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Der Wind des Geistes

Über das Heilen

In allen Bereichen seines Wesens als einheitliches Ganzes zu existieren oder heil und gesund zu sein, bedeutet das gleiche. Im Englischen sind die beiden Worte Gesundheit (health) und Ganzheit (wholeness) aus dem gleichen Wortstamm abgeleitet.

„Deine Erkenntnis hat dich geheilt.“ Pistis wird meistens mit „Glauben“ übersetzt, es ist jedoch ein Wort, dessen Bedeutung nur sehr schwer zu erfassen ist; es bezieht sich auf die innere Überzeugung, daß es kosmische Wahrheiten gibt, und daß man Dinge, die unsere Augen nicht wahrnehmen, trotzdem erkennen kann. Wer Wissen erlangt hat, braucht keinen weiteren Beweis. Ein solcher ist erbracht, wenn unser Verstand überzeugt ist. Wer Überzeugung gewonnen hat, für den ist jeder weitere Beweis überflüssig.

Wenn ein Mensch durch alle Bereiche seines Wesens als ein einheitliches Ganzes funktioniert, ist er heil und gesund. Das Bemühen der Theosophischen Gesellschaft besteht hauptsächlich darin, die Menschen in spiritueller, moralischer und intellektueller Hinsicht so zu fördern, daß sie auf allen Ebenen ihres Wesens, in jedem ihrer sieben Prinzipien ihrer Konstitution, aktiv werden. Wer das tut, durch dessen spirituelle, intellektuelle, psychische, astrale und physische Bereiche strömt ein göttliches Feuer, besonders durch den wichtigsten Wesensteil, den moralischen. Letzterer entstammt unserem spirituellen Wesen. Wenn uns das gelingt, sind wir innerlich und äußerlich tatsächlich ein einheitliches Ganzes. Dann sind wir vollständig gesund und unser gesamtes Wesen befindet sich in Harmonie.

Das Bemühen der Theosophischen Gesellschaft zielt darauf ab, das Herz und den Verstand der Menschen so zu verändern, daß diese anfangen, ihr Leben und damit auch das Leben der Völker dieser Erde neu zu gestalten. Bedeutet das nicht, mit dem Heilungsprozeß an der Wurzel anzusetzen anstatt bei den Symptomen zu beginnen? Die göttliche Weisheit geht der Krankheitsursache auf den Grund und beseitigt diese. Ein erfolgreicher Theosoph ist nicht jener, der am besten über Theosophie schreiben und beinahe alles faszinierend darlegen kann, sondern der, welcher Theosophie lebt. „Ein Theosoph ist der, der Theosophie in seinem Leben verwirklicht.“

Sie erinnern sich der Berichte im Neuen Testament – ich erwähne das, weil es den im Westen lebenden Menschen bekannt ist – in denen von Heilungen berichtet wird, die der Avatāra Jesus vornahm. Ganz ähnliche Erzählungen können Sie übrigens in allen anderen alten und modernen Religionen oder Philosophiesystemen auch finden. Auch unter den Heiden in den Tempeln des Aesculap waren Patienten, die kamen und dort für eine Nacht schliefen und sich am nächsten Morgen gesund fühlten. In der Überlieferung heißt es: „Sie wurden von Gott geheilt.“ In Wahrheit wurden sie „geheilt durch innere Wandlung“, nicht eine Wandlung im Denken des Gehirnverstandes, sondern die Wandlung eines Lebens: nach oben zu blicken und nicht nach unten. Die dankbaren Patienten, die sich von ihren Leiden geheilt fühlten, legten ex voto [d. h. in Erfüllung eines Gelübdes – Zusatz des Übersetzers] Dankesspenden im Tempel nieder und ließen Bilder von den kurierten Körperteilen auf die Tempelwände gravieren – einen Kopf, ein Bein, einen Arm, eine Leber, ein Herz oder sonst etwas, eben ein Hinweis auf den geheilten Körperteil. Das sollte bedeuten: „An diesem Körperteil wurde ich gesund.“ So etwas gab und gibt es überall auf der ganzen Welt. In diesem Fall handelt es sich um Selbstheilung durch Ganzwerden, genau das.

Ein anderer Aspekt ist die Tätigkeit jener Ärzte, die sich bemühen, andere Menschen zu heilen. Es ist nichts dagegen einzuwenden, wenn jemand, der gesund und edel gesinnt ist, versucht, mittels Übertragung eigener Lebenskraft Heilerfolge zu erzielen. „Energie ist von mir ausgegangen“, sagt Meister Jesus im Neuen Testament. Das griechische Wort für diese „Energie“ oder Stärke, bzw. Macht ist Dunamis. Etymologisch ist das korrekt. In den modernen Übersetzungen kommt jedoch nicht klar genug zum Ausdruck, daß dieses Wort noch eine Nebenbedeutung hat. Letztere richtet unsere Aufmerksamkeit darauf, daß es sich bei dieser Stärke oder Kraft, von der Jesus sprach, um ein Ausströmen von Lebenskraft, ein Abgeben von Vitalität handelte. Von diesem griechischen Wort Dunamis stammen die in den modernen europäischen Sprachen so geläufigen Bezeichnungen wie dynamisch, Dynamo oder Dynamit. Die Redewendung „Energie ist von mir ausgegangen“ bezog sich also auf die Übertragung seiner Vitalität, auf die Übermittlung seiner Sympathie. Dem Lehrer war bewußt, daß er etwas von sich wegschenkte. Ein Arzt hat nur dann Erfolg, wenn er etwas von sich opfert. Sie sehen, wie wundervoll die alte Wahrheit auch hier gilt: man muß den anderen etwas von seinem Besten geben, wenn man helfen will.

Menschen mit einem Herz, das härter als ihr Kopf war, äußerten gelegentlich: „Schau, da ist ein kranker, schwächlicher, ja, hinfälliger Theosoph. Dem geht es ganz erbärmlich. Er kann nicht einmal einer normalen Arbeit nachgehen. Das ist sein Karma. Das muß er aushalten!“ Das stimmt, aber niemand hat das Recht, einem anderen zu sagen, daß er sein Karma aushalten muß. Unsere Pflicht ist es, zu helfen und der Natur den Heilungsprozeß zu überlassen. Es ist äußerst verletzend, einem anderen Menschen gegenüber, der krank und leidend ist – ganz gleich, ob Theosoph oder nicht – die Vermutung zu äußern, seine Sünde hätte ihn eingeholt. Das mag sogar wahr sein, aber es steht uns nicht zu, zu Gericht zu sitzen. Erinnern Sie sich stets an die Worte des Meisters Jesus, die er sprach, nachdem er jemanden durch die Weitergabe seiner reichen spirituellen Vitalität geheilt hatte: „Gehe hin und sündige hinfort nicht mehr“, denn deine Sünde war der Anlaß deiner Krankheit.

Wenn wir gegenwärtig leiden, ist das kein Beweis dafür, daß wir in diesem Leben gesündigt haben müssen. Es mag vor vielen vergangenen Zeitaltern gewesen sein. Jedoch jetzt, wo man seine Vitalität, seine ganze Stärke und Gesundheit braucht, um vorwärts zu schreiten, gerade jetzt meldet sich die alte Sünde wieder und sucht sich irgendwo ein Ventil. Begreifen Sie das moralische Element in dieser Feststellung. Unsere Sünde wird uns in diesem oder in einem späteren Leben zu finden wissen. Es ist viel besser, die Krankheit schnell herauszulassen und ihren Ausbruch nicht auf ein zukünftiges Leben zu verschieben. Vielleicht wäre es uns dann lieber, wir hätten das damit verbundene Leid bereits ausgestanden und wären von dem Gift aus einem früheren Leben frei.

Ich selbst wäre, falls ich von einer Krankheit nicht geheilt werden könnte, lieber tot, als zu versuchen, sie durch die Anwendung schwarzer Magie zurückzudrängen und für die Zukunft aufzusparen; vielleicht für einen Zeitpunkt, an dem ich jede Unze meiner Kraft, meiner Stärke und meiner Gesundheit brauche. Wir sollten davon Abstand nehmen, einen anderen Menschen zu verurteilen und festzustellen, seine Sünden hätten ihn bestraft. Das ist nicht der richtige Weg, um ihm zu helfen. So ermutigen wir ihn nicht. Das ist nicht gütig und barmherzig. Abstrakt gesehen, mag es zwar stimmen, aber unser Einblick ist zu gering, um die Zusammenhänge zu erkennen.

Noch ein anderer Gedanke drängt sich hier auf. Man wird nicht wegen seines Körpers zu einem Chela. Man wird ein Chela, weil man Anstrengungen unternimmt, das Wachstum des inneren Menschen anzuregen, das heißt, die emotionalen, mentalen und spirituellen Teile unseres Wesens in ihrer Entwicklung zu beschleunigen. Ein Genie, ein ganz gewöhnliches Genie, zeichnet sich nicht durch einen besonders spiritualisierten Körper oder durch eine relativ vollkommene physische Erscheinung aus. Wenn Sie ernsthaft die Annalen der Geschichte durchblättern, können Sie die erstaunliche Beobachtung machen, daß die Mehrzahl aller Genies einen schwächlichen Körper hatten. Oft hatten sie irgendwelche Krankheiten, manchmal sogar ein Gebrechen oder sie waren irgendwie verkrüppelt. Es war das flammende Feuer ihres inneren Genius, das ihren Körper verzehrte. Weil ihre Seele der Lebenskräfte so dringend bedurfte, raubte sie diese dem Körper.

Manchmal verhindert eine unverwüstliche, durch nichts zu erschütternde physische Gesundheit sogar ein inneres Wachstum. Das ist dann der Fall, wenn die physischen Lebensenergien so stark sind, daß sie die Seele wie einen undurchdringlichen Schleier umhüllen.

Der Mensch in einem gerechten und geordneten Universum

Im Grenzenlosen gibt es keinen Zufall. Gebrauchen Sie all Ihren Scharfsinn, um die daraus abzuleitenden Folgerungen zu verstehen. Die erste Folgerung ist, daß es keine Planlosigkeit geben kann, weil nichts zufällig ist. Alles, was sich ereignet, ist ein Glied innerhalb einer Kette von Ursachen. Auf jede Ursache folgt eine Wirkung. Diese Wirkung verursacht eine neuerliche Ursache, und die wiederum löst eine weitere Wirkung aus, usw. Das nennen wir Karma.

Allem, was sich ereignet, liegt deshalb Gesetzmäßigkeit zugrunde. Das ist nur ein anderes Wort für kosmische Vitalität gepaart mit Intelligenz, mit dem, was wir ethischen Instinkt nennen, Ordnung; all das zeigt sich unserem staunenden, fragenden Blick, wenn wir das Universum studieren. Überall bemerken wir Ordnung, Gesetz und Vorgänge, die auf dem Prinzip von Ursache und Wirkung beruhen. Wenn in einem einzigen Atom des Unendlichen ein totales Durcheinander herrschen würde, stünde es außerhalb des Ordnungsprinzips, das ein Kennzeichen des Unendlichen ist. An diesem Punkt wäre etwas anderes als das Unendliche vorhanden. Da es das nicht geben kann, weil das Unendliche dann nicht mehr unendlich wäre, ist die Annahme, es könne auch nur ein einziges solches Atom geben, völlig absurd.

Wenn Sie mit den Lehren der modernen Wissenschaft vertraut sind, und Ihre Kenntnisse über die göttliche Weisheit anwenden, sollte Ihnen Ihre Logik sagen, daß alles, was sich aufgrund des Gesetzes von Ursache und Wirkung innerhalb des Unendlichen ereignet, auch gerecht sein muß.

Bei unserer Erforschung und Untersuchung der Natur können wir zwei Fakten feststellen: erstens ein alles umfassendes, alles umschließendes Ordnungsprinzip, das uns unter dem Begriff Naturgesetze bekannt ist. Zweitens können wir in der Natur, durch dieses universale Gesetz verbunden, eine endlose Anzahl von Individuen, von Einzelwesen beobachten, die diesem kosmischen Gesetz unterworfen sind. Kein Wesen kann ihm entfliehen. Es gibt also eine Einheit, eine göttliche Einheit, die sich durch diese unendliche Anzahl von Lebensarmeen zum Ausdruck bringt. Eine dieser Armeen sind wir Menschen. Aber außer dieser gibt es noch die der Götter, der Engel oder Dhyāni-Chohans, der Pflanzen, der Tiere, der Atome, usw. Alle diese Individuen sind dieser fundamentalen kosmischen Ordnung unterworfen und untertan. Sie sehen, wie logisch diese Gedanken sind. Sie führen uns Schritt für Schritt zu einem immer neuen Gesichtspunkt. Schließlich müssen wir nicht nur neue Schlußfolgerungen ziehen, sondern diese müssen auch mit allem, was wir über die universale Natur wissen, in Übereinstimmung sein. Das bedeutet, daß sie auf unsere Lebensführung einen Einfluß nehmen müssen, sowohl auf unsere Gedanken als auch auf unsere Gefühle.

Wenn jemand einmal verstanden hat, daß es im Universum keinen Zufall gibt, daß der Mensch nur eine Bewußtseinseinheit innerhalb einer Hierarchie ist, und daß es zahlenmäßig unendlich viele solche Hierarchien gibt, wenigstens so weit wir Menschen dies erkennen können, – nehmen Sie nur beispielsweise die Himmelskörper im kosmischen Raume, auch sie sind, wie wir, Kinder des endlosen Lebens – wenn jemand dies alles begriffen hat, geschehen mit ihm verschiedene Dinge. Wenn er Gedanken solcher Art in sich bewegt und wenn ihm durch Nachdenken darüber ihre unbesiegbare Kraft vollständig klar geworden ist, verliert er erstens alle Furcht vor dem Tod, und zweitens begreift er, daß er für alles, was er tut, verantwortlich ist, das heißt, für alles, was er denkt und an Gefühlen entwickelt, und daß er den Wirkungen seiner Gedanken, Gefühle und Handlungen nicht entrinnen kann. Vor allem aber versteht er, daß die größte und wunderbarste Hoffnung für die Menschheit gerade in der Tatsache liegt, daß es für uns Menschen unmöglich ist, der Vergeltung, bzw. der Rückzahlung durch das kosmische Gesetz zu entkommen.

In der altvertrauten christlichen Sprache, die diesen Gedanken allgemein verständlich formuliert, heißt das, daß der Mensch weder dem Himmel noch der Hölle entkommen kann. Er kann sich der Vergeltung für das Gute, das er in der Welt getan hat, niemals entziehen. Irgendwann, irgendwo wird sie ihn treffen. Sie wird ihn verfolgen, wo immer er sich auch verstecken mag, sie wird sein Leben erleuchten und ihm Mut machen. Sie wird ihm neue Hoffnung und neue Beherztheit schenken. Genauso werden ihn jedoch auch die Auswirkungen des Bösen, das er getan hat, die Wirkungen seiner Ungerechtigkeiten, seiner Unfairneß und seiner Verbrechen als Folge der Ursachenkette zu finden wissen. Selbst wenn er sich in den Schluchten der Berge oder in den tiefsten Abgründen der Hölle versteckt, er kann trotzdem der gerechten Heimzahlung nicht entgehen. Die Verfahrensweisen der ewigen und universalen Natur lassen sich nicht aufhalten.

Nein, es gibt keinen Zufall im grenzenlosen All. Begreifen Sie das immense Gewicht dieser Gedanken. Sie wirken auf uns wie ein moralischer Motor. Wir begreifen dadurch auch, worauf die größten Weisen, welche die menschliche Rasse je hervorbrachte, ihre gesamte Ethik und ihre gesamten moralischen Lehren gründeten. Vor allem sehen wir die Begründung dafür, warum die größte aller Hoffnungen, denen sich die Menschheit hingibt, in den Lehren liegt, die sich daraus ableiten.

Eine dritte Anmerkung sei gestattet: Wir Menschen auf dieser kleinen Erde, die uns so groß erscheint, sich aber im Vergleich mit den riesigen Planeten unseres eigenen Sonnensystems so klein ausnimmt, sollten uns stets bewußt sein, daß jeder einzelne von uns, weil er einen untrennbaren Teil der kosmischen Struktur darstellt, für das kosmische Gesetz genauso wichtig ist, wie der gewaltigste Stern am Himmel. Das Neue Testament bezieht sich darauf und sagt in seiner Sprache, die für viele von uns fremd klingt: Wißt ihr nicht, daß die Haare auf eurem Kopf gezählt sind? Kein Sperling fällt vom Dach, ohne Übereinstimmung mit dem göttlichen Gesetz. Auf diese Feststellung gründet sich auch der Gedanke, daß wir nicht nur die Abkömmlinge der Götter sind, sondern tatsächlich auch Embryo-Götter, denn in uns liegen die Urquellen des göttlichen Lebens verborgen, die Schatzkammern des göttlichen Stoffes, der das Universum erfüllt. Was sollten wir sonst sein? Können Sie dem widersprechen und behaupten: „Nein, das sind wir nicht. Wir sind kein Bestandteil des Universums. Wir sind kein Teil seines Lebens. Wir nahmen in ihm nicht unseren Ursprung.“ Bemerken Sie, wie absurd das ist?

Unser göttlicher Ursprung macht uns mit allem und mit jedem Wesen artverwandt. Wir sind nicht nur mit der gesamten Menschheit verwandt. Alle anderen Wesen und Dinge, die es gibt, sind unsere anderen Selbste. Alle haben im selben universalen Ozean ihren Ursprung. Er ist unsere Ewige Mutter, Vater-Mutter. Das ist ein wunderbarer Gedanke.

Wenn Sie das nächste Mal eine Blume pflücken, dann erinnern Sie sich daran, daß Sie einen jüngeren Bruder berühren. Vielleicht blicken die höheren Götter auf uns in der gleichen Weise, wie wir diese Knospen betrachten, die so voller Schönheit sind. Sie sind sozusagen junge Embryo-Seelen, Monaden, die sich auf dieser Ebene in einem jungen Zustand befinden, und ihr Leben, ihre Schönheit und ihr Duft erfreuen uns, und so sehen die höheren Götter auch uns. Ich möchte gern wissen, wie oft die Götter uns pflücken, weil wir in ihren Sphären Schönheit und Duft verströmen und wir ihnen gefallen: diejenigen, die die Götter lieben, sterben jung. Ein ganzes Mysterium liegt in diesem Gedanken verborgen. Der Tod ist kein Unglück. Genausowenig wie das Geborenwerden. Nehmen Sie keinen Augenblick an, ich würde mit der geschilderten Ursachenkette den alten, wissenschaftlich toten, seelenlosen Determinismus aus der Zeit unserer Großväter meinen. Damals glaubte man, daß sich alles wie eine seelenlose Maschine, die niemals gestoppt werden kann, bewege. Man vergaß damals jedoch, daß eine Maschine eines Ingenieurs bedarf, der sie entwirft und in Gang hält. Man benutzte damals einfach Worte und gab sich damit zufrieden. Nein, ich meine nicht diesen seelenlosen Determinismus. Ich beziehe mich auf die Struktur des Universums, die aus Hierarchien von verkörpertem Bewußtsein entsteht. Durch sie bringt sich die Vielfältigkeit des Kosmos zum Ausdruck. Diese Hierarchien sind aus unzähligen Familien von Wesenheiten aufgebaut. Alle sind sie jedoch von dem großen Hierarchen umschlossen, beschirmt, beschützt, geführt und bewacht, dessen Kinder wir sind, wie alle anderen Wesen auch. Es gibt keinen Unterschied zwischen diesem Hierarchen und unserem inneren Selbst. Wir sind sozusagen seine Funken, Funken aus der zentralen Flamme unseres Universums.

Wo kann die Wahrheit gefunden werden?

Ich liebe es, weite Vision zu erkennen, Reichtum an Gedanken, anstelle von engstirnigen, dogmatischen und bigotten Beschränkungen von Gedanken in einem Rahmen, dem sich menschliches Genie beugen muß, wenn es nicht als ausgestoßen angesehen werden will. Glauben Sie mir, die Welt braucht das erstere jetzt dringend, glauben Sie mir, da das Mittelalter zu uns zurückzukehren scheint, gekennzeichnet von Intoleranz, einer beständigen Abnahme der Bereitschaft, die Menschenrechte zu respektieren, und einer fortschreitenden Vernachlässigung der größeren zwischenmenschlichen Pflichten – Pflichten, die sogar höher stehen als Rechte.

Ein altes spanisches Sprichwort lautet: La verdad no se casa con nadie: „Die Wahrheit ist mit niemand bestimmtem verheiratet.“ Sie können die Wahrheit überall finden, wo der menschliche Genius tätig war, überall dort, wo sich Menschen mit Erfolg bemühten, wenigstens einige der wirklichen Vorgänge im Kosmos zu entschlüsseln und dadurch Einblick in die Wahrheit zu erhalten. Ich wage zu behaupten, daß sie allein deshalb diese Geheimnisse entschlüsseln konnten, weil sie die Dinge nicht von außen betrachteten und nicht nur die Welt studierten, die uns umgibt. Sie bemühten sich vielmehr, den Kosmos von innen her zu studieren, denn allein in den geheimnisvollen Quellen des menschlichen Herzens und des menschlichen Geistes kann man der Wahrheit und Wirklichkeit am allernächsten kommen. Warum? Weil unsere innerste Essenz, in der die Wahrheit in ihrer ganzen Fülle liegt, identisch ist mit der Essenz und dem Stoff des kosmischen Lebens, der kosmischen Intelligenz und dem kosmischen Raum. Wir sind tatsächlich Kinder des Weltraums.

In jeder Weltreligion läßt sich Wahrheit finden. Jede große Religion und Philosophie der Vergangenheit entsprang letztlich der Theosophischen Bewegung ihres Zeitalters oder wurde von einem Boten der Mahatmas gegründet. Dieser Bote kam mit dem Auftrag, erneut die Grundtöne der Wahrheit anzuschlagen, deren Klang in jedem wachen Menschenherzen vernommen werden kann. Seine Tätigkeit bestand darin, die Herzen zu erwecken und die Saiten der Harmonie anzuschlagen, die jeder Mensch in sich hat. Durch ihren Klang schöpften die Menschen neue Hoffnung und wurden von einer neuen Vision erfüllt. Sie wurden sehend und hatten neues Vertrauen, denn im Inneren wissen sie. Die Saiten der Intuition oder des Herzens wurden in ihnen berührt.

Ich bete nur darum, daß unsere Theosophische Gesellschaft getreu zu dem Werk steht, das durchzuführen uns aufgetragen wurde. Es ist ein schwerer Auftrag, und es hängt gänzlich von uns und unseren Brüdern und Freunden ab, die sich im Herzen mit uns verbunden fühlen, ob wir die Theosophische Gesellschaft und ihre Mitarbeiter so zu führen verstehen, daß im Laufe der kommenden Jahre immer mehr Menschenseelen zu uns stoßen. Wenn wir versagen, wird es allein unser Fehler sein. Wollen wir hoffen, daß das nie geschieht. Erinnern Sie sich auch daran, daß die Theosophische Gesellschaft nur eine Hierarchie unter anderen Hierarchien ist, die alle in einer umfassenden lebendigen und vitalen Sphäre einer anderen und noch größeren Hierarchie zusammenwirken. Wir können sie die Hierarchie der Söhne des Lichtes nennen. Es ist völlig nebensächlich, welchen Namen wir für sie benutzen. Man kann die Hierarchien dieser Söhne des Lichtes als die Engel und Erzengel, als die Tugenden, Prinzipien und Mächte, Cherubim und Seraphim bezeichnen, wenn wir wollen. So taten es die frühen Christen. Worauf es ankommt, ist, den Gedankengang hinter diesen Worten zu begreifen. Wir selbst nennen sie allgemein die Hierarchie der Dhyāni-Chohans, eine schöne Bezeichnung, wenn sie richtig verstanden wird: Herren der Meditation in Weisheit – so ausdrucksvoll.

Kein selbstloses und würdiges Streben einer menschlichen Seele, wo immer sie sich befindet, bleibt unbeantwortet. Das könnte nie sein. Die Welt wird durch geistige Kräfte und von Intelligenzen gelenkt, gegenüber denen wir, wenn man uns mit ihnen vergleicht, den Verstand von kleinen Kindern besitzen. Das Symbol des Buddha mit den langen Ohren ist nur ein Symbol für einen Meister, der jeden Hilferuf, von welchem Teil der Welt er auch kommt, vernimmt. Die großen Ohren, mit denen die Buddhas dargestellt werden, und die oft im Westen Heiterkeit erregen, sind ein Symbol dafür, daß das Buddhaprinzip den Ruf auch aus größter Entfernung vernimmt und Hilfe schickt, ganz gleich, aus welcher Himmelsrichtung der Ruf kommt. Diese Hilfe erreicht uns stets in der Stille, außer das Klopfen an der Tür ist sehr stark; dann beginnt ein Leben als Schüler.

Eine der westlichen Tragödien ist die Tatsache, daß die Menschen nicht mehr wissen, daß die Dinge dieser Welt nicht willkürlich, sondern nach Gesetz und Ordnung ablaufen. Man hat vergessen, daß hinter ihnen leitende Intelligenzen stehen, Herzen, deren Sympathien den gesamten Kosmos umfassen. Nur wir kleinen Winzlinge verursachen ein Durcheinander. Durch unsere heißen Gefühlsausbrüche und fiebrigen Wunschvorstellungen verursachen wir Disharmonie, wo Harmonie herrschen sollte. Es ist jedoch tröstlich, sich daran zu erinnern, daß die gesamte Natur auf Harmonie aufgebaut ist. Das Mittel, um an der Harmonie der Natur und des Kosmos teilhaben zu können, besteht darin, in unser eigenes Herz Harmonie einkehren zu lassen. Das ist das Anklopfen.

Mit Sanftheit und Güte gewinnen

Ich habe niemals ein Vergnügen darin gesehen, Idole zu zerstören. Ich bin vielmehr davon überzeugt, daß diese Idole in vergangenen Zeiten durch den göttlichen Instinkt des menschlichen Herzens aus Liebe und dem Wunsch geschaffen wurden, das Verstehen zu fördern. Wir wissen heute nur nicht mehr, was sie darstellen sollen und was sie bedeuten. Die Kenntnis ihrer Bedeutung ist uns verlorengegangen. Die großen Menschen der Vergangenheit, die sie schufen, ermutigten mit ihrer Hilfe viele jahrtausendelang die Menschen. Ich finde kein Vergnügen daran, Idole zu zerbrechen und in die Menschenherzen gepflanzte Ideale zu zerstören. Viel besser ist es dagegen, Sanftheit und Güte zu zeigen, zu überzeugen, die Herzen zu gewinnen und zu sagen: „Mein Bruder, ich möchte Dir hier etwas unterbreiten, das ich für außerordentlich überzeugend und gut halte, und mit dem Du Dich einmal beschäftigen solltest. Versuche es. Unterziehe es einer genauen Überprüfung. Solltest Du es ebenfalls gut finden, dann komm und hilf dabei, es an andere weiterzugeben.“

Es ist leicht, Idole zu zerstören. Meiner Meinung nach hat man dies, obwohl es in der Geschichte der Menschheit immer wieder geschieht, schon viel zu lange getan. Sie können natürlich argumentieren, ein Idol enthalte einen wertvollen Edelstein, und um ihn allen zugänglich zu machen, müsse man das Idol eben zerstören. Doch da gibt es ganz andere Methoden. Falls dieses Idol einen wertvollen Edelstein enthält, dann wurde er von sehr weisen Menschen dort versteckt; und es gibt eine Möglichkeit, in den Besitz dieses Juwels zu gelangen, ohne dabei das Idol zu zerstören, das sonst danach wertlos und nutzlos würde.

Welche Idole ich meine? Ich beziehe mich nicht auf solche aus Messing, Stein oder Holz. Ich meine ganz allgemein jene, die den Menschen teuer sind und die sie in ihrem Herzen und in ihrem Denken errichtet haben. Können Sie es nicht verstehen, daß Sie durch Ihre übertriebenen bilderstürmerischen Aktivitäten sogar Menschenherzen verletzen, entmutigen und vom Betreten des Pfades abhalten können? Es ist leicht, sich als ein Zerstörer von Idolen zu betätigen, sehr leicht. Es ist leicht, etwas kaputtzumachen und zu Fall zu bringen. Sehr oft ist es sogar allgemein üblich. Für edelmütige Menschen gibt es jedoch etwas Besseres zu tun.

Der Berg des Verstehens

Alle Wahrheiten sind wie Diamanten. Wenn man sie schleift und poliert, reflektiert jede einzelne Facette dennoch nur das, worauf sie gerichtet ist. Denn die Wahrheit ist Allgemeingut und nicht exklusiv. Sie ist etwas Spirituelles und durchdringt alles. Wir Menschen und alle Wesen, die unterhalb der großen spirituellen Wesenheiten des Kosmos stehen, stoßen nur darum in den niedrigeren Bereichen des Bewußtseins an Grenzen, weil die evolutionären Vehikel, deren sich selbst diese großen Wesenheiten bedienen müssen, noch unvollkommen sind. Wir sollten uns dieser Tatsache stets bewußt sein. Sie macht uns demütig und auf noble Weise bescheiden. Wir begreifen so, daß andere eine größere Vision von der Wirklichkeit haben können.

Wie erhebend, wie großartig und wie veredelnd ist es für uns Menschen, in brüderlicher Eintracht zusammenzuleben. Trotz der Tatsache, daß wir Menschen in unserer evolutionären Entwicklung noch sehr unvollkommen sind, können wir wahrnehmen, wenn wir das Panorama vom „Berg des Verstehens“ aus betrachten und mit unserer Vision hinter die Schleier des bloßen Scheins dringen, wo die unbeschreiblichen Wunder des Menschenherzens verborgen liegen, daß jeder unserer Mitmenschen eine Offenbarung ist, ein wundervolles Mysterium, denn jeder Mensch ist ein Kind der Ewigkeit, ein Kind des Unendlichen.

Es war eine Offenbarung für mich, als mir in diesem Leben diese große Wahrheit wieder bewußt wurde. Von dem Augenblick an sah ich in meinen Mitmenschen mehr als nur die Tatsache, daß sie eben Menschen sind. Ich erkannte, daß sie in Wirklichkeit Wunderwesen sind, von denen man etwas lernen kann, vom scheinbar Unbedeutendsten wie auch von dem am weitesten Fortgeschrittenen. Indem ich diesen wundervollen Gedanken weiterverfolgte, wurde mir bewußt, daß Wahrheit überall gefunden werden kann. Sie liegt tatsächlich, hätten wir nur Augen, um sie zu erkennen, in den Pflanzen, den Steinen, in den kreisenden Umdrehungen der Himmelssphäre wie auch in den Augen unserer Mitmenschen, wenn wir ihnen auf den Grund sehen und die Wunder dort bemerken.

Was ist dieser Berg des Verstehens? Dieser Ausdruck versinnbildlicht einen der ältesten Gedanken des menschlichen Genius. Wir können diese wundervolle Sprachfigur, diesen bildhaften Ausdruck, diese Metapher, die beschreibt, daß man den Berg der Vision besteigen sollte, in allen großen Philosophien und Religionen der Vergangenheit finden. Der Gedanke war immer der gleiche, ob man, wie die Juden, vom Berg Zions sprach, oder ob man einen anderen Ausdruck wählte. Die schönste Bezeichnung, die mir einfällt, die anschaulichste und tiefste, findet sich in den von A. Trevor Barker publizierten Mahatma-Briefen an A. P. Sinnett. Dort spricht der Mahatma vom „Turm des grenzenlosen Gedankens“, von dem aus die Wahrheit gesehen wird.

Was ist also dieser Berg des Verstehens? Zunächst ist er natürlich eine Metapher. Könnten wir, soweit es uns Menschen betrifft, darunter nicht das wundervolle Organ der menschlichen Konstitution verstehen, das Theosophen das Buddhi-Prinzip nennen, das Organ des Verstehens, der ungetrübten Wahrnehmung, der Einsicht, das Organ, mit dem die Wirklichkeit ohne Einschränkung erkannt werden kann? Dieses Organ des Verstehens für einen Menschen ist der Mensch selbst in seinem höchsten Aspekt, in seinem Bindeglied mit dem Göttlichen. Das ist der Berg des Verstehens in jedem von uns.

Die Quintessenz aller Lehren der archaischen Weisheit ist einfach folgende: wir sollen uns selbst als ein Instrument der Realität erkennen, als eines ihrer Vehikel; wir sollen uns aus den Miasmen und den Nebelschwaden und den Wolken dieser niedrigen Ebenen aufwärts und nach innen erheben, um so im Bewußtsein mit der Göttlichkeit im Inneren, mit Ātma-Buddhi, zu verschmelzen. Dann wird, wenn wir es nur wollen, alle Erkenntnis uns gehören, die gesamte Vision der Wirklichkeit wird sich vor uns ausbreiten, denn dieses Organ ist von keinem Gewand umhüllt, das seine Erkenntniskraft einschränkt. Es sieht die Wirklichkeit sozusagen von Angesicht zu Angesicht, da es mit der Wirklichkeit identisch ist. Es ist, wie gesagt, unser Bindeglied mit dem Göttlichen und schließt die Wirklichkeit, die Wahrheit, alle Weisheit, alle Liebe und alles Wissen in sich ein.

So liegt der Berg des Verstehens in unserem Inneren. Obwohl er für jeden von uns der gleiche ist, ist er dennoch in einem anderen Sinne auch für jeden von uns ein anderer. Es ist so ähnlich wie beim Pfad, der zur Wahrheit führt: er ist für alle derselbe und doch für jene, die den Pfad beschreiten, ein verschiedener. Die Pilger und der Pfad sind ein und dasselbe. Der Mensch besitzt keine andere Möglichkeit, die Wirklichkeit zu erfassen, es sei denn, er bedient sich seiner eigenen Kraft, seines eigenen inneren Organs, seines eigenen inneren Wesens. Natürlich kann er Hilfe von außen erhalten, und er erhält sie auch. Sie ist wundervoll. Es ist unsere Pflicht, Hilfe zu geben und Hilfe anzunehmen, die uns gegeben wird. Aber anzuerkennen, daß wir Hilfe empfangen, ist nur der äußere Auslöser, durch den das innere Organ des Empfängers wachgerüttelt wird. Dieses innere Organ trügt nicht und vermittelt keine physische Vision. Erinnern Sie sich der Geschichte, die in einer der philosophischen Schriften der Hindus steht: ein Mann geht in der Nacht nach Hause und sieht eine Schlange vor sich auf dem Weg. Er springt zur Seite und muß am Morgen erkennen, daß die vermeintliche Schlange nur ein Gewandgürtel war. So trügerisch sind alle unsere physischen Sinnesorgane! Der Blinde kann die Wunder der Morgendämmerung nicht sehen. Aber selbst er besitzt ein inneres Organ, das ihn befähigt, wenn er es in sich aktiviert, sich über die trügerischen Organe der physischen Wahrnehmung zu erheben und die Wirklichkeit zu sehen.

Das Buddhi-Prinzip in uns, das wir, wann immer wir wollen, benutzen können, unterliegt keiner Täuschung. Es kann weder geblendet noch in die Irre geführt werden. Seine Vision ist unmittelbar und direkt. Es befindet sich auf derselben Ebene wie die Wirklichkeit. Wenn wir die Verbindungskanäle zwischen unserem höchsten Teil und unserem Gehirnverstand öffnen, werden wir inspiriert, empfangen Erleuchtung und tauchen in ihre Tiefe. Dann werden wir den Göttern gleich.

Das also ist der Berg des Verstehens, der Vision und daher auch der Weisheit, des Wissens und der Liebe. Diese drei Attribute sind vielleicht die höchsten Qualitäten im Bewußtsein des Menschen. Sich zu verlieren in kosmischer Liebe, sich zu verlieren in der erhabenen Vision der Weisheit, sich zu verlieren in der höheren Interpretation der Vision, die Wissen ist – Religion, Philosophie, Wissenschaft, drei in einem und eine in drei; und das ist keine theologische Trinität, sondern die eine Wahrheit.

Drei Aspekte Karmas

Die Griechen hatten eine höchst interessante und in der Tat tiefgründige Weise, Karma zu beschreiben. Sie sprachen vom Schicksal, von den Römern oft als „Fatum“ bezeichnet, manchmal als von einer Einheit und manchmal als von einer Dreiheit oder von den drei Moiren; wie auch wir oft davon sprechen, daß Karma einheitlich oder dreifältig ist: aufgeteilt in die drei großen Zeitperioden Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

So wurden die drei Schicksalsgöttinnen oder die drei Spinnerinnen des Schicksals von den Alten Griechen entsprechend drei in einem und eins in drei bezeichnet als Atropos mit der Bedeutung, „das, was nicht verändert oder beiseite gesetzt werden kann“; Klotho, die Spinnerin und Lachesis „das, was uns aufgrund der Vergangenheit zustößt“.

Atropos war die Zukunft, das, was unausweichlich kommt. Sie war mit der Sonne verbunden, mystisch war sie mit unseren geistig-intellektuellen Teilen verbunden oder sie ist, wie wir sagen würden, die im Mānasaputra verkörperte Schatzkammer des Schicksals. In der Kunst wurde sie als eine Grabjungfer dargestellt, die auf eine Sonnenscheibe zeigt – und damit das bezeichnet, was im Schoße der Zeit wartet, bis die dahinziehenden Stunden es uns näher bringen.

Klotho war die Spinnerin, das, was jetzt stattfindet; das, was wir jetzt in unserem Denken und in unseren Gefühlen spinnen oder weben. Sie wurde die Gegenwart genannt und als Grabjungfer dargestellt, die eine Spindel hält und den Faden des gegenwärtigen Schicksals spinnt, das die Zukunft wird; bedeutungsmäßig wurde sie unserer psychisch-persönlichen Natur zugeordnet, die wir als unseren Verstand bezeichnen und die mystisch und historisch eng mit dem Mond verbunden ist, sozusagen mit dem Schatten der Sonne, mit der Reflexion, mit dem reflektierten Licht.

Lachesis war mit der Erde verbunden und repräsentiert die Vergangenheit, die wir jetzt ausarbeiten; in der Kunst wurde sie dargestellt als eine Grabjungfer, die einen Stab hält, der auf ein Horoskop zeigt; das, was man in der Vergangenheit aufgebaut hat, ist jetzt unser.

Atropos, die Zukunft, die Sonne, die mānasaputrische Intelligenz; Klotho, die Spinnerin, die Gegenwart, der Mond, der gegenwärtige aktive Verstand; Lachesis, die Vergangenheit, die wir jetzt auswirken, in diesem Körper, auf dieser Erde. Glauben Sie nicht auch, daß diese griechische Auffassung eine wirklich großartige Weise darstellt, Karma sowohl als Einheit wie auch als Dreiheit anzusehen? Je mehr ich über das subtile griechische Denken nachsinne, das diese Vorstellung entwickelt hat, die drei in einem und das eine in drei, desto mehr bewundere ich diese Auffassung. Karma ist durch solche Methoden in drei Schicksalswege teilbar: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, eines in Dreien.

Deshalb prädestiniert ein Mensch sich selbst, er hat dies in der Vergangenheit getan; was er jetzt auf der Erde ist, ist die Frucht: mit seinem Verstand oder lunaren Teil webt er jetzt sein Schicksal, das sich sozusagen, wenn er es entwirrt, als gesammeltes Wissen in seinem solaren Teil, in der Sonne, in der mānasaputrischen Schatzkammer des Schicksals niederläßt, um eines Tages Gegenwart zu werden und kurz danach Vergangenheit.

Wie Ostern ein christliches Fest wurde

Was ist Ostern, dieses uralte Fest? Für Theosophen ist es in der Tat eine sehr heilige Zeit, eine von den vier wichtigen heiligen Jahreszeiten. Das Wort Ostern wird nicht nur im Englischen, sondern auch in anderen Sprachen gebraucht. Ursprünglich stammte es von den Angelsachsen und wurde von diesen an die Engländer weitergegeben. In anderen Ländern gebraucht man ein aus dem Griechischen stammendes Wort oder vielmehr ein Wort, das von den Griechen aus dem alten Hebräischen entlehnt wurde. Das griechische Wort hieß πάσχα, pascha, und war vom Hebräischen תםפ חספ pesahh, abgeleitet. Es bedeutete „überschreiten“, „überspringen“ und daher auch „verschonen“. Das bezog sich auf die alte jüdische Geschichte in der Bibel, in der erzählt wird, daß zu der Zeit, als Gott der Herr die Kinder Israels aus der ägyptischen Knechtschaft führte, in der Nacht, ehe sie sich auf den Marsch begaben, der Racheengel Jehovas Ägypten heimsuchte und alle erstgeborenen Ägypter erschlug. Er verschonte nur die Häuser der Juden, weil sie von Jehova angewiesen worden waren, ein Mal von Lammblut an der Haustür anzubringen. Das ist eine sehr merkwürdige, alte Erzählung. Wie es so kommt, wurde sie von den meisten Juden und Christen wortwörtlich genommen. Sie ist in der Tat sehr dazu geeignet, Geringschätzung, wenn nicht Verachtung für etwas zu erzeugen, was im Kern wahrhaft wundervoll und von heiligem Charakter ist.

Das Passahfest übernahmen die Christen von den Juden. Sie wollten dieses jüdische Fest, das die Juden an einem bestimmten Datum feierten, jedoch nicht genauso haben. Obwohl die frühen Christen sehr viel von den Juden übernahmen, wollten sie den Dingen gern ihren eigenen Stempel aufdrücken. Sie änderten darum das Datum etwas ab, akzeptierten das jüdische Passahfest im ganzen, übernahmen es, gaben ihm jedoch ein christliches Ansehen und eine christliche Wendung. Die Juden feierten ihr Passahfest am 14. Tag oder am Vollmond ihres Monats Nīsān, ursprünglich ’Ābīb genannt. Das war in der Zeit, wenn der Frühling zur fruchtbringenden Erde zurückkehrt und die Knospen und Bäume zu sprießen beginnen. ’Ābīb bzw. Nīsān◊√ ist der erste Frühlingsmonat. Im Frühjahr nimmt ja alles einen neuen Anfang.

Die Juden feierten, wie gesagt, ihr Passahfest am Vollmondtag des Monats Nīsān, das heißt, 14 Tage nach dem Neumond. Die Christen folgten diesem Beispiel, wollten sich von dem jüdischen Festtag jedoch distanzieren. Aus Unwissenheit oder vielleicht auch aus anderen Gründen, jedenfalls nach jahrhundertelangen Diskussionen – im zweiten, dritten und vierten Jahrhundert waren sie am erbittertsten – entschieden sie sich zu folgender Regel: Ostern, die Zeit der Auferstehung unseres Herrn Jesus Christus, sollte von da an auf den ersten Sonntag fallen, der dem Vollmond nach der Frühlings-Tagundnachtgleiche folgt. Achten Sie auf die Verknüpfung mit einem uralten kosmischen Gedanken. Erst müßte also die Frühlings-Tagundnachtgleiche eintreten, dann wartete man auf den folgenden ersten Vollmond und nahm schließlich den ersten Sonntag nach diesem Vollmond, um Ostern zu feiern. Nach der ursprünglichen jüdischen und auch heidnischen Sitte wurde das Passahfest jedoch weiterhin am Vollmondtag im Monat ‘Ābīb oder Nīsān, im Frühjahr, gefeiert.

Ostern ist kein Fest, das mit einem örtlichen Ereignis zu tun hat. Es ist auch keinesfalls nur ein christliches Fest. Es ist ein Fest von kosmischer Bedeutung. Es stützt sich auf die Jahreszeiten und hauptsächlich auf das Datum der Frühlings-Tagundnachtgleiche. Hier liegt der Schlüssel zum Verständnis des ursprünglich heiligen Festes. Es hatte ganz und gar nichts mit Jesus Christus zu tun. Die frühen Christen hatten jedoch vortrefflichen Grund, dieses Datum für die sogenannte Auferstehung Christi zu wählen. Sie wußten etwas darüber, was im Allerheiligsten des Tempels stattfand. Sie wußten etwas über die vier heiligen Jahreszeiten, die, wie der große heidnische Philosoph Plato sagte, ein Kreuz in der Natur bilden. Die beiden Sonnenwenden stehen sich, genau wie die beiden Tagundnachtgleichen, im Jahresablauf gegenüber und bilden so eine Art griechisches Kreuz. Bei allen Initiationen wurde der Kandidat auf ein kreuzförmiges Lager oder Ruhebett gelegt. Auf diesem kreuzförmigen Bett ruhte er während seines Trancezustandes.

Dieses Niederlegen, der Beginn der Marter, der Prüfung, des Testes, des Kampfes, geschah zu jeder der vier heiligen Jahreszeiten am Neumondtag. Die Initiation begann immer zur Zeit des Neumonds. Fiel der Neumond mit den Tagundnachtgleichen oder einer der Sonnenwenden zusammen, dann wurde das als ein besonders heiliger Zeitpunkt betrachtet. Und das war er auch.

Kennen Sie die christliche Gepflogenheit, mit der nur wenige vertraut sind, und die von den meisten christlichen Geistlichen ignoriert wird, daß als Passionssonntag der 14 Tage vor Ostern liegende Sonntag festgelegt wurde, weil man glaubte, an diesem Tag hätte die Passion oder die Leidenszeit von Jesus Christus begonnen?

Warum wurde die Typenfigur Jesus, der große Lehrer, der Avatāra, mit dem Lamm in Verbindung gebracht und somit zweifellos mit den Lehren über den Tierkreis? Aus einem einfachen Grund: die Christen wollten ihren Lehrer auf jeden Fall mit dem von den Juden erwarteten Messias in Zusammenhang bringen. Sie konnten dies mit Erfolg und sogar mit einem Funken von Wahrheit nur dann tun, wenn sie die alten jüdischen Geschichten mit übernahmen. Die Juden feierten ihr Passahfest, indem sie ein Lamm verzehrten, das an diesem Tag getötet und im Ofen gebraten wurde. Sie verwandelten die esoterische Weisheit über die der Natur innewohnenden kosmischen Gesetze und Verfahrensweisen, wie alle anderen alten Nationen auch, in ein Ritual und eine Zeremonie.

Zeit, Dauer und das ewige Jetzt

Das Wichtigste, an das wir uns im Zusammenhang mit Zeit erinnern sollten, ist, daß es so etwas wie Zeit zwar gibt, aber nicht in einem absoluten Sinne. Was im absoluten Sinne ist, ist Dauer. Worin besteht der Unterschied zwischen Zeit und Dauer? Zeit ist, wie alle manifestierten Dinge, relativ und teilbar. Zeit untergliedert sich in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Jeder dieser drei Zeitabschnitte unterscheidet sich von den beiden anderen. Dauer ist dagegen unteilbar. Sie hat weder Vergangenheit noch Zukunft und folglich ist Gegenwart keine charakteristische Zeit. Was es jedoch gibt, wenngleich es in unserer unvollkommenen Sprache nur sehr schwer ausdrückbar ist, ist ein ewiges Jetzt. Das alles ist wirklich sehr schwer zu beschreiben, obwohl der Gedanke an sich sehr einfach zu erfassen ist.

Die Römer zum Beispiel lebten, litten, ergötzten sich, starben, stolzierten zu ihrer Zeit auf der Weltbühne herum und hatten ihren Auftritt, wie Shakespeare sagte. Jetzt sind sie verschwunden. Ihre Zeit ist zu Ende. Vom Standpunkt der Dauer aus gesehen, sind diese Römer zum augenblicklichen Zeitpunkt genauso lebendig, wie sie es damals waren, denn alles existiert innerhalb eines ewigen Jetzt. Auf die Gegenwart bezogen, können wir ein ähnliches Phänomen beobachten. Die Zukunft ist für uns ein Zeitabschnitt, der erst auf uns zukommt. Der Zeitbegriff ist in unserem Bewußtsein mit der Vorstellung von zeitlichem Abstand verknüpft. Der Grund dafür liegt darin, daß sich unser Gehirnverstand immer auf einen bestimmten Moment fixiert. Vom Standpunkt der Dauer aus gesehen, existiert die Zukunft bereits jetzt.

Wenn ich beispielsweise versuchen würde, meinen gegenwärtigen Verstand, mein augenblickliches Denkvermögen und mein gegenwärtiges Bewußtsein schlagartig in einen Zustand zu versetzen, in dem die Zeit ausgelöscht wäre, dann könnte ich die Existenz eines alten Volkes, wie das der Römer, das bereits sein Ende gefunden hat und für immer verschwunden ist, gar nicht wahrnehmen. Ich könnte nur feststellen, daß wir hier sind, und daß ich über das, was sich in der Zukunft ereignen wird, überhaupt nichts weiß. Wenn es mir jedoch gelänge, meinen Verstand, mein Denkvermögen und mein Bewußtsein in einen solchen Zustand zu versetzen, daß diese zeitmäßig eine unendliche, grenzenlose Dauer umfassen könnten, dann wären meinem Bewußtsein alle Wesen und Dinge der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft gegenwärtig. Und nicht nur das, sondern auch alles Jetzt, das sich im unendlichen Raum und innerhalb der endlosen, grenzenlosen Dauer abspielt.

Natürlich gibt es so etwas wie Zeit, aber sie ist eine Illusion, eine Māyā, das heißt, daß das Ganze für uns sehr schwer zu verstehen ist. Wir können das Wesen der Zeit nicht so, wie es notwendig wäre, begreifen. Aber das liegt nicht an der Zeit. Das ist allein unser Fehler. Unser Verständnis ist zu schwach, um ihr Wesen zu erfassen, und um zu verstehen, warum sie existiert. Wir nennen Zeit deshalb eine Māyā, eine „Illusion“. Das bedeutet nicht, daß sie etwa nicht existiert. Wenn sie das nicht täte, wäre sie keine Illusion. Sie ist etwas, das unser Verständnis täuscht, eben eine Illusion, eine Täuschung.

Newton hatte die Idee, wie man jetzt betont, daß Zeit, ebenso wie Raum und Materie, eine absolute Größe sei; und daß Zeit als absolute Größe in ständiger Bewegung sei – fließend war das Wort; sie fließt aus der Vergangenheit in die Gegenwart in die Zukunft. Die wissenschaftlich geschulten Philosophen der Gegenwart lehnen diese Idee ab. Sie behaupten, daß es gut ist, die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft als einen einfachen, bequemen Weg zu betrachten, um unsere täglichen Pflichten zu erfüllen und um das Leben um uns herum zu verstehen; aber es ist eine irreale Angelegenheit. Zeit ist keine absolute Größe. Man mag dann fragen, was ist eine absolute Größe? Sie werden sagen, es ist das Raum-Zeit-Kontinuum. Darin liegt viel Wahrheit, denn sie haben zuguter Letzt Raum und das, was wir Zeit nennen, zu einem zusammengefügt. Und beide sind das, was wir Dauer nennen. Denn Dauer ist Raum, und all ihre Manifestationen sind Zeit, in der Zeit und durch die Zeit.

Wie illusorisch Zeit für unser Verständnis ist, läßt sich für den Verstand vielfach illustrieren. Wenn wir glücklich sind, vergeht die Zeit sehr schnell. In der Kindheit verging die Zeit, je nach Gemütslage, rasend schnell oder entsetzlich langsam. Später jagt die Zeit ebenfalls davon, oder sie schleppt sich, je nachdem wie wir uns fühlen, unendlich langsam dahin. Was ist also die Zeit an sich? Sie ist eine Bewußtseinsfunktion, im vorliegenden Fall eine Funktion unseres menschlichen Bewußtseins. Dieses ist jedoch ein Attribut des Raum-Zeit-Kontinuums innerhalb der kosmischen Unendlichkeit.

Ob Sie sich nach all diesen philosophischen Erörterungen sehr viel weiser fühlen? Ich kann Ihnen noch das folgende erklären. Es gibt einen Weg, wie man sich bewußt machen kann, was Dauer per se ist, wenn das Bewußtsein außerhalb der Zeit zu stehen scheint. Das ist etwas, das man nicht beschreiben kann. Man versteht es nur solange, wie man sich in diesem Zustand befindet. Ich frage mich dennoch, wie viele Menschen schon die Erfahrung gemacht haben, in dem Augenblick zwischen Wachen und Träumen, oder kurz vor dem Einschlafen, oder vielleicht während eines Ohnmachtsanfalls oder kurz davor oder danach, wenn alle Eigenschaften der Zeit plötzlich verschwinden, und man sich nur äußerster Unermeßlichkeit und äußerster Realität und Zeitlosigkeit bewußt ist, und alles verschwunden ist, das für den Gehirnverstand erfaßbar ist; durch Intuition jedoch völlig verständlich – in die höchsten Ebenen erhoben, das heißt in reines, unverfälschtes Bewußtsein des Geistes, in dem alle Weisheit und Vision enthalten ist – ist das, was die Hindu-Yogis meinen, wenn sie über Sambuddhi-Samādhi sprechen, oder einfach über Samādhi. Wenn das Bewußtsein in diesem Zustand fixiert ist, sprechen die Buddhisten von Nirvana. Nirvana bedeutet „ausgeblasen sein“. Warum? Weil das eingetreten ist, was ich gerade beschrieben habe. Alle niederen Attribute des persönlichen Ego sind in Dunkelheit versunken, haben aufgehört, zu existieren oder wurden überwunden. Ihr Bewußtsein ist für diese Zeit mit dem Universum im Einklang. Sie nehmen in Ihrem Bewußtsein keine Bewegung und keinen Wechsel von Dingen wahr, kombiniert mit dem psychologischen Phänomen von Attributen, wodurch sonst die Wahrnehmung und Einteilung von Zeit entsteht. Jede Wahrnehmung der vorbeiziehenden Ereignisse ist erloschen. Das Bewußtsein hat sich über alle Ereignisse, die mit der Manifestation zu tun haben, erhoben und verweilt allein bei der Wahrnehmung zeitloser Dauer.

Als Illustration, wie illusorisch Zeit ist, – erinnern Sie sich bitte, daß mit der Bezeichnung Illusion nicht behauptet wird, daß sie etwa nicht existiert, man könnte sonst überhaupt nicht über sie argumentieren – möchte ich mich an jene unter Ihnen wenden, die ihre Träume beobachtet haben, ganz gleich, ob diese äußerst lebendig oder nur schwach ausgeprägt waren. Sie werden mir bestätigen, auf wie kuriose Weise sich Zeit und die mit ihr verbundenen Phänomene in diesen Träumen verändern können. In der Psychologie ist es allgemein bekannt, daß sich in Träumen oder unter dem Einfluß einer Droge die Erlebnisse eines ganzen Lebens auf einige wenige Momente verdichten können. Aber auch das Umgekehrte kann passieren: Ereignisse, die sich im Wachzustand, unter normalen Lebensumständen, innerhalb weniger Augenblicke abspielen, können in solchen anomalen Traumsituationen so auseinandergezogen erscheinen, als ob sie Jahre dauerten. Es ist dasselbe Bewußtsein, das diese außergewöhnlichen Visionen zuläßt. „Zeit“ scheint in jedem dieser Zustände wie auch im normalen Jāgrata oder Wachzustand dem damit beschäftigten Bewußtsein genauso „real“ zu sein wie zu jedem anderen Zeitpunkt eine andere Erfahrung.

Der reflektierende Verstand schließt aus diesen Tatsachen schnell, daß es allein das wahrnehmende Bewußtsein ist, das in Wirklichkeit die Zeitvorstellung erzeugt. Es webt die Zeitempfindung aus dem Stoff zeitloser Dauer, die in einem sehr wahren Sinn mit der Essenz des Bewußtseins identisch ist. Es wird manchmal gesagt, daß ein Ertrinkender, den man wieder ins Leben zurückrufen konnte, alle Ereignisse seines Lebens in einem unendlich raschen Überblick vor seinem Bewußtsein vorbeiziehen sieht. Der gesamte Ablauf aller Ereignisse, die Jahre bedurften, zieht nun vor den Augen des wahrnehmenden Bewußtseins in rasend kurzer Zeit wie ein Blitz vorüber, und der Wahrnehmende weiß, daß nichts ausgelassen wurde.

Zeit verhält sich also zu Dauer wie Ausdehnung zu Raum. Zeit ist genauso ein Phänomen der Dauer, wie Ausdehnung ein Phänomen des Raumes ist. In beiden Fällen sind Dauer und Raum das Wirkliche, die Noumena, und Zeit und Ausdehnung die Phänomene, die Illusion, die Māyā.

Bedenken Sie auch, daß es kollektive Formen von Māyā gibt. Eine solche ist es zum Beispiel, wenn die Menschen es als selbstverständlich annehmen, alle Menschen auf der Erde hätten dasselbe Zeitbewußtsein hinsichtlich Tag und Nacht oder wenn sich bei einer Gruppe von Leuten, die ein Theater besucht, an einem Picknick teilnimmt, in einem Zug fährt oder gemeinsam eine Woche am Meer verbringt, ein gleiches Zeitgefühl dafür einstellt, wie lange etwa eine Stunde dauert.

Der Weg der Natur nach dem Tod

Ich glaube, daß es unmöglich ist, zwischen Verstorbenen und den auf der Erde Zurückgebliebenen irgendeine schriftliche oder mündliche Kommunikation herzustellen. Es gibt dafür Tausende von Gründen, Gründe, die auf den Harmoniegesetzen der Natur beruhen.

Eine einzige Ausnahme gibt es von dieser Regel: sie betrifft Sterbende oder Menschen, die gerade gestorben sind. Ein im Bewußtsein eines Sterbenden vorhandener Gedanke kann eine machtvolle, magnetische und intellektuelle Kraft entwickeln. Er kann sich durch die unsichtbaren Wellen des Äthers schwingen und jemanden erreichen, der ihn aufgreift. Dabei kann es geschehen, daß der Sterbende versucht, sich durch eine Art Erscheinung, durch eine leuchtende Gestalt demjenigen verständlich zu machen, an den er denkt. Manchmal springt der Gedanke über, meistens jedoch nicht. Dies sind die einzigen Gelegenheiten, in denen sich ein Sterbender oder ein gerade Verstorbener mit Worten oder schriftlich an die Hinterbliebenen wenden kann.

Die Spiritisten haben in einem Zeitraum von weniger als hundert Jahren ihre verschiedenen Ideen entwickelt. Sie selbst versuchten damit zurechtzukommen, und eine eigene Philosophie aus den Botschaften zu gestalten, die sie von ihren toten Freunden zu erhalten glaubten; und die Widersprüche dabei waren äußerst zahlreich. Diese Widersprüche beweisen uns, daß wir keiner Offenbarung in Gestalt solcher Mittel von außen teilhaftig werden. Andererseits erzählt und lehrt die gesamte Menschheit, ob zivilisiert oder unzivilisiert, seit undenklichen Zeiten, das genaue Gegenteil dessen, was unsere Brüder, die Spiritisten, zu verstehen und mit den wenigen Fakten zu erklären versuchten, die sie haben. Alle großen Menschen des Altertums, ganz gleich, aus welcher Gedankenrichtung oder aus welchem Kulturbereich sie kamen, nannten die Kommunikation zwischen den Lebenden und den Verstorbenen stets Nekromantie. Sie konnten die dabei auftretenden Vorgänge erklären und zögerten nie, die Praxis der Nekromantie zu verdammen. Ich möchte diese Dinge nicht überbetonen. Gewisse geschichtliche Tatsachen sollte man sich jedoch ins Gedächtnis zurückrufen.

Wurde durch diese Offenbarungen, diese Nachrichten oder Mitteilungen eine wissenschaftliche, religiöse oder philosophische Wahrheit verkündet? Sehen Sie sich diese sogenannten Nachrichten doch einmal näher an. Von wenigen Beispielen abgesehen, offenbaren sie, höflich ausgedrückt, nichts als leutseliges, dummes Geschwätz: „Lieber Vater, liebe Frau, liebe Tochter, lieber Sohn! Mir geht es gut, ich bin im Geisterland. Mein Führer teilt mir mit, daß Ihr wartet. Habt bitte keine Sorgen. Übermittelt der kleinen Janie meine Liebe. Ich muß jetzt gehen. Mehr nächstes Mal.“

Welch grenzenloses Pathos liegt in solchen Dingen. Wir sollten die Spiritisten nicht verdammen, wenn sie an so etwas glauben. Ihre Herzen hungern nach einem Beweis für die Kunde aus dem Jenseits, wie sie es nennen. Unser Standpunkt, Brüder, ist folgender: das Einzige, das Sie überzeugen darf, daß Sie auf etwas Wahres in der Natur gestoßen sind, ist Ihr Verstand, eine erdrückende Beweislast und die innere Überzeugung. Anders gesagt, Fakten und keine Theorien.

Es ist natürlich richtig, das ernsthafte Zeugnis eines Einzelnen zu akzeptieren. Was dieser zu sagen hat, wenn er es ehrlich meint, sollte durchaus Gewicht haben. Ich weiß, daß an den Gerichtshöfen das Zeugnis eines ehrlichen Menschen immer Anerkennung findet. Zwei solche Zeugnisse sind selbstverständlich überzeugender. Drei solche Zeugnisse scheinen fast erdrückend zu sein. Wenn wir jedoch diese zwei, drei oder vier Zeugnisse gegen das aufwiegen, was die gesamte Menschheit seit undenklichen Zeiten untrüglich beobachtet hat, müssen wir dann dem Zeugnis der größten Denker, die je in der Vergangenheit lebten, oder dem der bedeutendsten Vertreter der Gegenwart nicht mindestens genauso viel Gewicht beimessen, wie wir bereit sind, den wenigen Enthusiasten, wie ehrenhaft sie auch sein mögen, einzuräumen? Enthusiasmus und Ergebenheit in eine Sache ist noch lange keine Gewähr für Wahrheit. Sie meinen es ehrlich, aber was sie sagen, entspricht nicht der Wahrheit.

Lassen Sie uns einen Moment innehalten und die Sache von einem anderen Blickwinkel aus betrachten. Gehen wir einmal von der Voraussetzung aus, daß wir bis zur Todesstunde noch wissen, was sich auf der Erde abspielt. Und nun stellen Sie sich vor, die Natur würde den Sterbenden erlauben, alles darüber zu wissen, was sich nach ihrem Tod auf der Erde ereignet. In welcher unbarmherzigen Hölle würden sich die Verstorbenen befinden! Könnte es einen Frieden, eine Ruhe, ein Glücklichsein für sie geben, wenn sie immer die schrecklichen Verhältnisse und das Leid auf der Erde vor Augen hätten? Könnte jemand von Ihnen glücklich sterben, müde, sich nach Frieden und Ruhe sehnend, wie es die Gesetze der Natur für uns vorgesehen haben, genauso, wie sie uns in der Nacht Schlaf schenken, um den müden Körper zu erquicken – könnte jemand von uns zufrieden sterben, wenn er weiter damit belästigt wird, zu sehen, was sich in den nächsten 10, 20 oder 50 Jahren auf der Erde ereignet? Solche Fehler macht die Natur nicht. Sie behandelt ihre Kinder nicht in einer solchen Weise. Selbst wenn sie uns wegen unserer Fehler und falschen Verhaltensweisen krank werden läßt, schenkt sie den Körpernerven oft, vielleicht immer, nur ein dumpfes Gefühl, so daß der beruhigende Balsam des Vergessens in das Herz des Leidenden eingeht. Die Natur ist auf Harmonie und Mitleid begründet. Wenn wir sterben, erwartet uns völlige Bewußtlosigkeit, vollständige, barmherzige Bewußtlosigkeit. Es ist kein schmerzlicher Vorgang. Der Vorgang des Todes gleicht einem Einsinken in tiefe Bewußtlosigkeit und einem Hinübergehen in einen vorübergehenden, völlig traumlosen Schlafzustand. Dann kommt für den Durchschnittsmenschen der Augenblick – ich spreche jetzt nicht von Ausnahmefällen, wie sie auf besonders gute oder besonders böse Menschen zutreffen, ich beziehe mich auf die vielen Millionen Durchschnittsmenschen – in dem das Bewußtsein gewahr wird, daß es, wie wir sagen, in Devachan erwacht, in einem Zustand unaussprechlichen Glücks und unaussprechlicher Seligkeit. Devachan ist, wenn Sie es so bezeichnen wollen, ein Traum. Aber es ist ein Traum, der das ganze Wesen erfaßt, das müde Gemüt und das müde Herz. Er läßt alles zur Ruhe kommen und schenkt neue Kräfte.

Was ist dieses Devachan? Es ist das Erblühen der Aktivität all der schönen und lieblichen Dinge, die wir auf Erden in unseren Gedanken geschaffen haben, und für die wir keine Ausdrucksmöglichkeit gefunden haben. Wenn der Körper stirbt, erinnert sich die befreite Seele automatisch, und setzt diese lieblichen Ideale und Sehnsüchte in Bewegung, alles, was erhaben, schön und edel war, und der Verstand verweilt bei ihnen; und er erfährt Friede, Segen, Glück und Ruhe. Alles Leid und aller Schrecken der niedrigeren Ebenen sind vergessen.

Die Natur kümmert sich um ihre Kinder besser als wir, unendlich sorgfältiger und liebevoller als die hingebungsvollsten Eltern, die wissen, wie sie für ihre Kinder sorgen, wie sie ihre Kleinen beschützen müssen. Bezweifeln Sie das? Dann möchte ich Ihnen eine Frage stellen. Erkennen Sie, daß Sie in diesem Augenblick und während Ihres ganzen Lebens von den bösartigsten Krankheitserregern umgeben sind, die Sie sofort töten würden, wenn nicht ein Schutzmechanismus in Ihrem Körper tätig wäre? Wer veranlaßt das? Mutter Natur. Sie wissen es nicht, aber die Natur beschützt Sie gegen Gefahr, deren Sie sich gar nicht bewußt sind; und es ist nur des Menschen eigener Wahnsinn, seine Schlechtigkeit, mitunter die Boshaftigkeit seines Herzens, seine eigene Schwäche, die die Höllen auf der Erde, die wir kennen, erschaffen. Sie sind kein Werk der Natur. Jeder, der versucht, sich seiner moralischen Verantwortung zu entziehen und vorgibt, daß er nur in Übereinstimmung mit der Natur so handelt, weiß in seinem Herzen, daß er lügt. Er selbst ist der Bösewicht. Die Natur beschützt uns, wenn wir es ihr erlauben; und sie beschützt uns wie Eltern, die ihr Kind vor seiner eigenen Unerfahrenheit zu schützen suchen. Die Natur, regiert vom göttlichen Gesetz, versucht sogar, die Körper, die wir beständig unbarmherzig und manchmal sogar mit gieriger Wollust mit Dingen, die Krankheiten nach sich ziehen, schwächen und verderben, wieder zu heilen. Die Natur heilt, vergibt und gibt uns immer wieder eine neue Chance. Sie hält unsere Körper, geschwächt wie sie vielleicht sind, am Leben und schenkt ihnen Heilung. Welcher Schaden auch immer verursacht wurde, er wurde von uns verursacht.

Das Herz der Natur besteht aus grenzenloser Liebe, unendlichem Mitleid und vollständiger Harmonie. Beispiele dafür können wir zu jeder Zeit rings um uns wahrnehmen. Die Natur kümmert sich um ihre Kinder. Sie gibt ihnen Hilfe und beschützt sie. Der Kummer mit uns ist, daß wir uns ständig mit unserer Mutter anlegen. Dabei ist sie die mitleidsvollste und weiseste Mutter, die die menschliche Rasse überhaupt haben kann. Die daraus zu ziehende Lehre kann nur sein: helfen Sie der Natur und arbeiten Sie mit ihr zusammen. Dann wird sie Sie als einen Ihrer Meister betrachten und Ihnen gehorchen.

Wein als mystisches Symbol

Unter vielen Völkern wurde Wein und das Weintrinken als mystisches Symbol benutzt. Wenn wir dieses eine Faktum verstehen, werden wir viele ansonsten unerklärliche Situationen im Leben großer Okkultisten verstehen. Nehmen Sie zum Beispiel den Vorwurf der Trunksucht, den man gegen Paracelsus erhob. Jemand, der vorgibt, ein Okkultist zu sein und trinkt, ist keiner. Das weiß man, seit es denkende Menschen gibt. Niemand hat bewiesen, daß Paracelsus jemals trank oder sich in Tavernen und Spelunken herumtrieb. Haben sich die Gelehrten je überlegt, daß es weise sein könnte, die damit verbundenen Ideen einmal zusammenzutragen, bevor sie irgendwelche Anschuldigungen dieser Art erheben? In der ganzen Welt war es bei den Mystikern eine übliche Gewohnheit, vom Wein oder vom Geist des Weines zu sprechen, wenn man Gott meinte. Selbst heute noch zeigt das Wort „Spirituosen“, eine Bezeichnung für alkoholische Getränke, den Hintergrund der ursprünglichen Idee, denn es enthält den Wortteil „Spirit“ und der bedeutet „Geist“. Das hat nichts damit zu tun, daß alkoholische Getränke etwa gut wären. Da sich im Traubensaft Alkohol entwickeln kann, der sich als entzündbarer und entflammbarer „Geist“, wie die mittelalterlichen Menschen sagten, als Dampf ausscheiden läßt, sagten sich die idealistischen Philosophen, daß man mit dem damit verbundenen Ideenkomplex sehr gut eine Parallele herstellen könnte. Sie betrachteten daher den Wein als ein ausgezeichnetes Symbol für den Geist und sprachen vom Wein Gottes, vom Wein des Lebens.

In der christlichen Kirche gibt es die Kommunion, das Abendmahl. Wird nicht dort der Wein als Kennzeichen des Blutes ihres Heilands betrachtet? Das ist nicht mehr eine bloße Theorie; die lateinische Phrase lautet vere et realiter [d. h. wirklich und wahrhaftig, der Übersetzer]. Die Idee ist natürlich eine Glaubenssache, und dennoch steckt ein großartiger und wundervoller Gedanke dahinter – dieses Teilhaben am Wein in der Verbundenheit des Geistes war die Teilnahme am Geist Christi. Und das war die ursprüngliche Idee der sogenannten heidnischen Griechen bei ihrer mystischen Kommunion in den Bacchusriten.

Gibt es nicht auch eine ähnliche Vorstellung bei den Sufis? Sie gehören zu den mystischsten Völkern der Erde, die das Symbol des Weinkrugs, des fließenden Weines, des fließenden Bechers, als Symbol der Fülle des Herzens betrachteten, das erleuchtet wurde, das mit dem Licht des Geistes erfüllt wurde. War ein Mensch mit dem Göttlichen in seinem Herzen in Gemeinschaft, dann sagten sie, er wäre trunken von Gott, trunken von Geist. Das war eine andere Bezeichnung für jemanden, der innerlich erleuchtet war. Beachten Sie aber, wie man wundervolle Gedanken degradieren kann. Je schöner die Gedanken sind, desto mehr kann man sie entwürdigen!

Die Vierzeiler von Omar Khayyam können jedem klarmachen, was die Sufis meinten, wenn sie von Tavernen, Spelunken und überfließenden Weinkrügen schrieben. Von den Sufis war allgemein bekannt, daß sie keinen Alkohol tranken. Die Orthodoxen unter ihnen rührten höchst wahrscheinlich niemals Alkohol auch nur an. Und dennoch ist ihre Poesie von dem eben erwähnten Gedanken erfüllt, um ihn zu verschleiern, um ihn unschuldig erscheinen zu lassen, wenn Gefahr im Verzug war. Es war die Art, in der die verfolgten Mystiker vertrauensvoll miteinander sprachen.

Die vier Yugas

Zyklen sollten jeden intelligenten Menschen interessieren, denn sie sind ein Ausdruck dessen, wie die Natur funktioniert. Sie sind nichts Wesensfremdes, nichts, was dem Universum von einer außerkosmischen Macht aufgezwungen worden wäre, denn das Universum ist unendlich und durch seine evolutionäre Entfaltung im ewigen Wechsel begriffen. Weil das so ist, muß es die innewohnenden göttlichen Kräfte, welche die gesamten unsichtbaren Bereiche des Universums repräsentieren, vollständig zum Ausdruck bringen. Genauso wie es im Kleinen ist, z. B. beim menschlichen Körper, der nur der äußere und sichtbare Ausdruck dafür ist, daß eine innere, spirituelle Wesenheit am Werk ist, genauso ist es auch in der Natur. Der Mensch kopiert die Natur im Kleinen. Etwas anderes könnte er gar nicht tun, denn es gibt nur ein einziges fundamentales Gesetz, eine einzige fundamentale kosmische Vernunft und einen einzigen fundamentalen kosmischen Plan. Deshalb muß jede Wesenheit im kosmischen Ganzen, sei sie klein oder groß, genauso funktionieren wie der gesamte Kosmos und zwar hinsichtlich ihrer Handlungsweise, ihrer Substanz und ihrem Plan.

Daher sind die Zyklen, denen die kosmischen Körper gehorchen, die Himmelskörper, die Sonnen, Planeten, Kometen oder Nebel, nur die gewaltigen Auswirkungen der kosmischen Gesetze, denen auch kleinere Lebensformen, wie groß und bedeutend sie auch immer sein mögen, unterworfen sind, wobei die kleineren Zyklen die großen genau kopieren. Alle Zyklen sind dem kosmischen Gesetz unterworfen, folgen ihm, folgen seinem Tätigkeitsschema und folgen dem kosmischen Plan. Sie können nicht daraus ausbrechen. Wenn sie es tun würden, würden sie einem Schema folgen, das dem kosmischen Plan, der kosmischen Intelligenz und den kosmischen Kraftströmen entgegenlaufen würde; und das ist unmöglich.

Zyklen sind daher nur kleinere Wiederholungen von Vorgängen, die sich auf einer göttlichen Ebene abspielen. Zu fragen, ob es die Zyklen sind, welche die Evolution auslösen, oder ob die Zyklen erst eine Folge der Evolution sind, bedeutet nur, den Blickwinkel zu verschieben. Beides stimmt. Zyklen zeigen lediglich, wie die Natur funktioniert. Sie sind daher gleichzeitig Ursache und Wirkung. Man kann die Kette der Natur nicht unterbrechen, man kann die Kette des Schicksals nicht unterbrechen. Die vorausgehende Ursache löst eine Wirkung, eine Konsequenz aus, die dazu im entsprechenden Verhältnis steht. Diese Wirkung ihrerseits ist auch nur ein Glied in der kosmischen Lebenskette und erweist sich in der Folge als die Ursache für eine neue, weitere Wirkung und so geht es unaufhörlich weiter. Diese Abfolge von Ursachen und Wirkungen ist die Verfahrensweise der Natur, ihre Arbeitsweise. Eine andere Methode ist unvorstellbar. Ziehen Sie in Ihrem Denken deshalb die naheliegende und unvermeidliche Schlußfolgerung und logische Konsequenz daraus. Diese kann nicht anders lauten als: alles ist zyklisch. Wenn wir deshalb von der Lehre der Zyklen sprechen, sagen wir nichts Neues, von dem niemand vorher je gehört hätte. Wir zeigen einfach ein Faktum der Natur, ein kosmisches Faktum. Beobachten Sie den Verlauf von Fieberanfällen, Krankheiten, Epidemien, beobachten Sie die kontinuierlichen Umdrehungen der Sonne und der Planeten, die zyklischen und regelmäßig aufeinanderfolgenden Bewegungen überall in der Natur: Tag und Nacht, Sommer und Winter, Kälte und Hitze, Nässe und Trockenheit.

In einem gewissen Sinn würde ich auch sagen, daß Zyklen nicht nur die Funktionsweise der Mutter Natur sind, sondern von einem etwas anderen Blickwinkel aus sind sie Evolution, der Weg, wie dieses sonderbare Gesetz arbeitet, das wir den evolutionären Fortschritt zu immer größerer Vervollkommnung nennen.

Die alten Hindus hatten eine Überlieferung, wonach jedes große Zeitalter oder jede große Wurzelrasse vier Zyklen durchläuft, bzw. aus vier kleineren Zeitaltern zusammengesetzt ist. Das erste dieser Zeitalter nannten sie Satya – ein Sanskritwort mit der Bedeutung „Wahrheit“. Sie wollten damit zum Ausdruck bringen, daß in diesem zyklischen Zeitabschnitt die Wahrheit sozusagen auf vier Beinen ruht. Den nächsten Zeitabschnitt, das zweite Zeitalter, nannten sie TretāYuga. Tretā bedeutet „das Dritte“, wenn man vom letzten Zeitalter aus vorwärts zählt. Man sagte, in diesem Zeitalter stünde die Wahrheit nur noch auf drei Beinen. Nicht, daß das vierte Bein, symbolisch gesprochen, verschwunden wäre, aber die Hindus sagten, daß man in einer gewissen Weise vergessen hatte, wie es zu gebrauchen wäre. Es schien an Muskelschwund zu leiden, zeigte Lähmungserscheinungen und erwies sich zeitweilig als nutzlos. Es war also nicht gänzlich unbrauchbar, aber doch zum überwiegenden Teil. Das dritte Zeitalter nannte man Dvāpara Yuga. Dvāpara bedeutet „das Zweite“, vom letzten Zeitalter aus vorwärts gezählt. In ihm, so sagte man, steht die Wahrheit nur noch auf zwei Beinen. Die anderen beiden sind zu einem großen Teil jetzt nicht mehr funktionsfähig. Im vierten Zeitalter, im gegenwärtigen, dem Kali Yuga, dem Eisernen oder „Dunklen“ Zeitalter, hüpft die Wahrheit, im übertragenen Sinne, nur noch auf einem Bein. Das bedeutet nicht, daß die anderen drei Beine nicht mehr da wären. Man hat nur größtenteils vergessen, wie sie zu gebrauchen sind.

Die Bedeutung dieser sehr interessanten Hindu-Parabel ist sehr einleuchtend: In der Natur existieren vier Grundeigenschaften, vier Grundprinzipien. Eigentlich sind es sieben, aber in der gegenwärtigen Evolutionsperiode sind bei uns lediglich vier entwickelt, da wir uns erst in der sogenannten vierten Runde befinden. Diese vier genannten Zeitalter stehen für die spirituelle, intellektuelle, psychische und physische Seite der Natur, für ihr vierfaches inneres Gerüst. Diese Seiten sind sozusagen die vier Beine, auf denen die Wahrheit beruht. Das besondere Kennzeichen des ersten Zeitalters ist Spiritualität. Die anderen drei Grundprinzipien funktionieren unter ihrer Führung. Im zweiten Zeitalter ist die Spiritualität zwar noch spürbar, hat aber deutlich an Einfluß eingebüßt. Dafür ist der Intellekt jetzt das dominierende Element, ohne jedoch die anderen drei Grundprinzipien gänzlich zu unterdrücken. Im dritten Zeitalter sind im Menschen und in der Natur vor allem die psychischen Instinkte dominierend. Natürlich spielen die spirituellen und intellektuellen Bereiche auch noch eine Rolle, aber die Menschen betrachten diese nicht mehr als die dominierende Kraft in ihrem Leben. Wenn die Menschheit ins vierte Zeitalter, ins Kali Yuga eintritt – wir befinden uns gerade darin – und die Wahrheit nur noch auf einem Bein steht, dann legt sie allen Angelegenheiten eine besondere Bedeutung bei, die mit rein materiellen Dingen zu tun haben. Das verbleibende Bein ist ein Symbol für die Wertschätzung aller Dinge, die mit der physischen Seite der Natur verknüpft sind. Obwohl wir fühlen, daß spirituelle Elemente in uns vorhanden sind und unser intellektueller und psychischer Apparat funktioniert, lassen wir diesen Teilen unserer Konstitution nicht die Vorherrschaft. Statt sie zu den dominierenden Kräften in unserem Leben werden zu lassen, bleiben sie für uns wie Traumgebilde. Nur in unseren höchsten Idealen sind sie lebendig. Dafür interessieren uns nur materielle Dinge. Was mit diesen, mit der Ausübung von Macht, von Gewalt und Gewalttätigkeit zu tun hat, das allein ist im Mittelpunkt unseres Interesses. Wahrlich, die Wahrheit steht nur noch auf einem Bein.

Wenn dieser Zyklus endet, wird ein neuer beginnen. Für die Zeit, die der neue Zyklus dauert, wird die Erkenntnis der Wahrheit wieder die dominierende Kraft in unserem Leben sein. Die Menschen werden dann hauptsächlich im Einklang mit spiritueller Anziehungskraft handeln, denken und fühlen.