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Die Götter warten

Vorwort

Zu lange waren wir Hörige der „blindmachenden und lähmenden Tyrannei von Glaubensbekenntnissen und Dogmen“. Es wird Zeit, aus dem Schatten von Angst und Selbstzweifel herauszutreten und „die Freiheit in Anspruch zu nehmen, die weite, süße Luft des Lebens einzuatmen und die Unendlichkeit in uns selbst zu finden; …wir sind unsterblich, Erben alles Guten im Universum“ (Seiten 12-13). Die Götter warten von Katherine Tingley ist eine dringende Aufforderung an uns alle, genau das zu tun. Es ist der leidenschaftliche Appell aus dem mitleidsvollen Herzen eines Menschen, der unermüdlich daran gearbeitet hat, die Würde und Hoffnung für jene wiederzuerlangen, die seelisch und körperlich enterbt waren; es ist ihre Verteidigung der Erkenntnis, daß jeder Mensch – ganz gleich, in welchen Verhältnissen er lebt oder wie er gestrauchelt und gefallen sein mag – von göttlicher Abstammung ist, zu unermeßlichen Erkenntnissen fähig, wenn nur seine feineren Impulse gefördert und seine niedrigeren Instinkte gezähmt und kontrolliert werden.

Das Material zu diesem Buch stammt aus improvisierten Ansprachen Katherine Tingleys, die sie vor vollen Hörsälen in Europa und Amerika und vor ihren Studenten gehalten hat. Als inspirierte Rednerin forderte Katherine Tingley ihre Zuhörer zu erhabenen Höhen heraus, von denen sie niemals gedacht hätten, sie erreichen zu können. Wenn man die Seiten aufs Geratewohl durchblättert, so wird man den Schimmer reiner Inspiration finden, praktische Weisheit, freimütige Kommentare, Verständnis, Größe der Vision und, in bezug auf das Ganze, eine völlige Identität mit jenen, die leiden.

Sie war von Natur aus und durch ihre Handlungsweise ein Altruist. In den frühen neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts errichtete sie in New York Citys East Side Suppenküchen und soziale Hilfsstationen, und später gründete sie philanthropische Organisationen für Waisenkinder, unverheiratete Mütter und notleidende Familien. Nach vielen Jahren der Unterstützung von Armen und Behinderten wurde sie durch die ungeheure Aufgabe immer mehr entmutigt, die schrecklichen Lasten derjenigen zu lindern, die in Lebenslagen gefangen waren, die sie nicht mehr kontrollieren konnten. „Mir brach fast das Herz, als ich so viel entsetzliches Elend sah und wußte, daß alles, was ich tun konnte, erbärmlich wenig war, zu unwirksam, um sie aus ihrem momentanen Elend herauszuholen und sie vor gleich Schlimmem oder gar noch Schlimmerem morgen oder am nächsten Tag zu bewahren“ (Seite 61).

Während des Streiks der Textilarbeiter von 1892-1893 in New York City wurde sie eines Tages von William Q. Judge1 zu Hause angerufen. Als stummer Zeuge ihres sozialen Engagements hatte er intuitiv erfaßt, daß sie nach einer befriedigenden Erklärung für die ihr täglich begegnenden grausamen Ungerechtigkeiten suchte, nach einer Philosophie, die nicht nur umfassend und mitleidsvoll genug war, um unabhängiges Denken zu erlauben, sondern auch praktisch genug, um sich mehr mit den Ursachen als lediglich mit deren Auswirkungen zu befassen. Er erzählte ihr von Theosophie mit ihrer umfassenden Weltanschauung; daß ein Funke des Göttlichen im Geringsten genauso wie im Größten wohnt, in jeder Lebensform sämtlicher Naturreiche. Das fesselte ihr Interesse, denn für sie war die Natur ein heiliger Tempel, jeder Teil ein lebendiger Gott, für einen göttlichen Zweck auf Erden inkarniert. Sie nahm die Idee der Reinkarnation als eine gerechte und mitleidsvolle Sache bereitwillig an, die jedem eine Chance gewährte, nicht nur seinen Charakter zu erneuern, sondern auch Unrecht, das man sich selbst und anderen angetan hatte, wieder auszugleichen; und auch die Idee von Karma – was ihr säet, das werdet ihr ernten – als ein auf allen Ebenen wirkendes universales Gesetz, ob es die Reiche der Götter oder die Welt der Moleküle und Zellen betrifft, akzeptierte sie. Was die heimgesuchte Seele betrifft, so hat jeder Mensch, ganz gleich wie tief er gesunken sein mag, in sich einen göttlichen Funken und die gottgegebene Kraft, aus seinen Fehlern zu lernen und sich selbst zu ändern. Wir brauchen keinen Vermittler, um unsere Seele zu retten: wir sind unsere eigenen Zerstörer oder unsere eigenen Retter.

Mit einer solchen Lebensphilosophie änderte sich ihre Einstellung und ihr Leben grundlegend. Sie trat in die Theosophische Gesellschaft ein und wurde eine enge Mitarbeiterin von Judge. Als er im März 1896 starb, folgte ihm Katherine Tingley als offizielle Leiterin der TG. Innerhalb weniger Monate unternahm sie eine Weltreise; während dieser Reise veranstaltete sie „Bruderschafts-Speisungen“, wo immer es möglich war. Mit ihrem bewegenden Bericht über ihr Treffen mit H. P. Blavatskys Lehrer in Indien „wurde uns ein Talisman übergeben“ (Seite 125). Sie merkte alle diejenigen vor, die sie später einladen wollte, ihr nicht nur beim Aufbau eines internationalen Zentrums für Theosophisches Licht zu helfen, sondern auch beim Aufbau einer Schule für Kinder, von der sie schon lange geträumt hatte. Als sie über Point Loma in Kalifornien, wo sie Land für künftige Zwecke gekauft hatte, nach New York zurückkehrte, gründete sie das Internationale Bruderschaftsbündnis, um ihre philanthropischen Aktivitäten zu festigen und zu erweitern. Sie reorganisierte die Gesellschaft unter dem Namen „Universale Bruderschaft und Theosophische Gesellschaft“, während sie unentwegt ihr Hilfswerk weiterführte, wo die Not am drängendsten war.

Im Jahre 1900, als die Internationale Hauptstelle der Gesellschaft von New York City nach Point Loma verlegt wurde, wurde ihre Kindheitsvision von einer Stadt im Goldenen Westen langsam, aber sicher, verwirklicht. Hier wollte sie eine Gruppe von Menschen in der Atmosphäre der Mysterien des alten Griechenland schulen, wobei Musik, Theater und die Künste ein wesentlicher Teil des Lehrplans ausmachen würden, der auch von hohen ethischen Grundsätzen durchdrungen sein sollte. In dieses Zentrum wurden Poeten, Schriftsteller, Erzieher, Geschäftsleute, Minister, Ärzte und gelernte und ungelernte Arbeiter eingeladen. Sie kamen als „Studenten“, um zu lernen und ihre Hingabe und ihre Talente für den Bau eines Erziehungszentrums für Kinder und Erwachsene anzubieten, das alle ihre spirituellen, mentalen, moralischen und physischen Fähigkeiten zum Erblühen bringen würde. Es wurde erhofft, daß sich die höchsten Ideale des Menschentums dort verwirklichten und daß die Schule den Tag verkündigen würde, an dem Kriege und ihre Frucht des Bösen undenkbar wären, und Frieden und Bruderschaft überall praktiziert würden.

Ein Hauptaugenmerk ihrer philanthropischen Arbeit legte sie auf die Arbeit in Gefängnissen – die Ursache und die Heilung von Kriminalität und die Wiedereingliederung von Gefangenen waren ein Anliegen, das sie ganz in Anspruch nahm. Von 1911 bis 1929 wurde The New Way [Der neue Weg] herausgegeben, eine acht Seiten umfassende Zeitschrift, die an „Gefangene und andere, ob hinter Gittern oder nicht“ unentgeldlich weitergegeben wurde. Die Herausgeber vermittelten theosophische Ideen in vielfältiger Form, hoben die Eigenverantwortlichkeit hervor, und daß Besserung, ungeachtet dessen, wie schrecklich das Verbrechen auch war, immer möglich sei, wenn jemand den Willen und den Wunsch hätte, sein Denken und seine Einstellung zu ändern.

Wahrscheinlich stand Katherine Tingley nichts näher als Frieden, denn ohne ihn kann es keine Stabilität geben; ohne Stabilität leiden das Familienleben und die Kinder. Alles ist eng miteinander verbunden. Ihre persönliche Begegnung mit „den Schrecken des Krieges“ in sehr jungen Jahren und seine herzlosen und die Menschen verkrüppelnden Auswirkungen hatten nachhaltige Narben in ihrer sensiblen Natur hinterlassen. Der Schrecken und das Leid, deren Zeuge sie bei Soldaten auf beiden Seiten während des Bürgerkrieges geworden war, hatten sie zu einem glühenden Befürworter des Friedens und der Bruderschaft unter allen Nationen und Rassen gemacht und verstärkten ihre Überzeugung, daß Kinder in frühem Alter die Verheißung der Schönheit und des Friedens erfahren sollten, bevor sie von dem „Ruhm“ der Schlacht verdorben würden. Unter ihren Bemühungen um den Frieden war eine Reihe von Friedenskongressen und -parlamenten zwischen 1913 und den 1920er Jahren bemerkenswert.

Tingleys wohltätige Anliegen waren Legion, ihre Art, Theosophie „unermeßlich nützlich“ zu machen, wo immer es am notwendigsten war: gegen Vivisektion und ihre verheerenden Mißbräuche; gegen die Todesstrafe – nicht nur, um den zum Tode Verurteilten die Möglichkeit zu geben, zu leben und ihr Leben neu zu gestalten, sondern auch wegen ihres entwürdigenden und manchmal verhängnisvollen Einflusses auf die Menschheit, mitunter sogar auf die Ungeborenen; und gegen das vorherrschende Kriegssyndrom, daß jeder Gesinnungskonflikt zuletzt mit Gewalt zu lösen wäre. Kein Detail war in ihren Augen zu unwichtig, um nicht wenigstens überprüft zu werden, keine Idee zu grandios für sie, um nicht einen Versuch zur Hilfe zu unternehmen, wenn der Zeitpunkt dafür richtig war.

Als im Jahre 1926 The Gods Await [Die Götter warten] zum ersten Mal veröffentlicht wurde, löste dieses Buch Begeisterung aus und wurde in verschiedene Sprachen übersetzt; aber nach 3 Jahren starb die Autorin und ihre Bücher wurden mit der Zeit nicht mehr aufgelegt. Heute, sechs Jahrzehnte später, wird Katherine Tingley von vielen Menschen für ihre praktische Darlegung grundlegender theosophischer Ideen in klarer, inspirierender Sprache und für ihre verständlichen Beispiele bezüglich Familienleben und Erziehung geschätzt. Um diesem Bedürfnis gerecht zu werden, hat die Theosophical University Press eine überarbeitete Ausgabe von The Gods Await als Begleitband zu dem ersten Buch der Autorin Theosophy: The Path of the Mystic (3. Ausgabe 1977) [Theosophie: Der Pfad des Mystikers] herausgegeben. Die Überarbeitung wurde mit der einfühlsamen Fachkenntnis von Sarah Belle Dougherty und den Mitarbeitern des Redaktions- und Verlagsstabes der TUP geleistet. Beide Bücher tragen die wunderbare Botschaft weiter, daß wir Menschen keine Sünder sind, nicht zum Versagen verurteilt, sondern Wesen des Lichtes, verwandt mit den Unsterblichen, fähig zu großartigen Siegen der Seele, wenn wir nur wagen, an unser göttliches Selbst zu glauben.

– GRACE F. KNOCHE

Pasadena, Kalifornien

21. März 1992

Fußnoten

1. Mitbegründer der Theosophischen Gesellschaft und Generalsekretär der Amerikanischen Abteilung. [back]