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Die Herausforderung des Sommers

"Was könnte kostbarer sein, als ein Tag im Juni? Es kommt nun die schönste Zeit, ..." singt der Dichter und bezieht sich damit auf den strahlenden Glanz dieses in der Jahresmitte liegenden Monats. Es ist auch eine Zeit der Sonnenwende, wenn die Sonne auf ihrer Umlaufbahn den nördlichsten Punkt erreicht und innehält, bevor sie sich nach Süden wendet. Sie schenkt uns lange Tage, um über die Herrlichkeit von Erde und Himmel nachdenken und uns daran erfreuen zu können - sie hält ein und lockt uns, unsere Fenster und Türen zu öffnen und das Licht hereinzulassen, oder besser noch, um die Tore unserer Seele zu öffnen. 

Es ist bezeichnend, daß der Jahresbeginn einst mit einem Sühneopfer für Janus gefeiert wurde, den zweigesichtigen römischen Gott, der sowohl in die Zukunft als auch in die Vergangenheit blickt, während im Juni die Konstellation Gemini, die Zwillinge, regiert. Dieses Tierkreiszeichen weist auf die Vielseitigkeit hin, und ebenso auf die Harmonisierung der Konflikte, mit denen wir fast täglich konfrontiert werden, auf die beiden Kräfte Licht und Finsternis. Diese Vorstellung wurde sehr geschickt in den griechischen Mythos von den Zwillingen Castor und Pollux eingeflochten. Sie sind die allgemein bekannten Sinnbilder von Sonne und Mond, aber auch von Licht und dem Widersacher des Lichtes. In einer Version der Allegorie wurden diese Zwillinge Symbole für die duale Natur des Menschen: Der unsterbliche Geist, Pollux, ist der Sohn des allmächtigen Gottes Zeus, während sein menschliches Gegenstück, Castor, der Sohn derselben Mutter, Leda, und des sterblichen Königs Tyndareus von Sparta ist. 

Ihre Verwandtschaft ist ergreifend in einer Erzählung beschrieben, die eingehend über einen Unglücksfall berichtet, der sich während ihres Kampfes mit den Söhnen des Aphareus ereignete. Obgleich beide Brüder heroisch kämpften und siegten, wurde Castro dennoch tödlich verwundet. Pollux, in höchster Verzweiflung über den Verlust seines Bruders, flehte Zeus an, ihm zu erlauben, ebenfalls zu sterben. Der König der Götter erinnerte jedoch seinen Sohn: "Du kannst überhaupt nicht sterben, weil du von göttlichem Geschlecht abstammst." Er bot ihm jedoch die Wahl an: entweder könnte er, Pollux, unsterblich bleiben und ewig unter den Göttern im Olymp verweilen, oder er könnte Castors Schicksal teilen und sich dem Alter und dem Tod unterwerfen, und die eine Hälfte seines Lebens auf Erden verbringen und die andere Hälfte in himmlischen Gefilden. Ohne zu zögern wählte Pollux das letztere, und opferte damit eine Ewigkeit von Frieden und Glückseligkeit, um seinen Bruder wieder zu beleben und ihm einen Teil seiner eigenen göttlichen Natur zu geben. 

Auch andere Erzählungen über mythische Zwillinge enthalten diesen Gedanken der Dualität und lassen die erhabene Größe erkennen, die aus der harmonischen Lösung von Konflikten zu ersehen ist. Man fragt sich, ob dieser Gedanke auch bei jenen eine Rolle gespielt haben könnte, die an den Torwegen Doppel- oder Zwillingssäulen aufstellten, um damit den Eintritt des Pilgers auf dem Pfad des Lichts anzudeuten. Das erinnert an die Toreingänge vor japanischen Shintotempeln oder an die beschrifteten ägyptischen Eingangstore und die massiven Trilithen von Stonehenge. 

Diesen Pfad beschreiten wir bewußter, wenn wir die reifen Sommerjahre unseres Lebens erreichen, wo, anstatt nach Vorteilen für uns zu suchen, unsere Interessen in erster Linie auf das Wohlergehen anderer gerichtet sind, auf unsere Familie, unsere Gemeinschaft, und vielleicht auch auf die nähere und weitere Umgebung, und die Bruderschaft der ganzen Welt. 

Wenn wir einst diese Schwelle überschreiten, nähern wir uns der mystischen Sommersonnenwende, jener Zeit, in der man zufolge vieler Überlieferungen die Regungen der Seele spüren kann. Wenn man dann innehält und sich öffnet, kann man das Wunder und die Einheit des Lebens erkennen. Dann verschwinden wie durch einen Zauber alle Wolken, und wir sehen unerschrocken in die Zukunft. 

Der Sommer hat jedoch seine eigene Herausforderung. Mit Blitzschlägen und Wolkenbrüchen stellt er unsere Entschlossenheit auf die Probe: Sind wir wirklich mit allem eins? Können wir tatsächlich Licht über das Dunkel breiten? Nach dem Kampf kommt Friede und jene "schönsten Tage" des Poeten, wenn die Natur, wie es scheint, der Sonne dankt, die unserem Leben so viel Kraft schenkt.