das alle anderen Wesen mit meiner Liebe umschließt.

Die alte Lehre vom stellvertretenden Sühneopfer

Die Lehre vom stellvertretenden Sühneopfer, wie sie heute von den Christen verstanden wird, hat diese tatsächlich daran gehindert, die Wiederverkörperungslehre zu akzeptieren. Aber ursprünglich war es nicht so. Die ersten Christen glaubten an Reinkarnation. Was geschah damals? Wir finden Beweise darüber, daß die Lehre vom stellvertretenden Sühneopfer ursprünglich im Christentum vorhanden war, dann geschah jedoch folgendes: Langsam veränderte sich das Verständnis für diese Lehre, man sah nur die Worte anstelle der spirituell-okkulten Bedeutung. Als sie zu einem rein theologischen Dogma wurde, bildete sie ein großes Hindernis oder vielmehr eine verschlossene Tür, die die wahren Nachfolger des Meisters Christus heute und in den vergangenen Jahrhunderten daran gehindert hat, diese Lehre der Hoffnung, das heißt, der menschlichen Reinkarnation, anzunehmen. Was ist geschehen?

In den allerersten Tagen des Christentums bildeten die Urchristen die Theosophische Gesellschaft jener Zeit für jenen Teil der Erde, und sie wußten und es wurde ihnen gelehrt, daß jeder in dieses Leben geborene Mensch in seinem höchsten Teil – nicht als physischer Mensch – ein Sohn des Göttlichen ist; sein Geist, seine Seele war sozusagen ein Funke des kosmischen Alls, eine atmende, lebendige Flamme aus dem Herzen des Seins. Er nannte ihn den Christusgeist im Menschen, so wie auch einige Christen heute intuitiv angefangen haben, diese heilige Lehre vom immanenten oder inneren Christus im Menschen zu verstehen. Das war der ursprüngliche, christliche Gedanke, und er wird heute in der Theosophie gelehrt, wie er in den verschiedenen Zeitaltern stets durch die Theosophie gelehrt wurde.

Unser spiritueller Teil, diese Flamme aus dem Göttlichen, ist also die unsterbliche Essenz unseres Wesens. Er ist der Anker unseres Lebens, unseres Wachstums und unseres Fortschritts von Verkörperung zu Verkörperung, indem er von jedem Erdenleben das gesamte geistige Aroma unserer guten Handlungen, unserer schönen Gedanken und edlen Ideale, die wir in Herz und Geist nährten, mit sich nimmt und von Leben zu Leben trägt. Wir nennen diesen inneren, spirituellen Teil die Monade. Sie ist der innere Buddha, der innere Christus in uns.

Daher kommt es, daß diese Monade durch uns, durch unsere Schwächen und Fehler und Irrtümer – ja, auch durch unsere guten Gedanken und Handlungen, angekettet ist, um uns, wie H. P. Blavatsky sagt, als spirituelle „Rettungsplanke“ von Leben zu Leben zu tragen, womit der innere Christus gemeint ist, gekettet an das Kreuz der Materie – unser Licht, unsere Hoffnung, unser Ursprung und unsere Bestimmung. Und weil er, gemäß der alten Lehre, an diese Sphären gekettet für uns leidet und unsere Bürde für uns trägt – unser eigenes Wesen, wohlgemerkt, unsere eigene, innerste, spirituelle Essenz, der Christus in uns – deshalb können wir sagen, – nicht im theologischen, sondern im theosophischen Sinne – daß er für uns sühnt und alles erduldet, gerade weil er unser spirituelles Selbst ist. Dieser Vorgang ist „stellvertretend“ nur in dem Sinne, daß der göttliche Teil von uns das Gewicht, die Bürde, dessen trägt, was wir, die niederen Teile, gedacht und gefühlt und getan haben; dabei läßt er uns Leben auf Leben vollkommene Gerechtigkeit widerfahren und macht uns zu dem, was wir sind und was wir werden sollen. In diesem Sinne wurde die Lehre vom stellvertretenden Sühneopfer zuerst verstanden: Daß der bloße Fleischesmensch nichts ist, daß aber die niedere, unentwickelte und unvollkommene Seite des Menschen diese Rettungsplanke besitzt in Gestalt seines eigenen, göttlichen Funkens, seines eigenen immanenten Buddha, seines immanenten Christus, des Gottes in sich.

Diese alte Lehre sagt uns auch, daß in dem Maße, wie der Mensch von Zeitalter zu Zeitalter wächst und sich entwickelt und Leben auf Leben lernt, dieser wahrhaft spirituelle Teil seines Wesens immer mehr in Erscheinung treten und sich durch das Gemüt, durch das niedere Gemüt, durch den gewöhnlichen Menschen zum Ausdruck bringen wird; und wenn das relativ vollkommen geschieht, haben wir einen großen Seher und Weisen, eine der verkörperten Gottheiten, einen der verkörperten Buddhas, einen der verkörperten Christusse vor uns, nennt sie, wie ihr wollt; mit anderen Worten, einen Menschen, der durch sich selbst als Menschenwesen die Gottheit, die Göttlichkeit zum Ausdruck bringt, die sein eigenes Bindeglied der Selbstheit mit dem Göttlichen ist, einen verkörperten Christus, einen verkörperten Buddha.

Trotzdem trifft es vollkommen zu, daß nur noch die Worte der Lehre an die Stelle ihrer okkulten Bedeutung traten, als diese innere Bedeutung vom immanenten Christus in Vergessenheit geriet. Die Menschen vergaßen die Lehre, daß sie selbst die inneren Christusse sind, daß sie Söhne des Göttlichen sind und daß es ihr herrlichstes Vorrecht und ihre höchste Pflicht ist, durch christusgleiches Denken, Fühlen und Leben von einer Verkörperung zur anderen diese innere Göttlichkeit immer mehr zum Ausdruck zu bringen und vom Menschentum zur Mahatmaschaft, wie wir sagen, heranzuwachsen, zur Meisterschaft, bis schließlich das Ziel erreicht ist und wir rufen können: „Mein Gott, mein Gott, wie hast Du mich verherrlicht!“ – die wahre Wiedergabe der hebräischen Worte, die Jesus am Kreuz gesprochen haben soll: „’Ēlī, ’ēlī, lāmāh shabahhtānī“. Die Übersetzung dieser Worte in den christlichen Evangelien ist falsch, denn „verlassen“ oder „aufgeben“ heißt auf hebräisch ‘āzab, und shābahh heißt „verherrlichen“, „vollkommen machen“; und das Wort, das in den Evangelien steht, ist shabahhtānī, das heißt „du verherrlichst mich“, „du machst mich vollkommen.“

Der Christus im Menschen sprach; kein äußerer Christus, es sei denn in dem Sinne, daß der Christus im Menschen ein Funke des kosmischen Christus ist. Der Buddha ist im Menschen als ein individueller Funke oder Strahl des kosmischen Buddha verkörpert, das heißt, von Ādi-Buddha – ganz gleich, welchen Ausdruck man auch gebrauchen will.

So kam es, daß eine der schönsten und hilf- und trostreichsten Lehren des Urchristentums zu einem unlogischen, theologischen Dogma wurde – eine Hülle aus Worten, aus der der Geist ihrer Bedeutung entwichen ist.

Die Goldene oder die Platonische Kette

Homer war unter den Denkern Griechenlands der erste, der von der Goldenen Kette zwischen Vater Zeus und den Menschen – seinen Kindern – sprach, und daß es diese Goldene Kette der Sympathie und des Mitleids sei, welche die Götter mit den Menschen verbindet. Durch sie, so sagte er, könnten wir Menschen zu den göttlichen Sternen emporklimmen, wo Zeus, der Vater der Götter und Menschen, thront. Später wurde diese wunderbare Idee Homers von Plato so popularisiert, daß von da an die Gelehrten oft von dieser Kette als der platonischen Kette sprachen.

Nun, was ist der tatsächliche Hintergrund dieser wundervollen griechischen Idee, die so voller Hoffnung und voller göttlicher Majestät ist? Es soll damit ausgedrückt werden, daß es für die Menschen einen Weg gibt, den sie beschreiten können. Durch ihn wird es möglich, Göttlichkeit zu erlangen. Diese Kette ist in Wirklichkeit also nur ein gedankliches Bild für einen Pfad, den wir, wenn wir wollen, beschreiten können. Man sagte, die Kette sei aus Gold, weil sie uns zum goldenen Herzen von Vater Sonne, ja weiter noch, zum tatsächlichen Herzen des göttlichen Seins führt, wo die Götter sind. Entlang dieser Leiter, die die Götter und Menschen verbindet, stehen Götter und Lehrer, die uns, den Wanderern, den aufwärts Kletternden zeigen, worauf wir sehen sollten, welche Richtung wir einschlagen müssen, damit wir für immer nach aufwärts und nach innen streben. Bei jedem Glied dieser wundervollen goldenen Kette steht ein Lehrer, dessen gesamte und alleinige Pflicht darin besteht, jenen zu helfen, die unter ihm stehen. Mit anderen Worten, zwischen uns Menschen, Lernenden, die wir sind, und den Göttern, denen wir gleich werden wollen, existiert eine Hierarchie von Lehrern. Ihr alleiniger Zweck ist es, allen Wesen die auf einer niedrigeren Entwicklungsstufe stehen, zu helfen.

Es gibt einen Weg, den uns die Lehrer ins Gedächtnis gerufen haben. Er ist steil und dornenreich. Trotzdem ist er begehbar.

Er führt aufwärts, nach innen, zum innersten Herzen des Göttlichen. Wir bewegen uns auf diesem Weg vorwärts, sind auch jetzt Pilger auf diesem Pfad, obwohl es leider die meisten von uns nicht wissen. Zuweilen straucheln wir, weil wir meinen, wir seien allein, aber der Weg ist da und vor uns marschieren die Weggefährten. Wir müssen sie nur sehen und bemerken. Alle bewegen sich ständig aufwärts und vorwärts. Sie tun dies bereits seit den Zeitaltern der Vergangenheit und werden es auch in der Zukunft tun. Inmitten dieser wunderbaren Armee von Pilgern bewegen auch wir Menschen uns. Einige unter uns sind nicht glücklich darüber, daß sie auf dem Pfad immer wieder stolpern und sich träge verhalten. Sie möchten sich schneller vorwärts und nach oben bewegen. Laßt uns daher uns selbst dafür trainieren, laßt uns unser eigener Lehrmeister sein und unser Geschick selbst in die Hand nehmen. Laßt den inneren und höheren Teil von uns unser Leben bestimmen. Dann werden wir schneller voranschreiten.

Das ist, denke ich, die innere Bedeutung der wundervollen griechischen Lehre von der Goldenen Kette, welche die Menschen mit den Göttern verbindet. Eine wunderbare Lehre.

Versunkene Kontinente und unser Atlantisches Erbe

Es ist wirklich enorm, wie offenkundig die Existenz kontinentaler Landmassen ist, die in prähistorischen bzw. frühen geologischen Zeitperioden versunken sind. Beweise dafür wurden durch kluge Forscher und Schriftsteller zusammengetragen, nicht nur von Theosophen. Bedeutende Wissenschaftler waren ebenso daran beteiligt wie andere Forscher, die ihre eigenen Nachforschungen betrieben. Sie alle versuchten das Rätsel zu lösen, wie sich die Flora und Fauna der heutigen Landmassen auf der Erde ausbreiten konnten und wie es diesen gelang, über Tausende von Meilen breite, wildbewegte und stürmische Ozeane von einem Kontinent zum anderen hinüberzuwechseln.

Lange Jahre versuchte man, die Existenz ähnlicher oder identischer Flora durch Vogelzüge zu erklären. Vögel fressen Samen und scheiden sie wieder aus. Auf diese Weise verbreiten die Vögel im Verlauf der Zeit die Samen über andere Länder und bewirken so ihre Verbreitung; oder Samenkapseln werden von den Wogen des Ozeans mitgerissen, und nach Wochen und Monaten, oder vielleicht nach Jahren, werden sie an eine sandige Küste geschwemmt und schlagen dort Wurzeln! Nach einiger Zeit sperrte sich jedoch der gesunde Menschenverstand gegen eine solche Erklärung. Man sah bald ein, daß diese krampfhaften Anstrengungen besserer und konkreterer Argumente als solcher spekulativer Überlegungen bedurften, um die Ähnlichkeit, wenn nicht sogar die Identität der Vegetation und der Tierwelt in weit voneinander entfernt liegenden Kontinenten, zu erklären.

So waren es die Wissenschaftler selbst, lange vor den Theosophen, die über die Existenz, bzw. die Möglichkeit einer früheren Landverbindung nachzudenken begannen, und eine solche dort suchten, wo heute die stürmischen Wogen des Atlantischen, des Pazifischen oder eines beliebigen anderen Ozeans rollen. Einige Wissenschaftler sammelten Fakten dafür, daß eine solche Verbindung in früheren Perioden der geologischen Geschichte existiert haben muß. Sie hofften, dadurch eine Erklärung für diese Phänomene zu erhalten. Als durch die Geologie und durch weitere Entdeckungen in diesem Wissenschaftsbereich erneute Beweise für die Existenz einer ähnlichen Flora und Fauna auf weit voneinander entfernten Kontinenten vorgelegt wurden, besonders als sich zeigte, daß die Flora und Fauna der Alten und der Neuen Welt sich vor allem in den Ablagerungen des Eozäns, des Miozäns und des Pliozäns ähnelten, bzw. geradezu identisch waren, da sagten sich die Wissenschaftler: Zwischen der Alten und Neuen Welt muß es irgendwann und irgendwo einmal mit Sicherheit eine Landbrücke gegeben haben. Diese Fakten bleiben nach wie vor ungeklärt.

Vor Jahrzehnten haben die Wissenschaftler bereits für noch frühere geologische Zeitalter die Existenz eines großen, kontinentalen Landmassivs im Pazifischen Ozean angenommen. Sclater nannte es nach einem kleinen, affenähnlichen Tierchen Lemurien. Später stellte man sich ein ähnliches, kontinentales Landmassiv vor, das von einigen Wissenschaftlern Gondwanaland genannt wurde, um das Rätsel der Verteilung von Flora und Fauna im Pazifik und anderswo zu erklären, das ohne diese angenommene Landverbindung nicht erklärt werden könnte. Bis heute ist dieses Rätsel nicht gelöst.

Die Abneigung der Wissenschaftler, das zu akzeptieren, was sie mit eigenen Augen sehen, ist merkwürdig. Sie selbst stellten die Frage und hatten die richtige Antwort darauf. Sie sagen: die Existenz eines atlantischen, kontinentalen Landmassivs ist vielleicht möglich, ja sogar wahrscheinlich, aber sie läßt sich nicht beweisen. Den Grund für diese Haltung weiß ich nicht. Hinsichtlich des westlich von uns liegenden Pazifischen Ozeans hat man die Idee akzeptiert. Für den anderen Ozean jedoch nicht, und dennoch gibt es Beweise dafür.

Ich glaube, einer der Gründe für die Abneigung, etwas akzeptieren zu müssen, wofür Tausende von Beweisen vorliegen, besteht darin, daß man sich eine falsche Vorstellung davon gemacht hat, wie diese ehemaligen geologischen Landmassive beschaffen waren. Man scheint sich in die Idee verrannt zu haben, daß Atlantis, eine gewaltige Landmasse von völlig gleichem Typ wie unser gegenwärtiges Land-Meer-System, in einer einzigen Nacht versank, und daß das neue Land, auf dem wir jetzt leben, aus den damals existierenden Ozeanen kam. Das ist Unsinn. Sogar heuzutage weiß man, daß es auf der ganzen Welt Länder gibt, die langsam oder schnell versinken. Andere Länder wiederum steigen langsam, aber mit gleichmäßiger Stetigkeit empor. Dieser Vorgang des Unter- und Auftauchens im Verlauf langer oder kurzer geologischer Perioden ist gerade das, was vormals mit Lemurien und viele Zeitalter später mit dem atlantischen Kontinent geschah. Es dauerte Hunderttausende von Jahren, bis sich an den Hauptgebieten des großen, atlantischen Kontinentsystems, aus großen und kleinen Inseln, großen und kleinen Meeresgebieten bestehend, bemerkenswerte Veränderungen vollzogen – Landgebiete versanken, Ozeane überschwemmten die versunkenen Gebiete und andere neue Landmassen stiegen empor, um deren Platz einzunehmen. Dies hat sich in allen geologischen Zeitaltern ereignet, findet heutzutage statt und wird auch in der Zukunft stattfinden. Doch es gab auch Fälle, wo sogar ziemlich große Inseln sehr schnell, selbst nach unseren relativ kurzen menschlichen Maßstäben, versanken oder sich aus den Wassern erhoben. Immer waren diese Fälle mit Kataklysmen verbunden, wie bei Platons Insel Poseidonis. Der Untergang dieser Insel war in der europäischen Vorgeschichte, wie wir wissen, ein historisches Ereignis. Sie versank vor ungefähr elf- oder zwölftausend Jahren nach furchtbaren Erd- und Seebeben innerhalb eines Tages und einer Nacht. Poseidonis war eine Insel ungefähr von der Größe Irlands. Sie lag westlich der heutigen Straße von Gibraltar im Ozean. Sie bildete jedoch nur noch einen letzten Inselüberrest des großen atlantischen Kontinents. Von ihm blieb sozusagen nur ein kleiner Landstrich übrig, bis auch er schließlich versank.

Ähnlich war es mit Lemurien, der Heimat der dritten Wurzelrasse, wie die Theosophen sagen. Es war keine riesige Landmasse, sondern vielmehr ein ganzes System von Kontinenten, von großen und kleinen Inseln, Ozeanen und Seen. Die Verhältnisse glichen den heutigen. Tatsächlich gibt es von Lemurien und Atlantis auch heute noch Reste, die sich über dem Meeresspiegel befinden. Sie fragen, wie es mit dem wissenschaftlichen Beweis steht. Die Forderung nach der Existenz einer solchen Landverbindung ist so zwingend, daß es eigentlich keines weiteren Beweises bedarf. Wir könnten vielmehr nach einem Grund fragen, weshalb die Existenz einer solchen Verbindung unmöglich sein kann. Eine solche Fragestellung ist völlig rechtens und in sich bereits ein gewichtiges Argument. Ich wiederhole: Es läßt sich auch heute noch feststellen, vielfältig belegbar, daß die Flora und Fauna während der Periode des Eozän, des Miozän und des Pliozän in weit voneinander entfernt liegenden Gegenden und Ländern außerordentlich ähnlich war. Daraus folgt, daß für diese Zeitalter eine Landverbindung zwischen diesen einzelnen Ländern eine zwingende Notwendigkeit war. Die einzige Alternative dazu wäre davon auszugehen, daß in jenen für uns jetzt weit zurückliegenden geologischen Zeiträumen ein äußerst zivilisierter, mächtiger Stamm der menschlichen Rasse existierte, der mittels technischer Erfindungen, die den unsrigen ebenbürtig waren oder sie sogar übertrafen, imstande war, Pflanzen und Tiere infolge eigener Wanderbewegungen und durch die Errichtung von Kolonien von Kontinent zu Kontinent zu verpflanzen. Das käme aber auf dasselbe heraus.

Wenn wir anerkennen, daß sich die Länder im Verlauf der geologischen Abläufe heben und senken, und daß sie dazu langer Zeiträume bedürfen – Vorgänge, die über Jahrtausende, Jahrmillionen ablaufen – welche Antwort läßt sich dann finden? Beweisen Sie mir, daß Atlantis nicht existiert haben kann. Man könnte sich Tage und Nächte allein über die fast unzähligen Fakten unterhalten, die von Gelehrten aller Fachrichtungen über dieses Thema zusammengetragen wurden. Ganze Bücherberge wurden darüber geschrieben.

Lassen Sie mich noch einen weiteren Gedanken vorbringen: Die Atlantier waren, wie wir heutzutage auch, ein großer Rassenkörper. Sie hatten unterschiedliche Hautfarbe, unterschiedliches Haar und eine andere Vorgeschichte als wir. Aber alle waren menschlich oder zumindest halbmenschlich. Einige von ihnen waren gut. Die meisten jedoch waren, wenn man nach den gängigen Vorstellungen von Gut und Böse urteilt, böse – weitaus böser als wir. Doch wir sitzen selbst im Glashaus! Weiß der Himmel, wir sind schlecht genug. Aber gegenüber unseren atlantischen Ahnen sind wir absolut ein Fortschritt. Obwohl es während der Millionen von Jahren, in denen Atlantis existierte, Millionen von Menschen gab, die dem Weg des Göttlichen und des Geistes folgten und ihn dem Materialismus und der Ausübung selbstsüchtiger Kräfte vorzogen, gefiel es der überwältigenden Mehrheit der Menschen jener Zeit, brutale Gewalt und rücksichtslose Stärke auszuüben, sich dem Materialismus zu verschreiben und den Einflüsterungen des niederen Selbst zu folgen. Selbstsüchtiges Verhalten war das dominierende Kennzeichen für die atlantische Rasse. Wir praktizieren es zwar auch noch, aber wir haben jetzt in unserer Rasse wenigstens einen Punkt erreicht, an dem wir selbstsüchtiges Verhalten nicht länger mehr glorifizieren. Wir erkennen es und schämen uns dafür. Das zeigt, daß Spiritualität, wenn auch langsam, in unser Bewußtsein eintritt. Selbst Schwindler sind sich dessen bewußt, daß Ehre, Recht, richtiges Verhalten und Rechtschaffenheit die Schlüsselworte sind, um die Herzen und Gemüter zu bezaubern. Für die Atlantier war die Ausübung von Macht und Gewalt alles. Sie verschrieben sich materiellen Dingen wie Vermögen und Reichtum. Aber es waren nicht alle so. Es gab Millionen und Abermillionen von Menschen unter ihnen, die in ihren Herzen das Göttliche, das Recht und die Gerechtigkeit hochhielten. Das waren die Auserwählten. Von diesen wurden die Mysterienschulen gegründet, die bis zum heutigen Tag existieren. In diesen Schulen hatten alle großen Religionen, Philosophien und Wissenschaften, wie sie die menschliche Geschichte kennt, ihren Ursprung. Diese wurden ins Leben gerufen, um die Menschen vor üblen Dingen zu bewahren, um zu helfen, sie zu erheben, sie sanftmütiger zu machen und zu verfeinern. So entstand die Zivilisation.

Geradeso wie die heutige Theosophische Gesellschaft aus dieser Schule stammt, so hatten auch die theosophischen Gesellschaften in früheren Zeitaltern darin ihren Ursprung. Alle wurzelten sie in den weit zurückliegenden Zeiten von Atlantis und sind mit jenen in Verbindung zu bringen, die damals das Recht, die Ehre, die Gerechtigkeit, die Wahrheit, die Vernunft und das Mitleid höher schätzten als Gewaltanwendung, Machteinsatz und auf Selbstsucht begründete Privilegien. Wir nennen sie Söhne des Göttlichen, Söhne Gottes. Sie taten sich zusammen, bildeten eine Gruppe und errichteten die ersten Mysterienschulen. In diesen wurde anstelle von Gewalt und dunklen Selbstinteressen der Geist der Wahrheit gepflegt, verehrt und gelehrt. Man sollte darüber nachdenken, wie diese Gedanken das Denken der Menschen beeinflussen. Beobachten Sie nur einmal unsere heutige Welt und machen Sie sich klar, wie ein Denken aus selbstsüchtigem Profit, Gewinnsucht und Egoismus die Menschen in die Irre führen kann. Der alte atlantische Geist ist noch immer unter uns lebendig. Aus diesem Grunde sagte auch H. P. Blavatsky, daß das atlantische Karma noch schwer auf uns lastet, auf unseren Seelen und auf unseren Gemütern. Wir sind noch immer unter seinem Einfluß, aber wir sind dabei, uns von ihm zu befreien und uns seiner Umklammerung zu entziehen.

In diesem Zusammenhang möchte ich abschließend noch folgendes bemerken. Es gibt gegenwärtig gewisse Leute, die sich über Theosophie äußern und sagen: „Das ist alles recht und gut, aber sie vertritt die östliche Tradition, wir folgen lieber der westlichen Tradition.“ Die Theosophische Gesellschaft als Vertreterin der östlichen Tradition zu bezeichnen ist blanker Unsinn, denn sie ist der Urahn von allen Traditionen. Sie vertritt weder eine östliche, westliche, nördliche, noch eine südliche Tradition. Sie umfaßt alle, denn alle haben in ihr ihren Ursprung. Theosophie ist die Quelle von allem. Sie betrachtet alle diese verschiedenen Erscheinungformen als ihre Abkömmlinge. Sie ist daher imstande, alle ihre Kinder zu versöhnen, zu vereinigen und ihnen Trost zu bringen, denn in spiritueller Hinsicht stammen alle von ihr ab.

Wahrlich, auch gegenwärtig hungern wir mit der ganzen Kraft unserer Herzen und Seelen nach Wahrheit. Auch heute noch ist es das Kennzeichen für einen großen Menschen oder einen großen Denker, daß er sich dem Dienen und dem Studium hingibt. Wissen Sie, das Herrlichste, was man von einem Menschen sagen kann, ist die Feststellung, daß er sich als Schüler fühlt, daß er die göttliche Weisheit studiert, daß er von seinen anderen Mitgefährten lernt, daß er anderen gegenüber gütig ist, daß er stets das Gute in dem sieht, was ein anderer anzubieten hat, und daß er immer danach strebt, in seinem Denken und in seinem Herzen Aufrichtigkeit, Anstand, Reinheit und Schicklichkeit zu praktizieren. Dies ist der „Sesam öffne dich“, der die Menschenherzen aufschließt. Lassen Sie den atlantischen Geist sterben. Lassen Sie ihn mit dem toten Gebein der Vergangenheit begraben sein. Haß, Abneigung, Feindseligkeit, Unverstand und Ungerechtigkeit sind seine Produkte, Engstirnigkeit und Bedeutungslosigkeit seine Folgen.

Drei Stufen zur Erkenntnis der Wahrheit

Die psychologische Öffnung eines menschlichen Wesens für die Wahrheit, für den Zugang zu göttlicher Weisheit – anders ausgedrückt, das Training, dem sich jeder wahre Theosoph unterzieht – beginnt in dem Augenblick, in dem er sich berührt fühlt und sein Herz öffnet, beginnt selbst dann, wenn er sich dessen gar nicht bewußt ist. Dieses Öffnen des Herzens kann in drei Stufen unterteilt werden. Wir sind mit ihnen durch den Buddhismus vertraut, der seinen Ursprung aus Indien kommend in China nimmt. Er ist unter der Sanskritbezeichnung Dhyāni-Buddhismus bekannt und wird in Japan Zen-Buddhismus genannt. Die Sache wird in etwa mit den folgenden Gedankengängen zum Ausdruck gebracht, die gleichermaßen von der Theosophie angewandt werden, denn die Zen- oder Dhyāni-Form des Buddhismus sind ja Zweige theosophischen Denkens.

Der Schüler betritt die Vorhalle des Tempels der Weisheit, und wenn er später den Tempel selbst betritt, geht er durch drei Phasen der inneren Öffnung – das sind die Worte, die benutzt werden. In der ersten Phase sind die Berge Berge, und die Gewässer der Erde sind Gewässer. Man hält sie für wert, studiert und erforscht zu werden. Man sieht ihre Wunderwelt und erfaßt sie mit den Sinnen, und trotzdem bleiben sie nur Berge und nur Gewässer.

Aber durch Studium und Verlangen nach Wahrheit stellt sich bei dem Schüler schließlich die zweite psychologische Öffnung des Charakters, des Verständnisses und seines Wesens ein. Er begreift, daß die Berge und die Gewässer, wie wunderbar und des Studierens wert sie auch sein mögen, lediglich Aspekte, Erscheinungsformen, Phänomene von dahinter liegenden Noumena sind, die Auswirkungen unsichtbarer und verborgener Ursachen. So begreift er in dieser zweiten Phase, in der er sein Inneres öffnet, daß er, wenn er die Wahrheit erreichen will, tiefer gehen und die Wissenschaft studieren muß, die sich mit den Bergen und den Gewässern der Erde beschäftigt. Er muß die Gründe ihrer Entstehung erforschen, die zugrundeliegenden Ursachen und Energien kennenlernen, welche die Berge und die Gewässer ins Leben gerufen haben. Er begreift, daß die Berge und Gewässer, da sie lediglich Wirkungen, Phänomene, Erscheinungsbilder sind, wie relativ wirklich sie auch sein mögen, nur eine Illusion, eine Māyā sind. Die wirkliche Wahrheit liegt jenseits davon und hinter dieser Māyā. Sein gesamtes Wesen wird durch diese Einsicht mit Staunen erfüllt.

Allmählich beginnt der Schüler dann die tiefe Weisheit des alten Ausspruchs zu begreifen, daß das ganze Universum eine Erscheinung und deshalb eine Illusion ist. Illusionär allein in dem Sinne, weil wir es nicht mit den richtigen Augen sehen. Es bedeutet nicht, daß das Universum nicht existiert. Das ist absurd und wäre eine falsche Schlußfolgerung. Aber er begreift, daß wir es nicht im richtigen Sinne verstehen, daß wir dahinter blicken und in sein Inneres sehen müssen. Das Sichtbare sollte als Folgerung des Unsichtbaren gesehen werden; die Wirkungen sollten uns darüber belehren, daß ihnen Ursachen vorausgehen. In dieser Phase, und dies bildet den erlesensten Teil der zweiten Periode dieses Trainingssystems, dem sich der Theosoph unterzieht und das ihm so teuer ist, weil es psychologische Schleier entfernt, beginnt er seine wahre Einheit mit allem Existierenden zu fühlen, begreift er doch, daß er, als physischer Mensch gesehen, nur ein Phänomen darstellt, eine Folgeerscheinung. Er versteht, daß er in Wirklichkeit das Ergebnis verborgener und unsichtbarer Ursachen ist. Er sieht ein, daß hinter dem Phänomen des physischen Menschen ein menschliches, geistiges Noumenon existiert. Seine Ehrfurcht wächst, und ein überwältigendes Gefühl einer alles verbindenden Schönheit senkt sich in sein Herz. Er bemerkt, daß er mit allen Lebewesen und Geschöpfen, die das Universum erfüllen, eine Einheit bildet. Von diesem Augenblick an beginnt er einzusehen, daß ethische Vorschriften nicht nur das Ergebnis menschlicher Übereinkunft sind. Moralische Prinzipien haben ihre Wurzeln tatsächlich in der Tätigkeitsweise und in dem Stoff der universalen Natur selbst. Überwältigend fühlt er seine Einheit mit allem, was ist: „Ich und mein Vater sind eins.“

Das führt zu der dritten Stufe der psychologischen Öffnung. Damit verwirklicht der Suchende das wundervollste Paradoxon, von dem er in den zwei vorhergehenden Stufen bereits Kenntnis erhalten hat. Bei diesem dritten Schritt erfährt er, daß nach innen und aufwärts, weit nach oben und dennoch stets nach innen, die Berge und die Gewässer doch real sind in einem bestimmten, wunderbaren Sinn, denn so illusorisch sie auch für unser relativ unvollständig entwickeltes menschliches Verständnis sein mögen, ist es dennoch fundamentale Realität, die sie hervorgebracht hat, genauso wie wir als Phänomen hervorgebracht worden sind.

So sehen wir gleichzeitig, daß die einzige Wirklichkeit das Göttliche ist und andererseits, daß dieses Göttliche, weil es völlige Wirklichkeit ist, in einem gewissen Sinne sogar die illusionäre Erscheinung der kosmischen Phänomene zu einer Wirklichkeit macht. Wenn wir dies auf uns selbst anwenden, fühlen wir, daß der einzig wirkliche Teil des Menschen das Göttliche in seinem Inneren ist. Und doch fühlen wir, gerade weil dieses Göttliche eine Wirklichkeit ist, daß jenes tatsächlich physische Phänomen, das wir den physischen Menschen nennen, in einem gewissen, wunderbaren Sinne, ebenso real ist. Kehren wir zum Ausgangspunkt zurück, der Kreis hat sich geschlossen. Zunächst gab es nur die Berge und Gewässer. Sie waren die einzig realen Dinge. Dann wurden die Berge und Gewässer so gesehen, als wären sie nur die Hüllen, die Gewänder von verborgenen, unsichtbaren Wirklichkeiten. Der nächste Schritt brachte uns schließlich zu der Einsicht, daß, weil die letzteren wirklich sind, sie nicht Dinge hervorbringen können, die essentiell unwirklich sind. Wir kommen damit zu der Schlußfolgerung, daß die Berge und Gewässer, welch seltsames Paradoxon, beides sind: wirklich und eben auch unwirklich. Glücklich der Mensch, der diesen dritten Schritt verstehen kann.

Der Schlüssel, dies zu verstehen, liegt in einem Gedanken, den ich wiederum aus dem Dhyāni-Buddhismus entnehmen will, weil dieser im Westen recht gut bekannt ist, hauptsächlich durch die Schriften von Professor Suzuki aus Japan, die dieser über den Zen-Buddhismus verfaßt hat (nebenbei bemerkt, stammt das Zitat nicht von ihm). Nun zu dem Gedankengang aus dem Zen-Buddhismus. Hören Sie aufmerksam zu, denn die Bedeutung ist nicht leicht zu erfassen. „Im Wind der Berge und im Sonnenlicht der Niederungen, im Einbruch der Nacht und in den Nebelschleiern der Dämmerung ruft es laut: Jenes allein war, ist und bleibt.“

Das ganze Universum ist Jenes. Alle seine Phänomene sind von göttlichen Noumena hervorgebracht, von göttlichen Gedanken, so daß sie essentiell in einer göttlichen Einheit verschmolzen sind. In einer fast pragmatischen Weise können wir den Gedanken entwickeln und sagen, daß alle Menschen Brüder sind, daß jeder einzelne seines Bruders Hüter ist. Sehen Sie den Pfad der Führung? Jegliche Verletzung des Pfades bedeutet, daß man sich selbst in Opposition zu der gesamten universalen Natur setzt.

Es gibt einen Weg zu Frieden, Glück, Weisheit und Stärke. Wenn ein Mensch erst einmal verstanden hat, daß er mit der Natur eins ist und die Natur eins mit ihm, dann wird sein Bewußtsein, indem es Schwingungen erzeugt, schwingungsgleich mit den Pulsschlägen des kosmischen Herzens. Das ist der Grund dafür, warum die großen Weisen und Seher Wunder wirken können in der Welt: Heilen, und sich in die Luft erheben; das Bewußtsein über den Tod hinaus behalten; das denkende Ego zu weit entfernten Orten schicken und dort alles in seiner Umgebung selbstbewußt wahrzunehmen und zu sehen und viele Dinge mehr. Das Universum und wir sind eben eins. Es gibt nur ein Leben, und dieses Leben ist ebenso kosmisches Denken.

Aham Asmi Parabrahma

Strahlender Glanz kennt wie die allmächtigen Schwingen der Liebe keine Grenzen, er vermag alles zu durchdringen. Dieser Gedanke kam mir heute Nachmittag in den Sinn, als ich unserem Vortragsredner zuhörte, der uns so schöne und tiefgründige Ausschnitte aus den archaischen Weisheitslehren der Menschheit vortrug – Lehren, die nicht einer einzelnen Rasse und nicht einem bestimmten Zeitalter angehören und die, da sie ursprüngliche Wahrheit sind, so wie sie uns Menschen hier auf der Erde gelehrt werden, nicht nur in irdischen, sondern auch in göttlichen Sphären gelehrt werden müssen. Es fiel mir auf, daß der Kern seines hervorragenden Vortrags folgender war: daß wir Menschen, wie tatsächlich alle anderen Dinge und Wesenheiten auch, nur Teile eines gewaltigen kosmischen Ganzen sind, trotz unserer Mängel und Mißerfolge engstens miteinander verbunden, unser gemeinsames Schicksal weben. Deshalb reagieren wir auch in dem Maße, wie unser individuelles Verständnis entwickelt ist, auf jenen kosmischen Ursprung, den die Christen Gott nennen, und den ich lieber als das Göttliche bezeichne, aus dem wir kamen, und mit dem wir auf immer untrennbar verbunden sind und sein werden, und in das wir nach unserer zeitalterlangen Pilgerfahrt zurückkehren werden. Wenn wir Menschen doch nur diesen einen Gedanken in unserem Herzen lebendig erhalten könnten und unser Denken jeden Tag davon anregen ließen! Wie würde dadurch die Mühsal des menschlichen Lebens gemildert, wie sehr würden wir Menschen dadurch gelehrt, unsere Brüder wie Brüder zu behandeln und nicht wie böse Feinde!

Sehen Sie nicht, daß diese Lehre wunderbar ist, weil es die Lehre eines Genius ist? Sie enthält alles, das ganze Gesetz und die Propheten. Und wie lautet diese Lehre? Kurz und bündig besagt sie einfach, daß das kosmische Leben ein kosmisches Drama darstellt, in dem jedes Wesen – sei es ein Übergott, Gott, Halbgott, Mensch, Tier, eine Monade oder ein Atom – seine ihm gemäße Rolle spielt; und daß all diese dramatischen Darstellungen miteinander verwoben sind und zu einem einzigen großen kosmischen Ziel führen – zu dem es, nebenbei gesagt, keine Alternative gibt. Daher kommen wir mit jedem Menschentag jener Zeit in der ungeheuer weit entfernten Zukunft näher, wo wir alle wieder einmal wiedervereint in den tiefen Schoß äußersten kosmischen Seins eingehen werden – nennen Sie es Gott, nennen Sie es Göttlichkeit, nennen Sie es Geist, wie immer Sie wollen. Dann wird das Drama beendet sein. Der Vorhang wird fallen, und es wird eine Ruheperiode beginnen, die wir Theosophen als Pralaya bezeichnen. Aber genauso wie im Menschenleben nach der Nacht wieder der Tag beginnt, dämmert am Ende der Nacht des Pralaya wieder das Manvantara, der kosmische Tag. Der Vorhang auf der kosmischen Bühne geht wieder einmal hoch. Jede Wesenheit, jedes Wesen beginnt dann sein kosmisches Spiel, seine Rolle, exakt an dem metaphysischen und mathematischen Punkt, an dem es aufhörte, als die Glocken des Pralaya jenen kosmischen Vorhang über das Manvantara oder die eben beendete Weltperiode herabläuteten. Alles beginnt wieder, genau wie eine Uhr oder Armbanduhr, die stehengeblieben war und wieder aufgezogen wurde, wieder an dem Punkt anläuft, an dem ihre Zeiger stehengeblieben waren.

Dieser einfache Begriff der Identität des Menschen mit dem Kosmos, mit all den religiösen, philosophischen, wissenschaftlichen und moralischen Folgerungen, die darin enthalten sind, ist älter als der denkende Mensch. Wir sind eins, und dennoch wissen wir es nicht, wir erkennen es nicht, so daß wir in dem Drama des Lebens auf der Bühne all diese Torheiten begehen, und die Tragödie wird zur Komödie, und die Komödie wird durch unsere eigene Schuld zur Tragödie!

Ich möchte etwas zitieren, das ich liebe und von Kindheit an geliebt habe. Ich lernte es, als ich ein Kind war, und fand es wieder in dem Buch Die Geheimlehre von H. P. B., als ich nach meiner Jugendzeit in die T. G. eintrat. Es ist folgendes: Die Szene zeigt einen Hindu-Guru oder Lehrer. Ein Schüler steht oder sitzt vor ihm, und er prüft das Wissen dieses Schülers in bezug auf die Lehren, die dieser Schüler empfangen hatte, und er fragt: „Chela, Kind, erkennst du in den Lebewesen um dich etwas, das von dem Leben, das durch deine Adern fließt, verschieden ist?“ „Es besteht kein Unterschied, o Gurudeva. Ihr Leben ist das gleiche wie mein Leben.“ „Oh Kind, erhebe dein Antlitz, und betrachte den violetten Dom der Nacht. Betrachte jene herrlichen Sterne, jene Wesen, die in der kosmischen Pracht über unseren Häuptern funkeln und strahlen. Siehst du das kosmische Feuer, das in allen Dingen brennt und das ganz besonders hell in diesem und jenem und dem leuchtenden Stern dort drüben scheint? Kind, erkennst du irgendeinen Unterschied zwischen diesem kosmischen Licht und dem kosmischen Leben, das aus unserem eigenen Tagesgestirn hervorleuchtet, oder dem, das in deinem eigenen Herzen Tag und Nacht brennt?“ Und das Kind antwortet: „O Gurudeva, ich sehe keinen Unterschied zwischen Leben und Leben, zwischen Licht und Licht, zwischen Kraft und Kraft, zwischen Geist und Geist, außer in Abstufungen. Das Licht, das in meinem Herzen brennt, ist das gleiche Licht, das im Herzen aller anderen brennt.“ „Du siehst gut, Kind. Nun vernehme den Kern dieser ganzen Lehre: AHAM ASMI PARABRAHMA.“ Und das Kind, das in Sanskrit unterrichtet worden war, im vedischen Sanskrit, versteht und neigt sein Haupt, „Prāñjali“. Dies bedeutet: „Ich bin das Grenzenlose, ich selbst bin Parabrahma, denn das Leben, das in mir pulsiert und mir meine Existenz verleiht, ist das Leben des Göttlichsten des Göttlichen.“ Kein Wunder, daß das Kind begriffen hat. Bin ich ein Kind Gottes? Im innersten Grunde ist es das einzige, was ich bin, und wenn ich versäume, dies zu erkennen, ist es nicht die Schuld des Göttlichen, sondern meine eigene.

Sie werden diese Lehre in jedem der großen Systeme finden, die der Genius der Menschheit errichtet hat. Religion ist sie; die Philosophie entstand aus ihr; und die Wissenschaft strebt jetzt hin zu ihr und fängt an, schwach zu ahnen, was sie bedeutet. Denken Sie an unsere kleinen, menschlichen Angelegenheiten – klein, wenn man sie mit der gewaltigen kosmischen Majestät vergleicht, die uns in schützender Fürsorge umgibt –, denken Sie, wie es wäre, wenn jeder Mann und jede Frau auf der Erde völlig von der absoluten Realität dieser kosmischen Wahrheit überzeugt wäre! Nie mehr würde dann ein Mensch seine Hand gegen einen anderen Menschen erheben. Es gäbe stets nur die ausgestreckten Hände der Hilfe und Bruderschaft. Denn ich bin mein Bruder – in unserem Innersten sind wir eins. Und wenn wir getrennt sind, dann wegen der Kleinlichkeiten, die uns sozusagen zu einem Atom statt zu der spirituellen Monade machen, die für jeden einzelnen von uns der Ursprung ist. Diese Monade ist durch und durch aus dem Stoff der Göttlichkeit. Wie Jesus der Avatāra es in seinem wunderbaren Ausspruch sagte: „Ich und mein Vater sind eins“ – der Vater und der göttliche Funke, der Funke der Göttlichkeit, der mit dem kosmischen Leben identisch ist, mit dem universalen Meer des Lebens –, um ein anderes Bild zu gebrauchen. Diese Vorstellung vom kosmischen Meer des Lebens, von dem wir alle in unserem Innersten und Höchsten ein Tröpfchen sind, hatte Gautama, der Buddha, im Sinn, als er von jenem letzten Ende aller Wesen und Dinge sprach; denn alle Wesen und Dinge sind, wie er sagte, in ihrer Essenz selbst Buddha, und eines Tages werden sie selbst Buddhas werden, wenn, wie es Edwin Arnold so wundervoll ausdrückte, der Tropfen Tau in das Meer von Licht entschwindet. CONSUMMATUM EST.

Chronologie

(Die einzelnen Beiträge nach ihrem Entstehungsjahr geordnet, soweit dies möglich war)

1931

Die exoterische und die esoterische H. P. B.

1934

Was ist Wahrheit?
Verlagern wir unser Bewußtseinszentrum

1937

Stärke und Ausgewogenheit im Okkultismus
Zivilisation wird aus Gedanken erbaut
Der einzige Ausweg
Der Lohn des Selbstvergessens
Die Theosophie Chinas
Junge Menschen und Theosophie
Die Beziehung des Endlichen zum Unendlichen
Laßt das Christuskind leben

1938

Altruismus
Die göttliche Entsprechung
Der direkte Weg zur Weisheit
Warum nicht über sich selbst lachen?
Die Ursachen für das Leid in der Welt und seine Heilung
Die Beseelung des Menschen
Die Welt mit Ideen erobern
Die Verantwortung der Wissenschaftler
Über das Heilen
Zeit, Dauer und das ewige Jetzt

1939

Wo die Meister arbeiten
Der Prüfstein der Wahrheit
Verhaltensregeln
Gesunder Menschenverstand zu Hause
Ermutigung auf dem Pfad
Die Orakel der Alten
Der Weg der Natur nach dem Tod
Der Wein als mystisches Symbol
Die alte Lehre vom stellvertretenden Sühneopfer
Gebet und Streben
Furcht, die große Zerstörerin
Wir haben keine Dogmen

1940

Der Wind des Geistes
Der Mensch ist sein eigener Erbe
Nach dem Tod bist Du – Du selbst
Schönheit und Wissenschaft
Gestalten Sie Ihr Schicksal
Die Essenz von H. P. Blavatskys Botschaft
Der Yoga der Theosophie
Das verständnisvolle Herz
Karma: angenehm und unangenehm
Die Überwindung des Zweifels
„Die Rache ist mein“
Das menschliche Bewußtsein
Theosophen und Gebet
Verlust der Seele und Unaufrichtigkeit
Mißbrauch des freien Willens
Hilfe von den Göttern
Die Natur in stillem Gebet
Zwei Auffassungen von der Realität
Engel und Dämon
Wo kann die Wahrheit gefunden werden?
Wissen bringt Verantwortung
1940 (Fortsetzung)
Der Widersacher
Die lebenden Buddhas in Tibet
Die Goldene oder die Platonische Kette
Drei Stufen zur Erkenntnis der Wahrheit
Über die Vorbestimmung
Die jungfräuliche Geburt
Der Weihnachtsbaum

1941

Wo sind die Weisen und Seher?
Errette Dich selbst
An jene, die trauern
Wenn man Fehler macht
Die Vision Buddhas des Herrn
Stärke durch Übung
Eine ausgeglichene und visionäre Haltung
Karmische Folgen und Bardo
Hilfe von den Göttern
Führe uns nicht in Versuchung
Mit Sanftheit und Güte gewinnen
Pflicht und moralisches Gleichgewicht
Drei Aspekte Karmas
Die vier Yugas
Wie kann man Reinkarnation beweisen?
Gedanken über Karma
Versunkene Kontinente und unser atlantisches Erbe
Soll man Vorsätze fassen?
Wie Ostern ein christliches Fest wurde
Universalität und die Esoterische Tradition

1942

Das Gebot des Pythagoras
Wo zwei oder drei versammelt sind
Die Hingabe des Selbst
Initiation und Leiden
Der Schutzengel
Überwachen Sie Ihre Denkprozesse
Vergebung und karmische Handlung
Ein Leben – ein Gesetz
Der Mensch in einem gerechten und geordneten Universum
Der Berg des Verstehens
Das unbesiegbare Feuer des Geistes
Das Geheimnis der menschlichen Konflikte
Das Herz wird gewogen
Was ist das Alter?
Die verlorene Sache des Materialismus (13. September)
Aham Asmi Parabrahma (20. September)


Glossar

Adept – Ein relativ vollkommener Mensch.

 

Ādi-Buddha(Skr.) – Ein kosmischer Buddha; er gehört zur höchsten Stufe innerhalb der vier Klassen von Buddhas.

Adwaita-Vedānta(Skr.) – Die nicht-dualistische Schule der Vedānta-Philosophie. Siehe auch Vedānta.

 

Ākāśa(Skr.) – „Das Glänzende, Leuchtende“; eine ätherisch-spirituelle Substanz; das fünfte kosmische Element; der Äther der Stoiker. Siehe auch Astrallicht.

Akousmatikoi(Grch.) – „Hörer, Zuhörer“; die Pythagoräische Schule bezeichnete so ihre Prüflinge.

 

Ariadnefaden – Gemäß der griechischen Mythologie gab Ariadne dem Theseus einen Faden, damit er aus dem Labyrinth entkommen konnte; ein Symbol für die Macht der Wahrheit, die uns Weisheit erlangen läßt.

Arūpa-Welten(Skr.) – „Formlos“; spirituell-ätherische Welten jenseits der menschlichen Wahrnehmung.

 

Asat(Skr.) – „Nicht-Sein, Nicht-Dasein“; das Unwirkliche, das Illusorische; der Gegensatz von Sat, der Wirklichkeit. Auch „jenseits von Sat“ – Parabrahman.

Astrallicht – Eine unsichtbare Substanz, die die Erde umgibt.

 

Ātma-Buddhi(Skr.) – Ātma „Selbst“ und Buddhi „spirituelles Verstehen“; die höchsten Aspekte der menschlichen Konstitution.

Avatāra(Skr.) – Eine Klasse von Heilanden; zu ihr gehörten Jesus und Krishna; ein Avatāra ist eine für eine bestimmte Zeit erfolgte Vereinigung einer Gottheit mit einer hoch entwickelten Seele und einem reinen physischen Körper.

 

Avernus(Lat.) – Die Region, in der es „keine Vögel“ gibt; die unterirdischen Regionen der Unterwelt.

Avīchi(Skr.) – „Das Wellenlose“; eine Bezeichnung für die materiellsten Ebenen und die materiellsten Bewußtseinszustände; zu ihnen werden die bösartigsten Seelen hingezogen; das Gegenteil von Nirvāna.

 

Bardo(Tib.) – „Das Dazwischenliegende“; die Periode zwischen dem Tod und der Wiedergeburt.

Bhön-Anhänger(Tib.) – Tibetanische Mönche, die die vorbuddhistische Religion praktizieren.

 

Bodhisattva(Skr.) – „Einer, dessen Essenz (Sattva) Weisheit (Bodhi) ist“; eine Vorstufe zur Buddhaschaft; es bezeichnet auch jemanden, der aus Liebe zur Menschheit darauf verzichtet, in Nirvāna einzutreten.

Brahmā(Skr.) – Schöpfer, Entfalter; die individualisierte Manifestation von Brahman, dem Unmanifestierten.

 

Brahma(n)(Skr.) – Der Universale Geist; der erste oder unmanifestierte Logos.

Brahma-Vidyā(Skr.) – „Göttliches Weisheit“.

 

Bruder des Schattens – (Schwarzmagier). Jemand, der dem Pfad der linken Hand folgt. Er benutzt sein Wissen für böse Zwecke; ein Zauberer. Siehe auch Weißer Magier.

Buddha(Skr.) – „Der Erleuchtete“; ein Wesen, das spirituell erwacht ist.

 

Buddhi(Skr.) – „Das Erleuchtete“; das spirituelle Selbst; die Quelle der Intuition und der Unterscheidungskraft.

Buddhi-Manas(Skr.) – Zusammengesetzt aus Buddhi „Weisheit“ und Manas „Verstand“; der höhere Verstand und die höhere Vernunft im Zusammenspiel; das reinkarnierende Ego. Siehe auch Nous.

 

Chela (cheta) (Skr.) – „Jünger“; Schüler eines Guru.

Chitkāra(Skr.) – „Das durch Gedanken Tätige“; das spirituelle Selbst; der Schutzengel.

 

Christos – „Der Gesalbte“; ein Ausdruck der frühen Gnostiker für einen Initiierten.

Christos-Geist Der innere Gott; der Vater im Inneren.

 

Devachan(Tib.) – Der glückselige Traumzustand der Seele zwischen den Erdenleben.

Dhyāni-Chohans(Skr.-Tib.) – „Herren der Meditation“; kosmische Intelligenzen verschiedener Abstufungen.

 

Druiden – Initiierte Priester der Kelten im vorchristlichen Europa.

Dvija(Skr.) – „Ein Zweimalgeborener“; ein Initiierter.

 

Gāyatrī (Sāvitrī) (Skr.) – Ein Hymnus aus der Rig-Veda an die göttliche Sonne.

Gilgūlīm(Hebr.) – „Das sich kreisförmig Bewegende“; eine kabbalistische Bezeichnung für die Wanderungen der Seelen.

 

Gnostiker(Grch.) – Sucher der alten Gnosis, des alten „Wissens“; sie waren Philosophen; einige der frühen Christen gehörten ihnen an.

Goldene Kette – (die lebende Kette) des Hermes. So wurde die Aufeinanderfolge spiritueller Lehrer genannt.

 

Hierarchie des Mitleids – So bezeichnet man die Bruderschaft der Mahatmas und Adepten, der Wächter der Wahrheit; sie führt und beschützt die Menschheit.

Jāgrat(Skr.) – Der „Wachzustand“; der erste der menschlichen vier Bewußtseinszustände.

 

Kāma-Loka(Skr.) – Die „Wunschwelt“, die unsere Erde umgibt; der astrale Aufenthaltsort der Kāma-Rūpas; der Hades der Griechen.

Kāma-Manas(Skr.) – Der „Wunschdenker“; das persönliche Selbst.

 

Kāma-Rūpa(Skr.) – Der „Wunschkörper“; das astrale Vehikel der mental-physischen Energien des Menschen; nach dem Tod ist es der „Schatten“ oder der sogenannte „Geist“.

Karma(Skr.) – „Tätigkeit“; das Gesetz von Aktion und Reaktion, von Ursache und Wirkung.

 

Kismet(Ar.) – „Los, Geschick“; im Islam das Schicksal oder die Bestimmung.

Lipikas(Skr.) – „Schreiber“; die Aufzeichner in den himmlischen Bereichen; Agenten von Karma.

 

Mahā-Buddhi(Skr.) – „Große Weisheit“; kosmische Buddhi, Mahat.

Mahā-Manvantara(Skr.) – „Groß und zwischen (zwei) Manus“; eine Periode der Manifestation. Siehe auch Manvantara.

 

Mahā-Māyā(Skr.) – „Groß und Illusion“, die universale Illusion von einer manifestierten Existenz.

Mahā-Pralaya(Skr.) – „Groß und Auflösung“; eine Periode der kosmischen Ruhe. Siehe auch Paranirvāna.

 

Mahat(Skr.) – Wörtlich das „Große“; das universale Gemüt; es entspricht dem Manas im Menschen. Siehe auch Mahā-Buddhi.

Mahātma(s)(Skr.) – Wörtlich „große Seele oder großes Selbst“. Siehe auch Meister.

 

Mahāyāna-Buddhismus(Skr.) – Wörtlich Fahrzeug oder „großer Weg“; Bezeichnung für die Nördliche Schule des Buddhismus.

Mānasaputra(s)(Skr.) – „Söhne des Gemüts“; solare Gottheiten, die in der menschlichen Rasse das Denkvermögen erweckten.

 

Manvantara(Skr.) – Wörtlich „zwischen den Manus“; eine Periode der Manifestation und Aktivität eines Universums.

Meister – Relativ vollkommene Menschen; Lehrer und Wächter der menschlichen Rasse.

 

Messianischer Zyklus – Eine Periode von 2160 Jahren; während dieser Zeit manifestiert sich ein besonderer spiritueller und zodiakaler Einfluß.

Moiren(Grch.) – „Die das Los, das Schicksal Bestimmenden“; so nannte man die drei Schicksalsgöttinnen, die Spinnerinnen des Schicksals, in der griechischen Mythologie.

 

Moksha oder Mukti(Skr.) – Wörtlich „in Freiheit entlassen“; Nirvāna.

Monade – Wörtlich „Einheit, Eins“; unteilbare Bewußtseinseinheit; spirituelle Individualität.

 

Monas Monadum(Lat.) – Wörtlich „Monade der Monaden“; die kosmische Monade.

Mysterienschulen – Zentrum spiritueller Instruktion, Disziplin und Initiation in früheren Zeitaltern.

 

Nāga(Skr.) – Wörtlich „Schlange“ der Weisheit; ein Initiierter; manchmal auch verwendet in der Bedeutung für Schlangendämon.

Nirvāna(Skr.) – Wörtlich „ausgeblasen“; die Glückseligkeit der Absorption in pures kosmisches Sein, alle persönlichen Begrenzungen sind „ausgeblasen“.

 

Nous(Grch.) – „Gemüt“; die höhere Intelligenz.

Parabrahma(n)(Skr.) – Wörtlich „Jenseits von Brahman“; das Unendliche, das Grenzenlose.

 

Paranirvāna(Skr.) – Zusammengesetzt aus „Jenseits und Nirvāna“; Bezeichnung für die Zeit, in der ein Kosmos seine Ruheperiode durchläuft. Siehe auch Mahā-Pralaya.

Piśāchas(Skr.) – Wörtlich „Fleisch verzehrende, dämonische Elementale, der niedrigste Aspekt des Kāma-Rūpa.

 

Pistis(Grch.) – „Glaube, Vertrauen“.

Pralaya(Skr.) – Wörtlich „Auflösung“; Zustand der Ruhe zwischen zwei Lebenszyklen.

 

Psuche(Grch.) – Wörtlich „Atem“; Tochter des Nous; die persönliche menschliche Seele.

Quabbālāh (Kabbala) (Hebr.) – „Überlieferung“; die Geheimlehre oder Theosophie der Juden.

 

Runde – Ein technischer Ausdruck für den Durchgang der Monaden durch sieben Wurzelrassen, manchmal auch für noch größere Zyklen verwendet.

Samādhi(Skr.) – Wörtlich „Vereinigung“; selbstbewußte Vereinigung mit dem Göttlichen.

 

Sambuddhi-Samādhi(Skr.) – Zusammengesetzt aus „vollkommene Erleuchtung und Samādhi“; allumfassendes Wissen; Vereinigung mit dem All.

Sat(Skr.) – Wörtlich „Sein, Dasein“; Wahrheit, Wirklichkeit. Siehe auch Asat.

 

Sushupti(Skr.) – Wörtlich „Tiefschlaf“; der dritte Zustand des menschlichen Bewußtseins.

Svabhāva(Skr.) – Wörtlich „Selbstwerdung“; wahre Individualität.

 

Svapna(Skr.) – „Schlaf oder Traumzustand“; der zweite Zustand des menschlichen Bewußtseins.

Tat(Skr.) – Wörtlich „Jenes“; das Grenzenlose. Siehe auch Parabrahman.

 

Turīya(Skr.) – Wörtlich der „Vierte“; der höchste Zustand des menschlichen Bewußtseins. Siehe auch Samādhi.

Vedānta(Skr.) – Eine der sechs philosophischen Schulen Indiens.

 

Veden(Skr.) – Wörtlich „Wissen“; religiöse Texte der alten Hindus. Sie werden Veda-Vyāsa zugeschrieben. Die älteste Veda ist die Rig-Veda.

Weiße Magier – Fortgeschrittene Menschen; sie folgen dem Pfad rechter Hand; sie wirken unpersönlich zum Wohl aller Wesen.

 

Wurzelrasse – Einer der sieben Rassenkörper, durch die die menschliche Lebenswoge während einer „Runde“ auf dieser Erde läuft. Wir sind gegenwärtig in der 5. Wurzelrasse. Siehe auch Runde.

Yoga(Skr.) – Wörtlich „Vereinigung“; eine Trainingsmethode; Disziplin.

 

Yuga(Skr.) – Wörtlich „Zeitalter“; eine Zeitperiode. In jeder Wurzelrasse gibt es vier Yugas; unser gegenwärtiges Zeitalter, das vierte, ist das Kali-Yuga. Es ist das „Schwarze oder Eiserne“ Zeitalter. Es begann 3102 vor Chr. mit dem Tod Krishnas.

Fußnoten

1. Plan in dem Sinne, daß der Große Atem, der das Universum aufbauen wird, beim aktiven Aufbau der Struktur und der Gliederung des Universums von den Ideen des Urbildes der kosmischen Ideenbildung geleitet und kontrolliert wird. Diese göttliche oder kosmische Ideenbildung enthält im Sinne eines ewigen JETZT, philosophisch gesprochen, gleichzeitig die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft in sich. In der göttlichen Ideenbildung ist daher sowohl das zukünftige Geschick als auch die Vergangenheit gegenwärtig. Beide entfalten sich am Beginn eines Manvantaras in Übereinstimmung mit Karma und mittels der Tätigkeit der Lipikas, die gezwungen sind, in ihrer Arbeit den Ideen der kosmischen Ideenbildung zu folgen. Wie gesagt enthält letztere alles, was zukünftig passieren wird, alles, was sich im Universum je ereignen wird, vom Schwirren eines Moskitoflügels bis zum Eintritt des Sonnensystems in sein Pralaya. Unser Schicksal ist somit nicht allein in den Sternen aufgezeichnet. Es wurzelt ebenso im kosmischen Gemüt, das Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges umfaßt. Trotzdem besitzt jede Monade, weil sie ein Abkömmling und ein essentieller Teil dieses kosmischen Gemütes ist, ihren eigenen, ihrer Entwicklung gemäßen Anteil an freiem Willen und benutzt ihn. Benutzt sie ihn falsch, dann trifft sie sofort die Vergeltung Karmas. Gebraucht sie ihn jedoch in einer Art und Weise, daß er auf Zusammenarbeit hinzielt, dann erfreut sie sich der daraus resultierenden Segnungen. „Hilf der Natur und arbeite mit ihr zusammen. Dann wird die Natur dich als einen ihrer Schöpfer betrachten und dir gehorsam sein“ (Die Stimme der Stille).
So ist also jede Monade allein ihrem eigenen Schicksal unterworfen und keinesfalls einem blinden Fatum, denn innerlich hat sie an dem göttlichen Willen und an der göttlichen Intelligenz Anteil und besitzt die Freiheit, davon beliebig Gebrauch zu machen. [back]