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Der Wind des Geistes

Nach dem Tode bist Du – Du selbst

Ich hoffe, daß die Zeit kommt, wo wir mehr Gewicht als bisher auf die Lehren legen werden, die sich mit den Vorgängen nach dem Tode befassen. Der Durchschnittsmensch ist heute anscheinend weniger unmoralisch als vielmehr amoralisch, das heißt, er scheint größtenteils den Sinn für moralische Verantwortung verloren zu haben. Wenn die Menschen erkennen könnten, was mit ihnen nach dem Tode geschehen wird, würde in ihnen ein gewisser Sinn für das notwendige Benehmen oder Verhalten geweckt.

Wir wollen versuchen, die alte Weisheitslehre für die Menschheit wiederherzustellen: So wie Du lebst, wirst Du nach dem Tode sein. Es ist eine einfache Lehre, und sie ist so logisch, sie wendet sich an uns. Einige mögen anfänglich darüber verstimmt sein, sie mag ihnen nicht gefallen; aber es liegt eine Idee darin, die wegen ihrer Logik, wegen ihrer Gerechtigkeit schließlich im Bewußtsein Wurzeln schlagen wird.

Wer Kāma-Loka und Devachan verstehen will, der studiere sich selbst jetzt, und er wird wissen, was er bekommen wird. Genau das. Sie werden die Fortsetzungen dessen sein, was Sie jetzt sind. Was wird einem Menschen zustoßen, der sich dem Laster hingibt? Er erntet die Folgen seiner Missetaten. Er lernt daraus die Lektionen, die dem Leiden entspringen. Wenn ein Mensch sein Gemüt mit rohen Gedanken und bösen Träumen anfüllt, dann wird er dadurch für lange Zeit durch Leiden lernen, denn die Wirkungen und Folgen für seinen Geist und Charakter ergeben sich unmittelbar. Er leidet, er empfindet Qualen, er zahlt die Strafe, er hat sein inneres System vergiftet, und er wird erst Frieden finden, wenn sich das Gift selbst herausgearbeitet hat, wenn er sich neugestaltet, das heißt, neugeformt hat. Dann wird er wieder Frieden haben, dann wird er wieder in Ruhe schlafen können.

Studieren Sie sich selbst in Ihrem täglichen Bewußtseinszustand; und studieren Sie auch die Art Ihrer Träume. Warum stehen beide in Zusammenhang? Weil Ihre Träume aus Ihrem eigenen Denken stammen und daher ein Teil Ihres eigenen Bewußtseins sind. Ein Mensch hat in seinen wachen Stunden böse Träume, üble Gedanken; wenn er schläft, hat er Alpträume. Er lernt daraus während des Schlafens, aber er wird im Schlaf sicher keine himmlischen Träume haben, denn er hat sein Denken mit gräßlichen, haßerfüllten, niedrigen und erniedrigenden Gedanken erfüllt. Er hat keine himmlischen Substanzen gebildet.

Das ist die Antwort: Kāma-Loka ist einfach ein Bewußtseinszustand, in den das Bewußtsein des Menschen nach dem Tode eintritt, weil er während seines Lebens bestrebt war, diese Art von Bewußtsein zu bilden. Kāma-Loka wirkt sich selbst aus, und dann erhebt er sich oder sinkt er in sein entsprechendes Schicksal: in ein schwaches Devachan, oder in überhaupt kein Devachan, seinem Wesen entsprechend. Mit anderen Worten: Wenn er sich den Charakter X geschaffen hat, wird er nach dem Tode den Charakter X haben, welcher Art er auch sei. Er wird nicht den Charakter Y oder Z oder A oder B haben. Umgekehrt wird ein Mensch, der sich während seines Lebens stets im Zaume hielt, der Selbstkontrolle übte und hochherzig lebte, genau das gleiche Gesetz erfahren: Sein nachtodlicher Zustand in Kāma-Loka wird unbewußt sein, oder nahezu unbewußt, weil er in seinem Innern keine Neigungen für Kāma-Loka entwickelt hat. Wahrscheinlich wird er ein glückseliges Devachan erleben.

Angenommen, ein Mensch hat überhaupt keinen ausgeprägten Charakter, er ist weder besonders gut noch besonders schlecht. Welcher Art wird sein Zustand nach dem Tode sein? Er wird ein farbloses Kāma-Loka haben, nichts besonders Schlechtes; und er wird ein farbloses Devachan haben, nichts besonders Schönes oder Segensreiches. Es wird alles wie eine Art verschwommener, ungreifbarer Traum sein. Es wird belanglos sein, und folglich wird alles belanglos sein, nachdem er gestorben ist.

Oder nehmen Sie den Fall eines jungen Menschen auf schlechten Wegen, der sich – sagen wir – in mittlerem Alter ändert und den Rest seines Lebens tugendhafte Taten vollbringt und an seiner Vervollkommnung arbeitet. Wie wird sein Schicksal in den zukünftigen Welten sein? Wie ich Ihnen zuvor sagte, sind Kāma-Loka und Devachan einfach eine Fortsetzung dessen, was der Mensch ist, wenn er stirbt. So hat folglich ein schlechter, junger Mensch, der sich zu einem guten, alten Menschen wandelt, praktisch überhaupt kein Kāma-Loka widriger Art. Er wird bis zum letzten Heller für jede schlechte Tat, die er in der Jugend beging, zu zahlen haben – aber in seinem künftigen Leben. Seine schlechten Taten sind dort Gedanken-Samen. Doch da er sich im mittleren Alter besserte und ein reines, sauberes Leben als anständiger Mensch führte, wird sein Kāma-Loka sehr mild sein, weil es einfach eine Fortsetzung dessen sein wird, was er bei seinem Tode war, und das Devachan wird entsprechend ausfallen.

Man kann auch schon vor Eintritt des Todes im Kāma-Loka und im Devachan sein; ja, man kann sich während der Verkörperung sogar im Avíchi-Zustand befinden. Aus dieser Tatsache sollten wir eine sehr wichtige Folgerung ziehen: Wenn wir als verkörperte Männer und Frauen Kāma-Loka erleben können, werden wir es auch nach dem Tod durchlaufen; und nach genau dem gleichen Gesetz werden wir, wenn wir während unserer Verkörperung geistige Bestrebungen, Träume spiritueller Art oder spirituellen Gepräges und Charakters haben, das Devachan nach dem Tode durchleben. Um es zu wiederholen: Kāma-Loka ist eine Weiterführung oder Fortsetzung dessen, was Sie während Ihres Lebens gewesen sind, und zwar bis es sich ausgewirkt hat. Wenn Sie Ihr Denken, Ihren Geist und Ihr Herz an Dinge hängen, die Ihnen Schmerz bringen, die Ihnen Leiden schaffen, weil Sie selbstsüchtig sind und halsstarrig aus Stolz und Egoismus, dann werden Sie nach dem Tode mit Sicherheit den gleichen Bewußtseinstendenzen folgen. Es kann nicht anders sein. Sie sind einfach Sie selbst. Daher sind Devachan und Kāma-Loka die Weiterführungen oder Fortsetzungen der jeweils entsprechenden gleichen Bewußtseinszustände, die Sie auf der Erde durchlaufen haben – mit diesem einen Unterschied: daß Sie, mit dem Verlassen des Körpers, der zugleich eine Blende und ein Schutzschild ist, ähnlich einem Gedanken sind – ähnlich einem bloßen Gedanken. Und wenn Ihr Denken während des Lebens bei schrecklichen Dingen verweilte oder wenn Sie während Ihrer Verkörperung Ihrem Denken gestattet haben, in diese Richtungen zu gehen, dann wird der Makel nicht von Ihnen abgewaschen werden, nur weil Sie den Körper abgelegt haben. Ihr Denken, das Sie selbst sind, wird fortdauern, und Sie werden durch Kāma-Loka hindurchgehen und jene Phase des Denkens erschöpfen müssen. Es wird absterben müssen, so wie ein Feuer abbrennen muß.

Gleichermaßen, in der Tat genauso, werden Sie, wenn Sie im Leben schöne Gedanken, großartige Gedanken, erhabene Gedanken gehegt haben, nach dem Ablegen Ihres Körpers gewiß das gleiche im Devachan erleben, nur tausendfach stärker, weil der Körper nicht mehr behindert. Wenn Sie also wissen wollen, was Ihr Schicksal nach dem Tode bringen wird, so studieren Sie sich jetzt selbst und lassen Sie sich warnen. Es gibt eine sehr wichtige und zutreffende Lehre, die wir aus dieser Tatsache ziehen können, gerade aus dieser Tatsache. Sie können jetzt Ihren Zustand nach dem Tode so gestalten, wie Sie ihn haben wollen, ehe es zu spät ist. Nichts im Universum kann verhindern, daß Ihnen die Glückseligkeit des Devachan zuteil wird, oder vielmehr, daß Sie sie sich selbst schaffen. Daraus folgt: nehmen Sie sich selbst in die Hand.

Das ist die Lehre von Kāma-Loka. Das ist die Lehre von Devachan. Es ist sehr einfach. Alle die verwickelten, abstrakten Fragen ergeben sich meines Erachtens weitgehend aus der Unfähigkeit, die Prinzipien der Lehren zu verstehen. Wenn Sie sich zur Ruhe legen, dann träumen Sie oder sind unbewußt. Wenn Sie sterben, träumen Sie oder sind unbewußt. Sie haben, wenn Sie in der Nacht schlafen, schlechte oder gute Träume, oder sind unbewußt. Wenn Sie sterben, werden Sie schlechte oder schöne Träume haben, oder werden unbewußt sein – alles hängt von dem einzelnen Menschen ab und von dem Leben, das er führte. Daher sind Kāma-Loka und Devachan und, in der Tat, Avíchi nicht Dinge, die Ihnen plötzlich begegnen werden, wenn Sie sterben; vielmehr wird Ihr Bewußtsein, weil es während Ihrer Verkörperung von bestimmter Art war – auf die eine oder andere Art – fortdauern, nachdem Sie gestorben sind.

Hier erkennt man die Bedeutung der Ethik, und warum alle großen Weisen und Seher zu jeder Zeit versucht haben, die Menschen zu lehren, ihre Gedanken zu vergeistigen, ihre Gedanken zu veredeln, ein Leben aus dem Herzen zu führen, und die Dinge abzulegen, die böse und schlecht sind. Das Devachan wartet nicht auf Sie; Kāma-Loka wartet nicht auf Sie – ich meine im Sinne von absoluten, im Moment völlig von Ihnen getrennten Zuständen. Wenn Sie sie im Leben erfuhren, werden Sie sie nach dem Tode erfahren. Der Mensch, der keine haßvollen, widerwilligen, abscheulichen oder giftigen Gedanken gegenüber einem anderen hegte, mit anderen Worten: dessen Herz und Geist nie Niststätten des Bösen waren, wird weder im Leben noch nach dem Tode ein Avíchi durchlaufen und auch kein unglückliches Kāma-Loka im Leben oder nach dem Tode. Ihm wird ein wundervolles Devachan zuteilwerden, und er wird erfrischt, gekräftigt, gestärkt und erneuert zurückkehren, um ein neues Leben mit allen günstigen Voraussetzungen zu beginnen.

Nach dem Tode sind Sie weiterhin genau das, was Sie sind, wenn Sie sterben. Das ist alles. Darin liegt das Geheimnis von Kāma-Loka und Devachan und aller dazwischenliegenden Zustände des Bardo, wie die Tibeter es nennen. Alles übrige sind Einzelheiten, und deshalb bleibe ich dabei, in meinen öffentlichen Ansprachen und in meinen Schriften zu betonen, daß der Tod nur ein Schlaf ist. Der Tod ist ein vollkommener Schlaf und der Schlaf ein unvollkommener Tod. Es ist buchstäblich so. Wenn Sie schlafen, sind Sie zu einem Teil tot. Wenn Sie sterben, sind Sie in vollkommenem Schlaf. Wenn Sie diese einfachen Ideen begreifen, werden Sie die ganze Lehre, bildlich gesprochen, auf Ihrem Daumennagel verzeichnet haben, ein daumennagelgroßes Bild.

Nun folgt noch ein anderer Gesichtspunkt: Ich habe Leute sagen hören, daß sie nicht im Devachan bleiben möchten, weil es eine Zeitverschwendung sei. Das ist ein Mißverständnis. Ebensowohl könnten Sie sagen: Ich möchte heute Nacht nicht schlafen, es ist eine Zeitverschwendung. In Wirklichkeit haben Sie die Ruhe nötig, die Erholung, die Assimilation der Erfahrungen des vergangenen Lebens. Sie werden dadurch gestärkt, Sie wachsen dadurch. Daher ist das Devachan, obwohl es keine Zeit der Evolution ist, doch eine Zeit des Aufbaues, der Erholung, der Assimilation, der inneren Verarbeitung und der Stärkung; es ist ebenso nötig, wie die Nachtruhe des Menschen im Bett für seinen Körper nötig ist.

Es wird in der menschlichen Entwicklung eine Zeit kommen, wo selbst das Devachan nicht länger erforderlich sein wird, weil der Mensch gelernt haben wird, im höheren Teil seines Wesens zu leben. Devachan ist, wie schön es auch sein mag, eine Illusion. Es wird in der Zukunft die Zeit kommen, wo die Menschen nicht länger nachts schlafen müssen; sie werden es nicht nötig haben. Sie werden verschiedene Arten von Körpern haben und so lernen, ohne Devachan auszukommen und beinahe unverzüglich wieder zu reinkarnieren, um der Menschheit und allen anderen Wesen zu helfen – was sie am meisten schätzen. Diese Menschen sind die Meister, wie wir sie heute nennen, in all ihren Stufen. Doch für uns gewöhnliche Menschen ist das Devachan eine notwendige Episode.

Das Devachan ist jedoch, wenn es auch eine schöne Erfahrung des Bewußtseins ist, eine Erfahrung des höheren persönlichen Bewußtseins, des höheren Teils unseres menschlichen Egos, des höheren Teils des persönlichen Menschen, sozusagen seines Aromas. Auf dieser Tatsache beruht die Übung, die eine Abkürzung des Devachan zustandebringt. Wenn Sie während Ihrer Verkörperung lernen, außerhalb der Persönlichkeit und im Ewigen zu leben, wenn dies Ihre Gewohnheit wird, dann wird Ihr Devachan entsprechend verkürzt werden, weil Sie es nicht länger wünschen würden. Sie werden es nicht nötig haben, Ihr Geist neigt dann nicht zur selbstsüchtigen, beglückenden Befriedigung der Seele. Das ist nämlich das Devachan: ein Narrenparadies. Im Vergleich mit der Wirklichkeit ist es eine Illusion. Doch gerade, weil Männer und Frauen nach diesen Dingen streben und leiden, um sie zu erlangen, wird das Devachan, so sie es erleben, durch das unendliche Mitleid der Natur zur Zeit der Ruhe und Entspannung, der Wiedererstarkung, der Verarbeitung, der Assimilation. Doch während wir wachsen, während die Zeitalter dahinziehen, werden wir in künftigen Zeitaltern lange nicht so verzweifelt nach diesen beglückenden Befriedigungen der Seele streben. Wir werden unser Glück in unpersönlichen Neigungen zu schönen Dingen finden, zu Dingen, die zum höheren geistigen Menschen gehören und nicht zu der verlangenden menschlichen Seele.

Darin liegt die Schulung, die allen Chelas gelehrt wird, diese Wahrheit, und nicht mehr. Erheben Sie sich aus der Persönlichkeit, damit Sie lernen, sie als ein willfähriges, fügsames Instrument zu benutzen, und leben Sie im spirituellen Teil Ihrer selbst, das heißt, unpersönlich; leben Sie ausnahmslos so, daß Sie nicht beherrscht werden von Ihrem eigenen Hunger nach Dingen, die Ihnen gefallen und Ihnen helfen und Ruhe verschaffen; leben Sie vielmehr im Geistigen, im Universalen und alle diese anderen Dinge werden Ihnen dann von selbst zufallen.

Das Geheimnis der menschlichen Konflikte

Das Geheimnis der Konflikte nicht nur zwischen Menschen, sondern ebenso im Universum, liegt im Vorhandensein von Stufen von Unwissenheit und Selbstsucht und im Fehlen von Altruismus – dem edelsten Gefühl, das sich im Herzen der Menschen regen kann. Es ist nur Altruismus, das Denken an andere, das Hintanstellen unserer selbst, wodurch wir uns selbst vergessen; und im Vergessen verlieren Leid und Sorgen und die winzigen Glückseligkeiten, die wir hegen und pflegen und unsere Persönlichkeit nennen, ihre Bedeutung.

Sehen Sie nicht, daß es nur einen einzigen Pfad gibt, der zu Weisheit, universalem Frieden und äußerster Glückseligkeit führt, und daß er darin besteht, das Unbedeutende dem Ganzen, das kleine Ich den Interessen des Ganzen unterzuordnen, wodurch es möglich wird, am universalen Leben teilzuhaben, anstatt nur im eigenen beschränkten Bereich wirklichen Verstehens zu leben? Hier liegt die Lösung für alles. Gerade dieses Geheimnis hat die moderne Welt vergessen. Sie vergaß, daß im Selbstvergessen Größe, Frieden und Glück liegen, und daß unser Mangel an Frieden und unser Unglück daraus entstehen, daß wir unsere kleinen Belanglosigkeiten und Sorgen hegen und pflegen. Denn diese Begierden und Haßgefühle zerfressen den Lebensnerv unseres inneren Wesens und dann leiden wir, fühlen uns verletzt und erheben unsere Augen zu Gott oder den Göttern und rufen: „Warum geschah dies gerade mir, gerade uns? Was habe ich, was haben wir getan?“ Doch die bloße Kenntnis um das Vorhandensein eines spirituellen und natürlichen Gesetzes sollte uns klarmachen, daß alles, was im Großen wie im Kleinen geschieht – das Kleine ist ja im Großen enthalten – dem göttlichen Gesetz folgt. Elend, Unglück, Konflikte, Not, Armut und die ganze Reihe der uns tangierenden Unannehmlichkeiten entspringen der Gleichgültigkeit der Menschen dem kosmischen Gesetz gegenüber. So einfach ist das.

Daß unsere moderne Zivilisation den großen Einklang verloren hat liegt am Vergessen dessen, daß universale Bruderschaft eine Tatsache in der Natur ist. Damit ist nicht nur eine sentimentale oder politische Bruderschaft gemeint, sondern daß wir alle aus einer gemeinsamen, kosmischen Quelle stammen, und daß das, was einen berührt, alle berührt; und daß deshalb die Interessen des Einzelnen, wenn sie mit den Interessen aller verglichen werden, unbedeutend sind. Aber vergessen Sie nicht, daß die Vielfalt aus Einzelwesen zuammengesetzt ist, so daß Sie keinem einzigen Individuum etwas Ungerechtes, Grausames oder Übles zufügen können, ohne zugleich auch die Gesamtheit zu verletzen. Dies sind einfache Gesetze. Sie wurden der Menschheit seit unvordenklicher Zeit eingeprägt, zu einer Zeit, die der unseren so weit vorausging, daß von den sogenannten ewigen Bergen noch nicht einmal geträumt wurde, weil sie noch im archäozoischen Schlamm ruhten.

Nun, diesen verlorenen Einklang, diese vergessene Wahrheit, die in Vergessenheit geratene Bruderschaft der Menschen kann man auch anders ausdrücken: es ist der Verlust der Überzeugung, daß die Natur im Grunde von spirituellem Charakter ist, vom Gesetz regiert wird und für ein gutes Verhalten Belohnung und für ein schlechtes Verhalten Bestrafung bereithält. Wir haben vergessen, daß diese zwei, Belohnung und Bestrafung, so unfehlbar sind wie das kosmische Gesetz selbst, denn sie sind nur dessen Ausdrucksweisen. Wenn ein Mensch es zuläßt, daß diese wunderbaren und doch so einfachen Gedanken in sein Bewußtsein einsickern, so daß sie zu einem Teil jedes Lebensnervs seines Wesens und seines Empfindens werden, wird er einen anderen Menschen nie mehr absichtlich verletzen. Er kann es einfach nicht. Es entspricht nicht mehr seinem Charakter. Er hat sich selbst aus dem Schmutz gezogen und den goldenen Sonnenschein erblickt. Er erkennt, daß im Grunde alles, alle Wesen, eins sind und daß das Eine so wichtig ist wie das Ganze und das Ganze so wichtig wie das Eine; und daß das Eine innerhalb des Ganzen unendlich wichtiger ist als das Eine für sich alleine genommen, für sich selbst. Wenn die Einzelwesen ihre Gedanken in eine solche Richtung lenken würden, dann wäre das kosmische Gesetz der Harmonie für endlose Zeit gesichert.

Das haben wir verloren: die Überzeugung, daß wir für unsere Gedanken und Gefühle entweder durch Belohnung oder durch Bestrafung bezahlen müssen; daß wir unfehlbar Gutes ernten, wenn wir Gutes tun, Gutes denken und in der rechten Art und Weise fühlen und wenn wir Samen der Gerechtigkeit, Ehrenhaftigkeit, Rechtschaffenheit und Anständigkeit im Umgang mit allen anderen Menschen aussäen – allen anderen, nicht nur im Umgang mit „meinen“◊√ Freunden, sondern mit allen Wesen. Denn der Kosmos ist eine Einheit und kennt keine Unterteilungen oder menschliche Trennungen. Das haben wir verloren. Darin liegt unser Versagen. Das ist das Geheimnis aller menschlichen Konflikte.

Sie sollten sich darüber klar sein, daß dieser Gedanke wegen des äußerst komplexen Charakters der modernen Zivilisation – allein deshalb – eine verwirrende Reihe schwieriger Fragen nach sich zieht. Aber jeder, der das Herz am rechten Fleck hat, kann diese Fragen klären, weil er durch den Gott im Inneren erleuchtet ist, wenn er seinem Herzen erlaubt zu sprechen. Sein Urteil ist dann eigentlich unfehlbar. Wenn ich vom Herzen spreche, meine ich damit nicht Emotion; ich meine den menschlichen Instinkt für aufrichtiges Ehrgefühl, innere Moral und spirituelle Sauberkeit. Wir Abendländer waren tatsächlich viel zu lange Feiglinge. Wir versuchten immer, unser Fehlverhalten jemand anderem aufzubürden. Deshalb schufen wir für unseren Zweck ein reines Phantasieprodukt, Jesus Christus genannt, und luden auf seine Schultern unsere gesamten Sünden. Dann bildeten wir uns noch ein, wenn wir das nur stark genug glauben könnten, würden wir durch das Blut des Lammes rein gewaschen werden. Ja, aber was ist dann mit denen, die durch mein Übeltun zu leiden hatten? Hilft es ihnen, wenn ich gerettet bin? Was ist mit jenen, denen ich in meiner von Dummheit, Ignoranz und Boshaftigkeit gezeichneten Vergangenheit vielleicht böswillig den Stoß ins Elend versetzte, anstatt ihnen eine brüderliche Hilfe angedeihen zu lassen, die es ihnen erlaubt hätte, nach oben zu kommen? Was ist mit ihnen? Sehen Sie nicht, daß Ideen solcher Art eine kosmische Philosophie in ihr gerades Gegenteil verkehren? Sehen Sie nicht, daß das alles falsch ist? Was dem Einzelnen in Aussicht gestellt wird, ist gar nicht so bedeutsam. Viel wichtiger ist, was mit allen anderen ist, mit der unüberschaubaren, sich abquälenden, hoffenden, sich abmühenden, leidenden Masse. Das allein ist wichtig. Jeder Geschädigte begreift dies und empfindet so.

Diese unvermeidliche Bestrafung oder die von Liebe gezeichnete Belohnung nennen wir die Lehre der Konsequenzen, die Lehre von Karma: was Du säst, das mußt Du ernten, jetzt oder später. Da gibt es kein Entrinnen. In den Dingen des täglichen Lebens ist uns das vollkommen vertraut. Dazu bedarf es keiner Argumente. Wenn Sie Ihre Hand in eine Flamme halten oder einen elektrischen Draht berühren, wird Sie das Feuer nicht etwa nicht brennen, weil Sie dumm und unwissend sind, und Ihre Unkenntnis der Gesetze der Elektrizität wird Sie nicht davor bewahren, eben durch sie vielleicht getötet zu werden.

Glücklicherweise gibt es dazu noch eine andere, eine schöne Seite. Unser bester Lehrer, unser größter Freund, ist das Leid, das wir erfahren. Welche Eigenschaften sind es, die ein menschliches Herz so gütig machen, daß man das Leid der anderen versteht und mitfühlen kann? Sympathie und Mitgefühl. Wenn wir leiden, wachsen wir. Nichts erweicht das Herz so sehr wie eigenes Leid. Aber es stählt auch gleichzeitig unseren Charakter. Das ist ein seltsames, aber schönes Paradoxon. Es macht uns stärker. Wer niemals gelitten hat, kann nicht nachfühlen. Er ist tatsächlich unentwickelt und nur auf sich selbst fixiert.

Wer ist ein großer Mensch? Ein Mensch, der nie gelitten hat oder jemand, dessen Leiden ihm Stärke, innere Kraft und Vision verliehen hat, der weiß, was es heißt, zu leiden und darum aufgrund eigener Erfahrung niemals fähig ist, Leid über andere zu bringen? Sein Herz hat begonnen zu erwachen. Sein Bewußtsein wird für diese einfachen kosmischen Wahrheiten wieder aufgeschlossen.

Sie sehen, wie wunderbar dieses Universum aufgebaut ist. Trotz unserer Dummheit und Unwissenheit, trotz der Tatsache, daß wir von unseren edelsten Empfindungen, die wir anderen Menschen gegenüber haben können, von Altruismus, Liebe und Mitgefühl, keinen Gebrauch machen, können wir durch wirkliches Leid, größte Dummheiten und tiefste Unwissenheit den richtigeren, besseren Weg ausfindig machen. Mit jedem Lernschritt wachsen wir und werden reifer. Wenn wir uns auf diesem langsamen, mühe- und schmerzvollen Evolutionsweg lange genug vorwärts gequält haben, kommen wir schließlich an einen Punkt, wo wir zu uns selbst sagen: jetzt reicht es, ich habe genug. Ich werde von jetzt ab mein Leben selbst in die Hand nehmen und durch eine von mir selbst gelenkte Evolution regieren. Von jetzt an wähle ich meinen eigenen Pfad. Nichts wird meinen Willen in diese oder jene Richtung ablenken. Dort sehe ich das Ziel, und es ist ein kosmisches Ziel. Ich will nicht länger ein Sklave zufälliger Umstände sein. Von jetzt an bestimme ich meinen Weg selbst. Ich suche mir mein Schicksal selbst aus. Ich habe das Gesetz erkannt.

Es ist ein seltsames Paradoxon, daß ein Mensch, dessen Seele zu erwachen beginnt und dessen Augen sich öffnen, der ernstlich versucht, seine Arbeit zu tun, im Leben seine Pflicht erfüllt, der seinen Mann steht und aufrecht zu leben versucht, sich wegen des äußerst komplexen und, wie ich denke, wirklich katastrophalen Zustandes des modernen Lebens in tausendmal größere Schwierigkeiten verwickelt sieht als jemand, der nur so dahinlebt, weil er wie die Tiere zum Nachdenken zu einfältig ist. Möchten Sie nur ein menschliches Tier sein, das nicht denkt, nicht überlegt und über kein gottähnliches Empfinden dafür verfügt, daß es seinen Weg im Leben selbst wählen kann?

Es ist deshalb meine Überzeugung, daß alle menschlichen Konflikte ein Ende, ein ziemlich schnelles Ende hätten, wenn wir alle unsere individuelle Verantwortlichkeit gegenüber unseren Mitmenschen erkennen würden. Ich bin sicher, gerade diese eine Regel würde das ganze Gewebe des menschlichen Lebens von oben bis unten durchdringen. Wir würden als Einzelwesen unsere Zusammengehörigkeit in einer menschlichen Hierarchie fühlen und begreifen, daß das, was den Einen angeht, alle angeht, im Guten wie im Schlechten.

Ich habe mich oft gefragt, wieviele Menschen in den stillen Stunden der Nacht an diese Dinge denken. Vielleicht dann, wenn sie ratlos und verwirrt sind und darüber nachsinnen, welchen Weg sie einschlagen sollen oder dann, wenn sie sich fürchten, einem Weg zu folgen, der nicht der Weg der breiten Masse ist. Die Masse hält sich lieber an das, was sie „gesunden Egoismus“ nennt. Ich kann mir keine teuflischere oder satanischere Vorstellung denken als die, die mit diesem Ausdruck gemeint ist. Es ist eine bewußte Verdunklung jeder edlen Regung der menschlichen Seele. Fragen Sie sich selbst: Tun diese Leute etwas, weil es schön, recht und gerecht ist, weil es allen Menschen Glück, Sicherheit und Frieden bringt? Nein, diese Verfechter des gesunden Egoismus sagen: „Wenn ich etwas tue, dann deswegen, weil es letzten Endes mir und den Meinen zum Vorteil gereicht.“ Jetzt stellen Sie sich vor, in den verschiedenen Teilen der Welt würden die Menschen diesem Evangelium folgen, was würden Sie sehen? Genau das, was Sie heutzutage sehen können. All das, jeder menschliche Konflikt könnte verhindert werden. Wohlgemerkt, ich meine damit nicht etwa eine Unterdrückung von Meinungsverschiedenheiten. Sie sind für uns Menschen eines der natürlichsten Dinge. Meinungsverschiedenheiten, wenn sie ehrlich, höflich und uneigennützig ausgetragen werden, verleihen dem Leben Würze und Reiz, verleihen ihm Zauber und Schönheit. Die Franzosen haben ein wundervolles Sprichwort: Du choc des idées jaillit la lumière, „Aus dem Widerstreit der Meinungen entspringt das Licht.“ Das ist der Grundsatz aller Kongresse, aller Parlamente, aller Vereinigungen und aller sonstigen Zusammenschlüsse von Menschen: Alle funktionieren erst durch Ideenaustausch und die Ausschöpfung der besten Ideen, die vorgebracht werden.

Ich spreche also nicht von Meinungsverschiedenheiten. Diese sind natürlich. Ich meine Konflikte, Haß, Mangel an Achtung für den Mitmenschen, die Unfähigkeit, in ihm etwas zu sehen, was ebenso wunderbar ist wie das, was er in uns sehen kann. Haben Sie sich schon einmal nach der so einfachen Regel gerichtet, dem anderen, mit dem Sie sprechen, in die Augen zu sehen? Dabei aber nicht zu versuchen, ihm Ihre Idee aufzuzwingen, wie wir es alle tun; dabei aber nicht zu versuchen, ihn zu überzeugen, damit er dasselbe glauben möge, was Sie glauben; nur ganz einfach in seine Augen zu schauen. Wissen Sie, daß Sie in ihnen etwas Wunderbares sehen können? Eine Welt von bisher nicht geschauter und unbekannter Schönheit. Die ganze Seele dieses Menschen ist bereit, Ihnen entgegenzukommen, wenn Sie ihm dazu eine Gelegenheit geben. Natürlich kann er sich von Ihnen ebensogut zurückgestoßen fühlen, wie Sie sich von ihm. Vielleicht fürchtet er sich vor Ihnen genauso, seine menschliche Seite zu zeigen, wie Sie selbst vor ihm.

Ich versichere Ihnen, daß die Menschen, wenn sie einander vertrauen und Anständigkeit erwarten würden, diese auch bekämen. Ich habe dieses Mittel niemals fehlschlagen sehen. Ich will Ihnen offen sagen, daß ich noch nie in meinem Vertrauen enttäuscht wurde, weil ich mein Vertrauen stets rückhaltlos und im Sinne einer Aufforderung gegeben habe. Das wirkt, und auf dieses Prinzip gründet sich auch die beste Verfahrensweise des modernen Geschäftslebens: gegenseitiges Vertrauen und gegenseitige Ehrenhaftigkeit. Wer sich nicht an diese Dinge hält, erlebt sehr bald einen Rückschlag.

Ich habe in allerletzter Zeit sagen hören, ständiger Kampf sei für die Menschheit gut, weil die Menschen dadurch stark würden. Gewiß, ich habe von Boxern gehört. Aber ich habe keinen von ihnen kennengelernt, der wegen seiner Genialität besonders berühmt wurde, keinen, der die Welt mit seinem Geist entflammt hätte, keinen, der den Lauf des Schicksals oder der Geschichte entscheidend beeinflußt hätte. Menschliche Pachydermen, menschliche Dickhäuter, haben ihren Wert, aber sie stellen nicht gerade jenen Typ dar, den wir wählen, wenn wir einen Menschen zur Bewältigung von besonders schwierigen, auf der Kippe befindlichen und verwickelten Angelegenheiten brauchen. Dazu benötigen wir einen Menschen, der nicht nur Verstand, sondern auch Herz hat. Ein reiner Verstandesmensch, der kein Herz besitzt, kann einen anderen Menschen, der über viel Herzensstärke verfügt, niemals verstehen. Letzterer wird dem Herzlosen jedoch immer wesentlich überlegen sein. Ein herzloser Mensch ist im psychologischen Sinne nur halb fertig und gewaltig im Nachteil. Jeder andere kann ihm durchaus überlegen sein. Herz und Verstand zusammen machen erst den vollständigen Menschen, denn bei diesem vereinigen sich der Gesang des Herzens und die Philosophie des Verstandes zu einem wahren Verstehen.

Sollen wir mit diesen endlosen Konflikten fortfahren? Ich glaube, sie werden ein Ende haben. Ich glaube, daß Schönheit und Achtung selbst jetzt zu finden sind. Der Weg für einen Neuanfang liegt in uns selbst: in mir und in Ihnen.

Die göttliche Entsprechung

Sympathie verhält sich zu Liebe oder kosmischer Harmonie wie Bewußtsein zu göttlicher Intelligenz. Anders ausgedrückt: Erwachte oder tätige Liebe äußert sich in dem, was die Menschen Sympathie nennen. Tätige und zu Selbstwahrnehmung erwachte Intelligenz äußert sich als Bewußtsein. Dies umfaßt auch das Selbstbewußtsein, das aber nur ein sich selbst widerspiegelndes Bewußtsein ist, das sich selbst „sieht“ oder „fühlt“. Alles im Universum und konsequenterweise alles im Menschen, der ja ein Kind dieses Universums ist, läßt sich daher letztlich auf das Eine zurückführen. Ob Sie dieses Eine das höchste oder das erhabenste Prinzip im Kosmos nennen, ist nur eine Frage der Wortwahl. Aus diesem Einen – das in keiner Weise mit Monotheismus gleichgesetzt werden kann – dieser abstrakten Einheit, erwacht all das zur Tätigkeit, was wir Intelligenz, Bewußtsein, Vernunft, Sympathie, usw. nennen. Darum können wir sagen, daß sich Sympathie zu Liebe, das heißt letztlich zu kosmischer Harmonie, wie Bewußtsein zu kosmischer Intelligenz verhält.

Zivilisation wird aus Gedanken erbaut

Der Gedanke ist die treibende Kraft im Menschen. Er steht hinter unseren Emotionen und kann sie sogar kontrollieren. Obwohl sich manchmal ein Gedanke aus einem Gefühl entwickelt, glaube ich, daß auf einer höheren Ebene beide eins sind. Die Welt, in der wir leben, ist eine Welt denkender und fühlender Menschen. Wenn die Welt schlecht ist, dann deshalb, weil unsere Gedanken und Gefühle sie so gemacht haben. Wenn die menschlichen Verhältnisse unharmonisch, zuweilen sogar diabolisch sind, und wenn anstelle von Vernunft und Recht nackte Gewalt regiert, dann ist es so, weil unsere Gedanken sie so gemacht haben.

Ideen kontrollieren Handlungen. In ihnen muß man die Ursache sehen für die Unruhe in der Welt, in der wir leben, und natürlich auch das Heilmittel. Wenn sich jemand ändern will, muß er vor allem damit anfangen, seine Gedanken zu ändern. Als Folge davon wird er beständig in einer neuen Weise fühlen. Das ist der einzig dauerhafte Weg, denn er bewirkt eine Veränderung des Charakters. Wenn Sie einen Streit verhüten wollen, müssen Sie Maßnahmen ergreifen, bevor der Streit sich ankündigt. Wenn Sie versuchen, sich in einen Streit zwischen zwei Personen einzumischen, werden Sie wahrscheinlich nicht nur sich selbst verletzen, sondern es werden drei statt zwei streiten. Sie können keinesfalls einen Streit beenden, indem Sie den Streitenden Vorhaltungen machen. Wenn Sie so verfahren, begegnen Sie den Menschen nicht auf der Ebene, wo sie ansprechbar sind, Sie haben sie nicht verändert und nicht an ihr Denken und an ihre Gefühle appelliert. Bestenfalls haben Sie Beruhigungsmittel verabreicht.

Lassen Sie sie erkennen, daß sie noch etwas schlechter als Tiere handeln, wenn sie streiten, denn die Tiere haben weder unseren Verstand noch unsere Vernunft. Appellieren Sie mit Ideen und erwecken Sie Gedanken. Erfüllen Sie ihr Bewußtsein mit neuen Gedanken und neuen Gefühlen. Dann werden sie anfangen zu verstehen, daß man einen Streit nicht durch rohe Gewalt entscheiden kann, denn das würde ganz einfach bedeuten, daß derjenige, der den Kürzeren gezogen hat, nur seine Zeit abwartet, um herauszufinden, ob er den anderen mit brutaler Gewalt übertrumpfen kann. Die Menschen müssen somit begreifen, daß sich Kriege nicht verhindern lassen, indem man Kriege führt, um sie zu verhindern. Das gelang nie und wird auch nie gelingen, denn es ist eine falsche Psychologie und ebenso töricht.

Jede Zivilisation wird aus Gedanken erbaut. Wenn Sie innerhalb einer Zivilisation eine Änderung bewirken wollen, müssen Sie versuchen, die bisher akzeptierten Gedanken durch neue zu ersetzen. Was ist eine Erfindung? Gedanken. Was sind Literatur, Philosophie, Religion und Wissenschaft? Gedanken. Was ist das Fundament der Sozialstruktur, in der wir leben? Gedanken. Jede Bewegung in der heutigen Welt beruht auf Gedanken, seien diese sozialer, politischer, philosophischer, religiöser oder wissenschaftlicher Natur. Neun von zehn dieser Bewegungen entstanden im Kopf eines einzigen Menschen und breiteten sich aus. Sie sehen es in den Blättern der Geschichte, welch verheerende, katastrophale Auswirkungen Gedanken haben können. Was ist Krieg? Er ist nicht nur das Resultat von Gedanken, er ist der Gedanke selbst. Wegen Ideen, wegen Gedanken kämpfen die Menschen. Wenn wir einen neuen Weltkrieg verhindern wollen, müssen wir vor seinem Ausbruch damit beginnen, der Welt eine neue Gedankenrichtung zu geben.

Weil diese Wahrheiten so einfach sind, gehen sie an uns vorüber, berühren sie uns kaum, und niemand denkt über sie nach. Doch es sind die Ideen, die die Welt erschüttern. Es sind die Ideen, die die Welt erschaffen. Es sind die Ideen, die die Menschen vernichten und ihre Welt zerstören. Studieren Sie die Annalen der Geschichte. Beobachten Sie die erstaunlichen Resultate von Bewegungen, die anfangs vielleicht nur mit einer Handvoll entschlossener Leute begannen. Jahrelang arbeiten, predigen und wirken sie scheinbar ohne Erfolg. Dann, auf einmal, aus irgendeinem bemerkenswerten Grund, zündet die Idee und breitet sich wie eine Feuersbrunst aus. Manchmal nahmen Ideen die Menschen auf höchst erstaunliche Weise gefangen. Wie war das mit den Kreuzzügen, als die Menschen Heim, Herd, Wohnstätte und alles, was ihnen teuer war, verließen, um in einem fremden, weitentfernten und unbekannten Land gegen Andersgläubige zu kämpfen? Zehntausende von Menschen aus ganz Europa strömten zur Verwirklichung einer Idee zusammen. Noch bewerkenswerter war, daß diese merkwürdige und das Denken lähmende Idee sich sogar der Gedanken und der Einbildungskraft kleiner Kinder bemächtigte. Erinnern Sie sich an den Kinderkreuzzug? Kinder aus Deutschland, aus dem jetzigen Belgien, aus Holland, Frankreich, der Schweiz, machten sich plötzlich auf den Weg nach Südfrankreich und Italien, Jungen und Mädchen, von den tapsigen Kleinsten bis hin zu Dreizehn- und Vierzehnjährigen, rannten auf die Straßen und rotteten sich zu Tausenden zusammen, bis die Heerstraßen von ihren trippelnden Füßen schwarz waren. Sie wanderten Hunderte von Meilen, starben unterwegs zu Tausenden oder wurden von menschlichen Ungeheuern, die sich an ihnen bereicherten, aufs schrecklichste mißhandelt. Niemand weiß, wie diese Idee entstand. Plötzlich setzten es sich die Kinder dieser verschiedenen Länder in den Kopf: „Wir wollen kämpfen und das Heilige Grab befreien.“ Stellen Sie sich Kinder vor, die solche Reden führen! Natürlich übernahmen sie diese von ihren Eltern. Aber beachten Sie auch das psychologische Moment. Es erfaßte jedes Heim und entführte mindestens ein oder mehrere Kinder aus jeder Familie. Die Mütter und Väter konnten sie nicht aufhalten. Sie stahlen sich einfach in der Nacht davon. Sie benützten Nebenwege und abgelegene Pfade, um die großen Heerstraßen zu erreichen und dann gingen diese Banden hilfloser Kinder einfach südwärts, immer weiter nach Süden! Und das alles wegen einer Idee, eines Gedankens!

Welche Rolle spielte weiterhin die Idee, die der bemerkenswerten Tarantella zu Grunde liegt und so hervorragend von spanischen und italienischen Historikern, besonders von letzteren, beschrieben wurde? Plötzlich, ohne ersichtlichen Grund, überkam Männer und Frauen die Idee, daß sie tanzen müßten. Und so tanzten sie, tanzten und tanzten, bis sie am Ende bewußtlos, vollkommen erschöpft, zu Boden stürzten. Sie konnten einfach mit dem Singen und Tanzen nicht aufhören, weder der einzelne, die Gruppe, noch die Bevölkerung ganzer Landstriche und Distrikte. Die Ursache dafür war ein psychologisches Element, ein Gedanke, eine Idee.

Das gleiche ungesunde psychologische Element beherrscht heutzutage das Gedankenleben der Menschen. Die Menschen haben sich in die Idee verrannt, daß es unmöglich ist, einen neuen großen Krieg zu verhindern. Sie glauben es allen Ernstes. Das ist einer der Gründe, warum er auch ausbrechen wird, es sei denn, wir befleißigen uns eines gesünderen Gedankenlebens. Wodurch entsteht ein Krieg, wovon lebt er? Von Gedanken. Was verhindert einen Krieg? Unsere Gedanken, das heißt eine Änderung im Gedankenleben der Menschen. Indem man ihrem Gedankenleben eine andere Richtung gibt, würde man ihre Herzen, ihr Leben, ja, ihre Zivilisation verändern. Sollte ein Krieg kommen, dann allein nur deshalb, weil ihn die Menschen durch ihr Denken heraufbeschworen haben. Ihr Denken beeinflußt ihre Gefühle. Diese wiederum wecken ihr Mißtrauen und ihre Furcht. Aus bösem Denken entstehen weitere böse Gedanken. Aber Feuer läßt sich nicht mit Feuer löschen. Genausowenig können Sie einen Krieg durch Krieg verhindern. Dies ist so einfach wie das ABC. Dennoch erlauben wir solchen Gedanken, unsere Köpfe zu umschwirren. Wir haben uns bereits so an sie gewöhnt, daß wir ihnen keine Aufmerksamkeit mehr schenken, und doch liegt in ihnen das Geheimnis von allem Guten und allem Schlechten. Das Leben eines Menschen kann sich durch seine Gedanken zu Erhabenem verändern, aber genauso sicher kann der Mensch durch sein Denken zur Hölle fahren oder am Galgen enden. Die Gedanken bestimmen, ob ein Mensch ein Gentleman oder ein Flegel ist. Die Gedanken sind es, die den Mutigen oder den Feigling machen. Aus Gedanken werden Vergebung oder fortdauernder Haß geboren.

Aus diesen Gründen wurde die Theosophische Gesellschaft ins Leben gerufen, um zu versuchen, das Denken der Menschen auf bessere und höhere Dinge auszurichten und in ihren Seelen inspirierende und wohlwollende Ideen zu wecken. Warum gehen nicht alle Theosophen mit ihrem Essenskorb zu den Hungernden? Warum sitzen sie nicht an den Betten der Kranken und Sterbenden? Viele von uns tun dies und haben es getan. Aber unsere Hauptaufgabe im Leben ist der Versuch, die Armut zu beseitigen, anstatt an den Nöten der Armen Flickwerk zu leisten. Das wird nach und nach erreicht werden durch eine Veränderung der Gedanken der Menschen, so daß unsere Zivilisation erleuchtet wird. Danach streben wir unter anderen edlen Zielen. Keine andere Aufgabe ist weitreichender als diese. Sie geht mehr an die Wurzeln der Dinge als nur Pflaster und Salben auf eiternde Wunden aufzutragen. Auf einer noch höheren Ebene besteht unsere Aufgabe darin, den Menschen zu zeigen, welche Kräfte, welche Möglichkeiten und welche Fähigkeiten in ihnen liegen, von denen sich der heutige Durchschnittsmensch keine Vorstellung macht. Aber sie sind da. Die titanischen Intellekte, die größten Menschen, die jemals lebten, haben gezeigt, wozu der menschliche Geist fähig ist. Jeder normale Mensch trägt dieselben Möglichkeiten in sich. Ein Teil der Tätigkeit der Theosophischen Gesellschaft besteht darin, den Glauben daran wiederzuerwecken, denn als Folge davon werden die Menschen sich danach sehnen, sich von innen her zu veredeln; das, was innen ist, zu wecken und zu versuchen, größer und erhabener zu werden. In was für einer Welt würden wir dann leben! Bewirken kann dies allein ein entsprechendes Denken und ein daraus resultierendes Empfinden. Dann wird wahrlich der Christus, der in uns an jedem Tag unseres Lebens gekreuzigt wird, von seinem Kreuz, unserem Körper, herabsteigen, in unseren Verstand Einzug halten und nicht nur unser Leben erleuchten, sondern auch unser Verhalten gegenüber unseren Brüdern reformieren. Wenn man die Menschen bewegen könnte, allein diesen einzigen Gedanken zu erfassen und innerlich als wahr zu begreifen, würde eine universale „Bekehrung“ – „eine Kehrtwendung“, ein Verändern – unserer Gemüter und Herzen zum inneren, lebenden Christus, zum lebenden Buddha hin, bewirkt werden!

Das Gebot des Pythagoras

Denken Sie an die Regel, die Pythagoras aufstellte. Sie wurde immer wieder zitiert, aber sie verliert durch die Wiederholung nichts von ihrer Schönheit und ihrer Tiefe. Sie lautet ungefähr so:

„Lasse die Sonne nicht den westlichen Horizont erreichen, noch schließe Deine Augen zum Schlaf, ehe Du nicht alle Ereignisse des eben vergangenen Tages überdacht und Dir folgende Fragen gestellt hast: Was habe ich heute getan, das gut war? Was habe ich heute getan, das schlecht war? Habe ich jemanden verletzt? Habe ich meine Pflicht versäumt? Lasse die untergehende Sonne nicht den westlichen Horizont erreichen, noch schließe die Augen zum Schlaf, ehe Du Dir nicht diese Fragen gestellt hast.“

Wenn die Menschen nur diese einfache Regel bewußt befolgten, würden neunundneunzig Prozent der Sorgen der Welt, des Leidens der Herzen, der Sünde und Angst nicht existieren, sie würden gar nicht erst entstehen. Der Grund dafür ist einfach. Die Kümmernisse der Welt entstehen aus unserer Schwäche, nicht aus unserer Stärke; und wenn wir unsere Stärke vergrößern und unsere Schwächen beseitigen würden, dann würde danach jeder Mensch, entsprechend seiner inneren Entwicklung, zu einer Kraft des Guten in der Welt werden. Und Sie erkennen, was dies bedeuten würde. Die meisten Gedanken, Gefühle und Handlungen, die uns das Elend bringen, würden dadurch direkt an ihrer Pfahlwurzel abgeschnitten.

Universalität und die Esoterische Tradition

H. P. Blavatsky schrieb in großartiger Weise über die Geheimlehre der Zeitalter und sie zeigte uns, daß diese Geheimlehre zu uns herunterkam, seit undenklichen Zeiten unter der Obhut der großen Lehrer verschiedener Grade. Sie führte aus, daß diese Weisheit der Götter ursprünglich den ersten menschlichen Protoplasten von spirituellen Wesen aus anderen Sphären übermittelt wurde, von anderen Ebenen. Bei aller Größe der Lehren und der hohen Gedankenebene, auf die uns H. P. Blavatsky führte, scheint es mir jedoch notwendig darauf hinzuweisen, daß noch etwas darüber gesagt werden müßte, wie der Schüler davor bewahrt werden kann, falschen Ideen, falschen Unterweisungen Einlaß in sein Denken zu gewähren; Lehren, die ihn vom zentralen Feuer hinwegführen. Anders formuliert, die Menschen bedürfen eines Maßstabes, eines Prüfsteins, der sie befähigt, eine ihnen vorgetragene Lehre darauf zu untersuchen, ob sie pures Gold oder nur Messing enthält.

Worin besteht dieser unfehlbare Prüfstein? Was ist dieses Instrument, das man benützen kann, wenn man es als solches erkennt? Es ist Universalität. Jede Ihnen vorgelegte Lehre, die diesem Test nicht standhalten kann, die sich nur als eine angebliche Mitteilung aus anderen Sphären erweist und keine Basis in den großen Philosophien, Religionen und Wissenschaften hat, die der Menschheit in der Vergangenheit von den Meistern der Weisheit gegeben wurden, wurde in betrügerischer Absicht ausgegeben. Sie hat kein Recht, keinen Platz vor dem Tribunal unseres Gewissens. Die Götter belehrten, führten und erzogen den Menschen in seiner Kindheit. Sie erleuchteten seinen Verstand, um ihn zu befähigen, die archaische Weisheit der Götter, die göttlichen Lehren, die geheime Lehre in geheimer wie auch in öffentlicher Tradition zu empfangen, zu verstehen und weitergeben zu können.

Indem Sie die Idee, die Auffassung akzeptieren, daß die Menschheit über die Wahrheit, über die Wirklichkeit belehrt wurde, und daß heute auf Erden das Wissen für uns vorhanden ist, wenn wir dafür bereit sind und uns dessen würdig erweisen, dann verstehen wir, daß dieses Wissen Zeitalter auf Zeitalter, im größeren oder kleineren Maße, je nach den Umständen, durch die am weitesten fortgeschrittenen Menschen und durch die gewaltigsten Intellekte der menschlichen Rasse überliefert worden sein muß. Das ist der Grund, warum diese Tradition, diese Kabbala, diese Brahma-Vidyā, in jeder großen Religion und Philosophie der Zeitalter gefunden werden kann.

Wenn Sie diese Auffassung akzeptieren, werden Sie den Blick nicht mehr allein auf den Autor richten, ganz gleich welches Buch in Ihren Händen sein mag. Sie vergessen die Persönlichkeit, die Individualität des Lehrers und schauen allein auf das, was er vermittelt. Ist er ein echter Lehrer, dann finden Sie keine verschwommenen Grenzbereiche, auf denen Gedanken von Unrichtigkeiten von ränkevollen Geistern errichtet sein mögen, sondern Sie verstehen, daß hier eine erhabene machtvolle Tradition vom Universum, aus dem Herzen der Göttlichkeit zu uns herabgekommen ist.

Es ist diese Tradition, diese Geheimlehre, die H. P. Blavatskys Meisterwerk den Titel gab, und aus dem gleichen Grund wählte ich die bedeutsamen Worte als Titel für mein letztes Buch: „Die Esoterische Tradition“. Die in ihm enthaltenen Lehren sind esoterischen Charakters, weil sie bis jetzt nur von wenigen verstanden wurden. Sie knüpfen an die Tradition an, weil sie aus unvorstellbar weit zurückliegenden Zeitaltern an uns weitergereicht wurden. Die Esoterische Tradition ist darum ein Versuch, ein schwacher vielleicht, aber ein ehrlicher und aufrichtiger, das zu tun, was unsere Lehrer mit uns zu tun versuchen: in unsere Herzen und Seelen Achtung und Verehrung für die vor uns liegende Wahrheit einzupflanzen und das göttliche Feuer der Liebe zu allem, was ist, zu entfachen. Wird diese Wahrheit jedoch einzig und allein an eine als Lehrer angenommene Person gebunden, dann wird die Wahrheit eingeengt, beschränkt und herabgewürdigt.

Der Titel des Buches regt dazu an, einem Lehrer Ehrerbietung entgegenzubringen, jedoch nur insoweit, als er wirklich die Wahrheit lehrt. Vergessen Sie die Person, und Sie werden die Botschaft erkennen. Bedarf die heutige Theosophische Bewegung nicht vor allem dieses Prüfsteins? Ist das nicht mit allem, was uns H. P. Blavatsky lehrte, in vollkommener Übereinstimmung: nach innen zu blicken, aufzuschauen, nicht zu vergessen, die gebende Hand zu verehren und die Botschaft anzunehmen? Prüfen Sie; entnehmen Sie ihr, was Ihnen gut erscheint; verwerfen Sie den Rest, wenn Sie wollen. Es mag sein, daß Sie damit einen Fehler machen, aber Sie müssen von Ihrem Vorrecht Gebrauch machen, selbst wählen und unterscheiden zu können und Ihre Intuition anzuwenden. Wenn Sie das tun, gewinnen Sie dadurch Stärke. Mit der Zeit wird sie zu einer mächtigen Kraft werden. Sie werden schließlich den Eckstein, den Sie verworfen haben, wieder zurückholen und damit den Lehrer bekommen, der in Ihrem Herzen wohnt und Sie in der richtigen Weise belehrt.

Eine Lektion habe ich gelernt: Was zählt, ist die Lehre und ihre magische Wirkung auf mich. Wenn die Lehre in mein Herz dringt, wächst meine Verehrung für den, der sie mir mitteilt. Verehren Sie die Meister nicht noch viel mehr, wenn es Ihnen bewußt wird, daß sie in uns das Edelste und Beste erwecken? Und eben dieses Edelste und Beste in uns befähigt uns, wenn es erwacht ist, zu erkennen. Das ist es, was sie wünschen: es liegt ihnen nicht daran, von uns gesehen zu werden, sondern daß wir wach geworden sind, daß unsere Herzen mit dem Herzschlag des universalen Herzens im gleichen Rhythmus schlagen und daß unser Denken von der Wahrheit, die sie uns mitteilen, entflammt wurde und die wir in gleichem Maße wertschätzen wie sie unpersönlich ist.

Ich glaube, daß die Theosophische Bewegung jetzt und zukünftig unter keinen Betrügern und falschen Lehrern zu leiden haben wird. Wir müssen uns nur daran erinnern, daß der Prüfstein für alles, was uns als Lehre angeboten wird, Universalität ist und ob an unser inneres Bewußtsein, an die innere Stimme appelliert wird.

Wo die Meister arbeiten

Helfen und inspirieren die Meister außer den Theosophen und der Theosophischen Gesellschaft auch andere? Ich wäre außerordentlich betroffen, wenn ein Theosoph diese Frage nicht sofort beantworten könnte. Die Antwort ist natürlich ein klares Ja! Ein Grundgedanke, eine Grundlehre von uns ist, daß die Meister überall dort, wo sie ein offenes Tor finden, unterstützen, helfen und inspirieren. Anders gesagt, sie helfen überall dort, wo sich die Seele nicht mit unüberwindlichen, jedes Licht abhaltenden und jede Hilfe verhindernden Schranken umgeben hat. Nun, natürlich! Und wenn sich der Einfluß der Meister außerhalb der T. G., in der er tatsächlich wahrgenommen werden kann, in anderen Organisationen nicht bemerkbar macht, dann dürfte dies seinen Grund darin haben, daß diese ihre Verbindung mit ihnen entweder verloren oder sich in ihrem Denken und Fühlen mit unüberwindlichen Schranken umgeben haben. In Wahrheit sind die Meister überall dort tätig, wo man für sie die Tore öffnet und wo für ihre Tätigkeit geeignete Verhältnisse existieren.

Folgen Sie einem Gedanken, der ein Traum meines Lebens seit Kindestagen war. Wenn es die christlichen Kirchen fertig brächten, zu den ursprünglichen Lehren ihres großen Meisters, zum wahren Urchristentum zurückzukehren, dann würden die Meister auch heute durch sie als einen der größten Kanäle in der westlichen Welt arbeiten, um den Menschen zu helfen. Wenn sie in ihnen nicht tätig sind, dann deshalb, weil die Hilfe durch Schranken des Denkens und Fühlens versperrt ist.

Was die T. G. betrifft – ich habe oft darauf aufmerksam gemacht, es hängt gänzlich von uns ab, ob die Meister diese weiterhin als ein Instrument benützen, was jetzt geschieht, oder sie sich selbst überlassen. Sie werden letzteres nicht tun, solange wir unsere Herzen und unseren Verstand offenhalten. Sollten wir aber damit anfangen, um unser Bewußtsein Mauern aufzurichten, dann schließen wir uns selbst aus, nicht sie. Die Götter, so sagten die alten Griechen, besuchen die Häuser jener, die ihnen die Türen öffnen. Bedenken Sie, was das bedeutet! Warum sollten Sie nicht versuchen, göttliche und gottähnliche menschliche Gäste gastfreundlich aufzunehmen?

Unser ganzes Problem und das unserer Zivilisation besteht darin, daß wir diese Schranken um uns aufgebaut haben. Von Natur aus bestehen sie nicht. Sie wurden von uns errichtet, Schranken der Ausgrenzung im Denken, im Fühlen, im Brauchtum, in allem. Was passiert mit dem Menschen, der sich in eine Zelle zurückzieht und dort lebt? Wer verliert? Die Welt oder der törichte Mensch? Eine solche Zelle begrenzt das Bewußtsein. Und der Mensch (oder die Zivilisation) ist genauso groß, wie es ihm (oder ihr) gelingt, die durch Gewöhnung und Gewohnheit selbst errichteten Schranken und Begrenzungen niederzureißen, und sich in immer herrlichere Wohnungen des Bewußtseins zu begeben.

Wodurch wird eine Religion erfolgreich? Indem sie sich mit Gedankenmauern umgibt, sich selbst Grenzen setzt und ausgrenzende Schranken errichtet? Natürlich nicht! Die Antwort ist klar. Reißt die Schranken nieder, das Tor ist für alle offen.

Gebet und Streben

Wenn wir gefragt werden: „Beten Theosophen?“ so antworte ich: „Ja und Nein.“ Es hängt davon ab, was der Fragesteller unter Gebet versteht. Wenn er damit meint, daß man niederkniet und eine Bitte an einen Gott richtet, der außerhalb von uns ist, rein imaginär, von dem sich der Verstand nur sehr mühsam eine Vorstellung bilden kann, und der deshalb vom menschlichen Herzen instinktiv nicht als wirklich empfunden wird, dann müssen wir antworten: „Nein, ein Gebet dieser Art nicht.“ Das wäre eine Absage an den Gott im Innern des Menschen, der damit auf seine eigenen Rechte verzichten und sich nach außen um Hilfe wenden würde. Es wäre nur ein Bittstellen, bloßes Fordern, ein Betteln um Vorteile. Es wäre rein äußerlich.

Wahres Gebet ist die herrliche, tiefe, geistige Demut des menschlichen Selbst im Erahnen des unaussprechlich Erhabenen. Es ist das Streben, dem himmlischen Vater gleich zu werden oder wie es Jesus formulierte: das Streben, ein Sohn des Göttlichen zu werden. Es ist fast ein an sich selbst gerichteter Befehl des Menschen, sich zu erheben und zu höheren Dingen fortzuschreiten, empor zum Göttlichen, von dem in jeder menschlichen Seele ein Funke pulsiert. Wenn wir zu diesem inneren Herzschlag, zu dieser Schwingung des Göttlichen eine gleichgestimmte Beziehung identischer Schwingungsfrequenzen herstellen, dann wird unser Leben erneuert; wir werden völlig umgewandelt; wir werden zu Menschen, die nicht länger um Vergünstigungen bitten und sich dadurch schwächen. Wir erkennen allmählich unsere Identität mit dem Göttlichen. In aller Stille legt sich Würde um uns und umhüllt uns wie ein Gewand. Und welches Gebet ist edler als dies: daß der Sohn danach verlangt, seinem göttlichen Elter gleich zu werden?

Soweit es mich betrifft, schlafe ich abends nie ein und stehe morgens nie von meinem Bett auf, ehe ich mich nicht zumindest einmal aufgerichtet und diese Erfahrung gemacht habe. Ein derartiges Gebet ist nicht bloß eine geistige Einstellung. Es ist ein Weg des Lebens, eine Verhaltensweise, die denjenigen, der sie liebt und ihr folgt, mit Würde bekleidet, seinen Geist mit Verständnis bereichert und ihn für alles andere, was lebt, mitfühlend macht.

Derjenige betet am besten, der am besten liebt,
Alle Dinge, groß und klein.

Ja, denn dies ist ein Einswerden mit allem, was um uns ist. Es bedeutet einfach, sein Bewußtsein Schritt für Schritt zu erweitern, sich jeden Tag ein wenig mehr zu entfalten, ein wenig mehr von der Welt um uns aufzunehmen, zu erfassen, anzunehmen. Mit dieser Art von Beten breitet sich unser Bewußtsein des Lebens, Denkens und Fühlens immer weiter aus, bis uns schließlich eines Tages unsere Gedanken und Empfindungen befähigen werden, das Universum zu umfassen. Dann werden wir nicht länger nur Menschen sein, wir werden Gottmenschen sein, und nach unserem Tod werden wir unseren Platz neben den Göttern einnehmen, bei den kosmischen Geistern, Erzengeln, Engeln, Mächten – wenn Sie die christliche Ausrucksweise lieben.

Was ist der Unterschied zwischen einem gewöhnlichen und einem genialen Menschen? Der gewöhnliche Mensch lebt in der kleinen, festbegrenzten Schale seines persönlichen Bewußtseins; er kann nicht darüber hinausgehen. Er hat keine Intuitionen, keine Inspirationen. Ein genialer Mensch hingegen ist jener, der diese Schale durchbrochen hat. Er durchwandert mit seinem Bewußtsein und seinem Gefühl das Universum, das ihn umgibt. Er schwingt in gleichgestimmten Frequenzen mit dem Universum, und dann erlangt er Inspirationen und wunderbare Ideen. Er sieht, er fühlt – und die Menschen sagen: „Ein Genie ist erschienen.“

Dies ist also das Gebet, das uns mit allen Dingen in Berührung bringt. Es erweckt Qualitäten in uns, die schon vorher in uns latent vorhanden waren, die aber jetzt eine Gelegenheit haben zu evolvieren, sich zu entfalten und auszuweiten. Unter einem wahren Gebet verstehen wir nicht nur die auf die Einswerdung mit dem universalen Bewußtsein gerichtete Erweiterung des persönlichen Bewußtseins, sondern die Anwendung dieser Erfahrung in der Praxis. Und dies ist eine ebenso großartige Freude: zu praktizieren, was wir predigen. Sonst gleichen wir nur klingenden Zimbals und dem dröhnenden Bauch hohler Trommeln – Vox et praeterea nihil, eine Stimme und weiter nichts. Wenn man aber das Gebet praktiziert, dann verstärkt man die eigenen Kräfte durch Übung. Was Sie selbst empfunden haben, beginnen Sie anzuwenden. Sie sehen das Licht des Verstehens in den Augen anderer Menschen aufleuchten und es entsteht eine neue und verborgene Sympathie zwischen Mensch und Mensch. Es ist eine neue Lebenskraft. Diese Art von Gebet ist auch ein Weg des Lebens; es ist gleicherweise Wissenschaft; es ist Philosophie; es ist Religion.

Wir sind Kinder des Unendlichen, des Göttlichen. Unsere Gottheit ist intrakosmisch und doch transzendent, genau in der gleichen Weise wie ein Mensch nicht nur sein physischer Körper und nicht nur sein Gemüt oder sein Geist ist. Er ist Körper und Empfindungen und Gefühle und Denken und Seele; aber über diese hinaus ist er transzendent; es ist etwas Größeres in ihm als all das. Es ist der Funke des Göttlichen, der Funke, durch den der Mensch mit dem Unsichtbaren, mit der Göttlichkeit verbunden ist. Dieser Funke ist das wichtigste, das mächtigste Element in uns. Er ist der vorherrschende und leitende Faktor in unserer Bestimmung, und wenn wir immer größer und besser, edler und spiritueller werden wollen, müssen wir uns zu jenem Funken erheben, dann müssen wir uns dazu entschließen, unserem Wissen entsprechend zu leben. Dann wird unser Leben groß werden. Und schließlich, wenn die Praxis relativ vollkommen geworden ist, wird sich die Vision des Genius in das Bewußtsein einschleichen. Denn Genius ist kosmische Weisheit. Mit dem Genius wächst das Verständnis mehr und mehr, und schließlich beginnen wir zu erkennen, daß wir nicht nur ein Mensch sind, der nach dem Tode vielleicht im Himmel oder in der Hölle lebt, sondern daß unser Schicksal das Schicksal des grenzenlosen Alls ist: daß wir endlos sind, gleichermaßen ewig mit der Dauer, mit der kosmischen Zeit, daß das grenzenlose Universum unsere Heimat ist; daß wir hier auf Erden nur für eine Tag-Nacht-Periode sind; daß dies lediglich eine Phase in unserer evolutionären Reise aufwärts und vorwärts ist.

Danach streben wir, darum beten wir: um ein sich stetig erweiterndes Bewußtsein durch Streben, durch Studium, indem wir das Leben führen, das wir lehren – ein sich ständig erweiterndes Bewußtsein zu jenem Letzten hin, zu einer Einheit mit dem Göttlichen. Wir durchlaufen alle Bereiche der Natur, wir wachsen über den Menschen hinaus, um ein Übermensch zu werden; wir werden von einem Übermenschen zu einem Halbgott; von der Halbgöttlichkeit wachsen wir zur Göttlichkeit, zur Übergottheit, und so weiter und weiter und aufwärts auf den endlosen Lebensleitern. Welch ein Wunder! Welch ein Gedanke!

Der göttliche Geist, von dem wir so ungezwungen sprechen – weil er eine Intuition darstellt, eine Antwort auf jenes Streben, auf jenen unaussprechlichen Hunger in jedem normalen Menschen – von dieser Göttlichkeit erkennen wir, daß sie nur unsere menschliche Vorstellung von etwas immer noch Wunderbarerem, Umfassenderen ist, von dem wir nie ein Ende erreichen können, daß es Wachsen und Fortschreiten, ein sich erweiterndes geniales Bewußtsein für immer und alle Zeit ist.

Beten Theosophen? In der Weise, daß wir versuchen, unser alltägliches Leben zu einem angewandten Gebet zu machen. Wir haben den Ariadnefaden, wir haben den Schlüssel und wir versuchen ihn zu benützen. Und wissen Sie, was dieser Schlüssel ist? Er ist die Gottesweisheit. Und wissen Sie, was das Schloß ist? Wir selbst sind es, die diesen Schlüssel ergreifen. Wer ihn in sein eigenes Bewußtsein hineinsteckt und umdreht, und sei es auch nur ganz sanft, dann strömt etwas Wundervolles aus dem leicht geöffneten Tor, von den unaussprechlichen im Inneren verborgenen Geheimnissen, die dem kosmischen Brunnen entquellen. Kein Mensch kann es je benennen. Es ist namenlos. Namen würdigen es nur herab. Immer und ewig danach zu streben – das ist Gebet. Indem wir es leben, wachsen wir. Welche Hoffnung und welcher Friede! Welche Zunahme an Verständnis gewinnt der Mensch, der in seinem Inneren, aus seinem eigenen Bewußtsein, das Ende des Ariadnefadens gefunden hat. Diese ständig fortschreitenden Stufen der Erfahrung und Entwicklung nennen wir Initiation.

Der einzige Ausweg

Die heutigen Männer und Frauen, die älteren und jüngeren, bilden eine Generation, die wir, wie ich glaube, treffend als eine verlorene Generation bezeichnen können. Die Ursache, der Grund für unsere geistige Ziellosigkeit und unser gestörtes Gefühlsleben liegt darin, daß wir unser Verständnis für eine allgemeine oder universal anerkannte ethische und intellektuelle Norm verloren haben und nicht mehr daran festhalten. Das zeigt sich in dem Stimmenbabel, das uns überall umgibt, an den hungernden Menschenherzen und auch an den begierig nach Wahrheit suchenden menschlichen Seelen, die nicht wissen, wo diese und eine Anleitung für sie zu finden ist: die Menschen suchen nach einem wirksamen und befriedigenden inneren Licht, nach etwas, das uns bei der Lösung der anstehenden Probleme als Richtschnur dienen kann. Wir sind tatsächlich eine verlorene Generation, und es ist nicht nur die Jugend, die ‘verloren’ ist. Tatsächlich sind es sogar die Älteren, die noch verwirrter sind als die Jugend von heute. Unsere ganze Generation ist blind, wandert in der Dunkelheit und weiß nicht, wo sie nach dem ersehnten Licht suchen soll; und das Stimmenbabel, das sich aus der gewaltigen Menschenmenge erhebt, ist mit seinen lauten und verworrenen Forderungen nach Allheilmitteln und Patentrezepten aller Art – politischen und anderen – etwas Beängstigendes und Bezeichnendes.

Wenn man diesem turbulenten Babel – oft nur bloßem Geschwätz – sein Ohr leiht, lauscht man vergeblich auf konstruktive Vorschläge, die allgemein anwendbar sind. Selten nur kann man Stimmen vernehmen, die mit der Autorität des Wissens sprechen. Ich will es wagen, die Ursachen für diese Zustände zu nennen.

Wenn ein allgemeiner Streit oder Kampf anhebt und man sich mit der Absicht in die Arena begibt, jene zu bekämpfen und zu überschreien, die bereits dort streiten, dann sind die Chancen gering, daß das, was man sagen will, Gehör findet; viel eher kommt man dabei selbst zu Schaden. Das passiert, weil die Möchtegernreformer sich einfach auf die Ebene der schreienden Streithammel begeben. Auf diese Weise kommt nichts zustande, das von der Idee her universal und definitiv konstruktiv oder attraktiv, neu und hilfreich ist oder das die Probleme erklärt und löst, welche allgemein Störung verursachen. Man begibt sich lediglich selbst in die Schlacht, versucht Gewalt mit Gewalt zu bekämpfen, Stärke mit Stärke, und dieses Vorgehen hat noch nie Erfolg gehabt, und es wird nie welchen haben.

Das soll nicht heißen, daß Stärke in menschlichen Beziehungen immer ignoriert werden soll. Manchmal ist es notwendig, in weiser, aber dennoch sanfter Form Stärke anzuwenden, aber stets ohne Gewalt und nur, um Böses zu verhüten. Solche Anwendung von Stärke und Macht sollte stets nur ein zeitlich begrenztes Ereignis oder Vorgehen sein, sie sollte nur in unpersönlicher und redlicher Weise angewandt werden, für einen guten Zweck und für das Allgemeinwohl. Gerechtigkeit für alle wird niemals erreicht, indem man in die Kampfarena hinabsteigt und sie dort ‘erkämpft’. Gerechtigkeit wird selten in Säcken gesammelt, wie man so sagt, und nur sehr selten findet man sie tatsächlich vollständig auf einer Seite einer strittigen Sache.

Unsere Generation ist intellektuell und moralisch verloren, weil sie ihre Vision verloren hat. „Wo keine Vision herrscht, geht das Volk unter“ – sagt ein alter hebräischer Spruch, der auf einer umfassenden Kenntnis der menschlichen Psychologie beruht, wie die Geschichte beweist – ein sehr wahres Wort daher. Es ist stets eine Vision oder eine Idee oder eine Reihe von Ideen, die die Menschen zur Höhe emporführt oder hinab in den Abgrund. Plato hatte völlig recht: Ideen sind für den Aufstieg oder den Untergang einer Zivilisation verantwortlich; bestehende Institutionen werden durch sie aufgebaut oder vernichtet. Und es sind einfach große universale Ideen und der Wille, ihnen zu folgen – Ideen und Ideale, die alle Menschen als Wahrheit erkennen –, die den Menschen heute fehlen. Nur weil den Menschen heute die Vision fehlt, d. h. ein inneres Wissen über das Richtige, das zu tun ist, über einen klaren Weg aus den Schwierigkeiten heraus, stehen die Nationen heute da, wo wir jetzt stehen.

Wir stehen jetzt am Ende einer Zivilisationsform, die, wie seinerzeit das Römische Reich, ihr Ende erreicht hat, ihren Zusammenbruch, und wir stehen vor den einleitenden Auftakten des kosmischen Dramas, das jetzt seinen Anfang nimmt. Es wird von der inneren Weisheit und von dem hohen Gerechtigkeitssinn abhängen, der den Menschen innewohnt, ob unsere gegenwärtige Zivilisation in Blut und Verzweiflung untergeht oder ob sie Atem holt und sich die Zeit nimmt, wieder zu gesunden; oder ob sie mit dem Heraufziehen einer neuen intellektuellen und moralischen Auffassung von Gerechtigkeit und Vernunft ihren Abstieg an dem Abhang beendet und anfängt, neue Höhen zu erklimmen, die noch über das Beste hinausragen, was wir als menschliche Rasse bisher erreicht haben. Letzteres kann erreicht werden; es ist nur die höhere Natur des Menschen, seine Intuition und sein Sinn für Gerechtigkeit und Vernunft, nichts anderes, die das mit Sicherheit herbeiführen können: der innewohnende Gerechtigkeitssinn, das eingeborene Rechtsgefühl und die allgemeine Erkenntnis, daß Vernunft und nicht Gewalt den Ausweg bildet – und zu Sicherheit, Frieden und Fortschritt führt.

Die Geschichte zeigt uns mit ihrer stillen, aber ungeheuer mächtigen Stimme, daß es für uns absolut keinen anderen Ausweg gibt, daß es keine andere vollständige Lösung gibt, oder eine solche, die für alle verschiedenen Arten menschlicher Gemüter, für alle Arten menschlicher Charaktere, befriedigend ist. Freiheit für alle; jedes Volk sucht sein eigenes Heil entsprechend seinen eigenen Vorstellungen, jedoch in ethischer Richtung, begleitet von Vernunft und dem Wunsch, gerecht zu sein. Selbst ein vorurteilsfreies Eigeninteresse, das den individuellen Vorteil immer sofort erkennt, muß die allgemeinen Vorteile und Sicherheiten eines solchen Plans erkennen. Alle stabilen menschlichen Institutionen sind auf diese Intuitionen und Instinkte gegründet, und auf nichts sonst; wäre es anders, dann wäre unser Sinn für Ordnung und Recht, unser hoher Respekt vor nationalen und internationalen Gerichten eine gewaltige kollektive Täuschung und eine schändliche und elende Farce. Doch alle vernünftigen Menschen wissen, daß unsere Gesetze auf der Grundlage von Gerechtigkeit und unparteiischem Urteil, gepaart mit unpersönlichem Mitleid, errichtet sind.

Ich gehöre nicht zu den düsteren Pessimisten, die behaupten, der Mensch sei nur ein armer Wurm mit Instinkten, die aus seiner Verbindung mit dem Staube stammen, und mit Intuitionen, die jeder Grundlage entbehren, so daß er seine Probleme nicht befriedigend lösen könne. Er kann sie absolut lösen, wenn er nur den Willen dazu hat, es zu tun. Wir nähern uns tatsächlich dem Ende unserer Zivilisation und sind fasziniert und halten unseren Atem an, während wir die Auflösungserscheinungen beobachten; doch wir vergessen allzuoft, daß es eine fast gänzlich materielle Zivilisation war, in der die materiellen Dinge oft als die einzigen Dinge von dauerhaftem Wert zählten. Es gibt keine neuen Länder mehr, in die wir unsere jungen Leute zur Kolonisierung senden können, denn diese Länder sind alle aufgeteilt oder besetzt. Die Herrschaft der Gewalt und der materiellen Werte hat sich anstelle der Regeln internationaler Gerechtigkeit und allgemeiner Menschenrechte allgemein breitgemacht. Seit ungefähr 1800 Jahren gilt mehr oder weniger die Regel: laßt jeden an sich reißen, was er will; laßt jeden festhalten, was er kann. Das Verhalten der Völker der Erde beruhte zum großen Teil auf dieser rein materialistischen und egoistischen Grundlage. Wir säten den Wind, und wir ernten jetzt als eine Gruppe spirituell bankrotter Völker den Wirbelsturm.

Ist es nicht an der Zeit, daß die vorausblickenderen und intelligenteren Köpfe der Welt danach trachten sollten, daß Ruhe, Vernunft und unparteiische Gerechtigkeit fortan vorherrschen? Gibt es einen anderen und besseren Weg aus unseren Problemen und Schwierigkeiten, als sie weise zu lösen? Wenn die Menschen absichtlich nicht auf die Stimme der Vernunft hören, wenn die Menschen Gerechtigkeit bewußt nicht wünschen oder anwenden wollen, dann scheint es sicher, daß wir abwärtsgehen; und unsere Zivilisation, unsere großen Städte und die zahlreichen, im Laufe der Zeit ausgeführten Werke und Taten von Millionen Menschen, werden sich in Staub und Trümmerhaufen verwandeln. Kein Gott wird die Arena menschlichen Leids und absichtlicher Ignoranz betreten und uns unglückliche Sterbliche aus dem Weltelend herausziehen, das wir uns größtenteils durch fanatischen Eigennutz und durch unser willentliches Verlassen der Wege der Gerechtigkeit und des Friedens selbst geschaffen haben. Wir müssen uns selbst retten, und wenn wir dies in einer Weise tun, die den höheren Mächten gefällt, dann werden wir damit einen unabweisbaren Appell um ihre Hilfe und ihre Führung an sie richten, und wir werden diese empfangen. Herkules hilft dem Fuhrmann wirklich, aber nur, wenn der Fuhrmann sich selbst hilft, und zwar in der rechten Weise.

Es ist reinste Torheit und blanker ethischer und intellektueller Unsinn anzunehmen, die Menschheit sei mit ihrem Schicksal jetzt am Ende, nachdem das letzte Fleckchen Erde besetzt ist; daß es keine Zukunft für diejenigen mehr gäbe, die nicht von Anfang an da waren. Eine solche Annahme steht im Widerspruch zu allen Aufzeichnungen in den Annalen der Weltgeschichte. Wir müssen uns daran erinnern, daß nichts, keine Einrichtung, unveränderlich ist, auf ewig gleich bleibt, und daß die veränderlichen und ständig wechselnden Szenen der vergangenen Menschheitsgeschichte – und das ist die sichere Wahrheit – versprechen, daß die Zukunft ebenso reich an wechselnder kosmischer Szenerie und Veränderung der menschlichen Interessen und Tätigkeitsfelder sein wird wie die Vergangenheit. Die größten Völker der Erde waren nicht jene, die territorial die größten Gebiete besaßen, sondern eben jene, die an vorderster Stelle standen bei der Aufnahme von Ideen und bei der Anwendung progressiver Ideen zum Aufbau menschlicher Einrichtungen, die auf den Idealen unpersönlicher Gerechtigkeit und geschulter Vernunft beruhten; Ideale, die sie für gewöhnlich proklamierten, denen sie jedoch – leider – nicht immer folgten. Denn diese Ideale sind spirituelle Qualitäten, die in der Tat universal sind.

Lassen Sie uns unsere Herzen mit ewiger Dankbarkeit gegenüber den wachenden, wenn auch stillen, kosmischen Mächten erfüllen, so daß die Horizonte, die jetzt vor uns liegen, für die Menschen aus allen Erdteilen, ohne Rassen- oder Glaubensunterschiede, spirituelle und intellektuelle Horizonte sind, hinter welchen sich uns unbekannte Regionen von unendlich großer Ausdehnung erstrecken, die auf die Eroberung durch den menschlichen Genius warten, wenn wir den Empfindungen und Intuitionen der Seele die Zügel überlassen. Dann können Sie sehen, was vor uns liegt, wenn wir Gerechtigkeit herstellen werden, die nicht von Eigennutz motiviert ist, und wenn wir Ehrlichkeit und Wahrheitsliebe unter uns wirken lassen!

Eine der Hauptursachen und vielleicht der Hauptgrund unserer Schwierigkeiten nationaler und internationaler Art liegt darin, daß die Menschen im allgemeinen – mit vielen großen Ausnahmen – immer noch an Macht und Gewalt glauben und sie für den Weg zur Lösung unserer Probleme sehen. Solche Methoden haben nie dauerhaften Erfolg gebracht – und sie werden es nie tun. Gewalt gebiert Gewalt. Gewalt wächst durch Gewalt. Haß erzeugt Haß, Selbstsucht gebiert weitere Selbstsucht.

Es ist eines der Ziele, lassen Sie mich sagen, eine der Pflichten der Theosophischen Bewegung, den Menschen die einfachen Regeln der Vernunft zu zeigen; daß das Leben von den großen ethischen Instinkten der menschlichen Seele beherrscht sein sollte, die nicht auf menschlichen Konventionen gegründet sind, sondern auf die Ordnung der Struktur und Arbeitsweise der Natur selbst. Aus diesen ethischen Empfindungen entstehen die wegweisenden Regeln der Vernunft und unser Wille, Gerechtigkeit zu üben. Sie lehren uns, daß der ‘Ausweg’ in uns selbst liegt: nicht in unseren Armeen, noch in unseren Flotten, oder in den schrecklichen Methoden gegenseitiger Vernichtung, die vom bösen Geist des Menschen ersonnen wurden. Letztere sind nicht einmal zeitweilige Heilmittel, sie bringen keine befriedigende Lösung der Probleme. Bestenfalls sollte die Verteidigungsmaschinerie als Polizeimacht verwendet werden. Dann würde ihre Anwendung gerechtfertigt, weil sie dann für die Sache der Gerechtigkeit und nur mit Vernunft eingesetzt würde.

Unsere Probleme werden nie durch unser wahnsinniges Wettrüsten gelöst, das mit allgemeinem Mißtrauen, mit Furcht und Angst verbunden ist und mit einer Steuerüberlastung der Völker, die ihre Kräfte übersteigt und sie die Zustände beinahe hassen läßt, unter welchen sie leben müssen. Es ist die alte Torheit, die jetzt von allen erkannt wird, zu behaupten, daß durch die Anhäufung von Waffen und durch die Erfindung neuer entsetzlicher Zerstörungsinstrumente und durch zunehmende Anwendung zerstörerischer Gewalt der Krieg nach und nach so schrecklich würde, daß die Menschen aus furchtbarer Angst davor zurückschrecken. Von allen Torheiten und dummen Argumenten ist dies das Schlimmste, das die leidenden Menschen befallen hat.

Man wird Kriege auch nie aufhalten, indem man sich zu Vereinigungen oder Gesellschaften zusammenschließt und sich verpflichtet, den Kriegsdienst abzulehnen und ihn im Krieg zu verweigern. Diese Haltung ist meiner Ansicht nach völlig falsch. Wir mögen den idealistischen Mut und die idealen Gedanken der jungen Männer und Frauen bewundern, die dies, wie es scheint, tun. Aber sie übersehen, daß sie mit ihrer Ankündigung selbst eine Art Kriegserklärung an ihre eigene Regierung und Heimat abgeben, und wenn es Krieg geben sollte, verursachen sie dadurch Unordnung und innere Streitigkeiten untereinander.

Lassen wir die Jugend der verschiedenen Völker aller Länder das Beispiel für Treue und Loyalität geben, jede Jugend ihrer eigenen Regierung, womit sie die Stärke und den Wert des moralischen Ideals der Staatsbürgerschaft beweist. Lassen wir jedoch andererseits die Jugend den ihr innewohnenden Idealismus und die Ritterlichkeit, die die Welt dringend benötigt, zum Ausdruck bringen, indem sie laut und eindringlich ihre Stimme erhebt und sich machtvoll für die allgemeine Gerechtigkeit und Vernunft entscheidet auf dem Boden der bestehenden Gesetze. Auf diese Weise wird die Stimme der Jugend überall gehört, öffentlich und nichtöffentlich, denn das Pochen auf ihre Rechte als zukünftige Generation, die alsbald die Last der älteren Generation übernehmen muß, wird viele aufgeschlossene Ohren berühren, mehr als gezählt werden können. Novus ordo saeclorum! [Neuordnung der Zeiten! (der Übersetzer)]

Ich würde eine vollständige Abrüstung der Völker begrüßen, herbeigeführt durch gegenseitige Verhandlungen und Verträge, ersetzt durch eine internationale Flotte, deren Offiziere und Mannschaften turnusmäßig von Seeleuten und auch von Menschen vom Land der verschiedenen Völker gestellt und für diese Arbeit geschult werden. Ich würde gerne sehen, daß die Armeen der Welt auf relativ kleine nationale Polizeieinheiten reduziert würden. Die Aufgabe der internationalen Flotte bestünde in der polizeilichen Beaufsichtigung der Meere, in der Unterbindung von Piraterie und der Sicherung der Meere und der Wasserwege an den Küsten für den Handel der Völker der Erde. Es gibt nichts, was diese doppelte Errungenschaft des aufbauenden Geistes verhindern könnte – höchstens eine Psychologie, die jeder verabscheut und die alle fürchten: eine Psychologie, die sich lediglich dazu ausgebildet hat, eine Gewohnheit menschlichen Denkens zu sein.

Man kann nur hoffen und bitten, daß die führenden Menschen in der heutigen Welt, die die Schicksale der Völker mehr oder weniger in ihren Händen halten, aufhorchen und auf den Herzschlag und den nicht zum Ausdruck gebrachten wachsenden Willen der Völker nach einer dauerhaften Lösung ihrer Probleme hören. Wenn sie das tun, werden die Namen dieser Menschen in die Geschichte eingehen; sie werden weniger durch Standbilder und steinerne Denkmäler in Erinnerung bleiben, ihre Namen werden vielmehr bleibend im immerwährenden Gefüge der menschlichen Herzen verewigt. Ihr Andenken wird in künftigen Jahrhunderten weiterbestehen wie das Feuer der Liebe und Dankbarkeit, das in den Menschenherzen brennt.

Ich wiederhole noch einmal: eine Bruderschaft der Menschen, gegründet auf Vernunft und Gerechtigkeit und tätig für das Allgemeinwohl, für den Fortschritt aller, ist nicht nur durchführbar, sondern auch praktisch, und eines Tages wird sie unumgänglich sein. Warum also nicht JETZT die Fundamente dafür legen!

Wo zwei oder drei versammelt sind …

Es gibt einen alten Ausspruch, daß dort, wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, d. h. in der Gesellschaft des Geistes, der Geist mitten unter ihnen ist.

In diesem Ausspruch liegt eine große okkulte Wahrheit. Wenn Sie die zwei oder drei fünfzig- oder hundertfach multiplizieren und erkennen oder zu erkennen versuchen, daß die Kraft eines vereinten spirituellen Willens und Verstehens sehr viel Gutes in der Welt bewirken kann, und wenn Sie sich dies als ein hilfreiches und ermutigendes Ideal vor Augen halten, dann, so glaube ich, werden Sie mit mir fühlen, daß wir in den theosophischen Zusammenkünften nicht nur unsertwegen zusammenkommen, um Trost, Ermutigung und inneres Licht zu erhalten, sondern, daß wir uns, wo immer diese Versammlungen stattfinden, als Kandidaten versammeln, die sich vorbereiten, um sich den höchsten Vertretern der menschlichen Rasse anzuschließen.

In diesen Worten liegt vielleicht mehr, als es an der Oberfläche erscheint.