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Die Mysterien in der Höhle von Naj Tunich

Höhlen mit ihrem geheimnisvollen Dunkel sind ideale Plätze zum Aufbewahren von Berichten und für Initiations-Erfahrungen. Die unzähligen Legenden über Welt-Erlöser, die in "unterirdischen" Höhlen oder in Krippen geboren wurden, beziehen sich in Wirklichkeit sowohl auf die Zeit als auch auf den Ort, wo diese Großen sich spirituellen Prüfungen unterzogen und "neugeboren" und erleuchtet daraus hervorgingen. Dazu ist die Zeit der Wintersonnenwende günstig, wenn die Sonne in der "Höhle" der südlichen Konstellation verweilt; der Ort ist ein abgelegener, geschützter Platz, frei von weltlichen Einflüssen und Ablenkungen. 

Höhlen wurden auch für geheime Instruktionen benutzt. Ihre unheimlichen Formationen, ihre steilen, labyrinthischen Gänge und ihre oft atemberaubende Schönheit erzeugen Gefühle der Ehrfurcht und der Transzendenz, wodurch das Gemüt geöffnet und zum besseren Verständnis metaphysischer Gedanken vorbereitet wird. 

Man denkt sofort an Indiens majestätische Höhlentempel in Ellora, Elephanta und Ajanta. Sie sind so ausgezeichnet behauen und mit Szenen aus alten Götterlegenden bemalt, daß man dem Schreiber gerne zustimmt, der sagte: "Sie bauten wie Riesen und vollendeten wie Künstler!" Der unvergängliche Felsen bewahrt hier Lehren, die noch immer die Kraft haben zu inspirieren, obwohl sie bereits vor Jahrhunderten mitgeteilt wurden. 

Man erinnert sich dabei auch an Irlands "Heilige Hügel"1, in deren geräumigem Inneren symbolische Variationen aus Kreisen, Dreiecken und Winkeln aus Megalithen bezeugen, daß diese unterirdischen Räume von "Menschen des Friedens" benutzt wurden, um "begünstigten" Sterblichen Kenntnisse über die höheren und niederen Reiche des Kosmos mitzuteilen. 

Ein vor kurzem im urwaldüberwucherten Gebiet von Petén, im Norden Guatemalas entdeckter und erforschter Komplex, bestehend aus einer Höhle und drei Pyramiden, diente anscheinend demselben Zweck. Der Name ist Naj Tunich ("Steinhaus" oder "Höhle"). Seine Hieroglyphen-Texte, Malereien und Kalender-Glyphen deuten durch ihre Ähnlichkeit mit Mysterien-Inschriften und Symbolen anderer archaischer Kulturen darauf hin, daß diese Höhle während des goldenen Zeitalters der Maya-Kultur vor etwa 1200 oder mehr Jahren für den gleichen Zweck benützt wurde. Obwohl viele Glyphen rätselhaft bleiben, sind die vollendeten künstlerischen Zeichnungen und die Anordnung der Gänge und Räume faszinierend. 

Um in die Höhle zu gelangen, muß man durch eine Reihe von stalaktitischen "Wasserfällen" (hängender Tropfstein) gehen, die für den Ängstlichen wie der Rachen des gefürchteten Erdungeheuers aussehen, das einen Menschen verschlingt und in die Hölle befördert; aber für den Mutigen ist ihr gleißendes Schillern wunderbar. Ist man den Großen Weg bis zur Gabelung gegangen, folgt man dann entweder dem weitläufigen Zeremonien-Gang zur Halle von Balam (dem Jaguar) und geht weiter durch den Raum der Kristallsäulen bis zur Musikerhalle; oder man nimmt den anderen Weg, und geht durch den Träger des Feuerraums zur Quelle des Schweigens. Den ganzen Weg entlang nehmen die Bilder und Inschriften an den Säulen und Kalksteinwänden unsere Aufmerksamkeit gefangen. Es ist als ob einige Künstler in vergangenen Zeiten versucht hatten, durch diese ungewöhnlichen Darstellungen die Wahrheiten über das Universum und den Menschen, die die Hierophanten auf der ganzen Welt mitgeteilt und bewahrt haben, in Allegorien und Symbolen auszudrücken. 

bild sunrise 31983 s137 1Da ist zum Beispiel das Bild eines Mannes, der mit gekreuzten Beinen vor einer Muschel sitzt (Fig. 1), deren spiralförmige Windungen zu sehen sind. Betrachtet man seinen in Kontemplation versunkenen Gesichtsausdruck, möchte man gern wissen, welche Gedanken sein Gemüt erfüllen. Könnten sie sich auf die Wasser des Raumes beziehen? Muscheln sind in den Mysterien-Lehren von Mayas und von anderen Völkern verwendet worden, um auf die ätherische Matrix (Grundsubstanz) hinzuweisen, aus der die Universen geboren werden. Oder denkt er über die Regionen der "Unterwelt" nach, wo nach mexikanischem Glauben die Sonne "täglich stirbt und wiedergeboren wird", und wo sich die unzähligen Lebensformen entwickeln und jede Form zu ihrer Zeit daraus hervortritt? Oder beschäftigt er sich mit Problemen der Zeit, mit den Geburts- und Todeszyklen, durch die jede Seele ihrer letzten Vollendung entgegengeht? Die Zeit hat die Mayas fasziniert. Durch ihr Studium erwarben sie immer größere Kenntnisse, die Verfinsterungen und die Bewegungen der Himmelskörper aufzuzeichnen. Dadurch kamen sie auch zu der Überzeugung, daß die Tage und Zahlen ihres Kalenders "Stationen" für die Götter sind, die in einer Prozession den anfanglosen und endlosen spiralförmigen Pfad der Zeit gehen. 

Interessant ist die Erwähnung des Jaguars. In der mittelamerikanischen Tradition stellen diese Tiere für den Novizen die Mächte der Dunkelheit und andere weltliche Gefahren dar, denen er entgegentreten und von denen er sich befreien muß. Für den Weisen sind Jaguare jedoch Aspekte des Sonnengottes, die während der Nacht über Dörfer, Straßen und Eigentum wachen, während kosmisch gesprochen, der legendäre weiße Jaguar die Handlungen der vier himmlischen Jaguare überwacht. Anscheinend sind letztere mit Indiens vier Maharadschas und mit den griechischen, den christlichen und anderen Weltenlenkern vergleichbar, die die himmlischen Intelligenzen personifizieren, welche die vier Hauptpunkte, die vier Regionen des Raumes beherrschen, und die vier Jahreszeiten, die vier Winde usw. lenken. 

Die Glyphe eines unter seiner Last des Feuers gebeugten Mannes ist ergötzlich und ergreifend. Anscheinend empfindet er "Feuer", d. h. Intelligenz, als eine ebenso gewaltige Last wie wir, wenn wir versuchen, unsere Gedanken zu kontrollieren und zu veredeln - eine gewaltige Aufgabe, wie in der Geschichte von den göttlichen Zwillingen im Popol Vuh zu lesen ist. Als diese sich den Initiationsprüfungen in der Unterwelt unterzogen, wurde ihnen die unmögliche Aufgabe gestellt, das Feuer von Zigarren die ganze Nacht hindurch brennend zu erhalten. Es gelang ihnen mit der Hilfe von Glühwürmchen. Später wurde ihnen empfohlen, ein Feuer im Herzen und "Wärme im Herzen eurer Großmutter" zu bewahren. Feuer bedeutet außer Intelligenz noch Reinigung und spirituelle Erleuchtung - wie das Wasser der Schweigenden Quelle. 

Auch die Musiker sind erstaunlich, die hier so realistisch gemalt sind, als gingen sie, ihre Pfeifen und Trommeln spielend, durch die Höhle. Beide Instrumente stammen aus den Vorzeiten Amerikas und anderer Länder, in denen sie verschiedentlich das göttliche Wort (Logos) symbolisierten, oder die Stimme, die die Welten ins Dasein sang und seither durch Musik mächtigen Einfluß auf die elementaren Kräfte der Erde, auf Feuer, Wasser, Holz und Metall ausübt. Vielleicht würden uns diese Musiker aus Guatemala in die immateriellen Bereiche führen, in denen Wahrheit und Schönheit wohnen, und uns zeigen, welch unerwarteter Gewinn entsteht, wenn wir unser Leben mit den Harmonien der Natur in Übereinstimmung bringen. 

Interessant ist, daß die Chinesen glauben, daß, wenn ein Holzinstrument neunmal geblasen wird, ein Phönix - jener liebliche Vogel der Güte, des Friedens und des Glücks - aus dem Blau des Himmels erscheinen wird. Neun ist die Zahl, die in Naj Tunich an die Wand über dem schwarzen Ball gemalt ist; und in der Kosmologie der Mayas gibt es neun Herren der Nacht, die vom Feuergott angeführt in den neun Ebenen der Unterwelt wohnen. Bei den Numerologen ist die Neun die glücksverheißende und allmächtige 3x3 des dreifachen Dreiecks und stellt Anfang, Ende und die Gesamtheit oder Erfüllung, Vollendung und das Gelingen dar. 

bild sunrise 31983 s139 1Ballspiele sind in Naj Tunich zweimal abgebildet. Wie alle Bräuche und Riten der Mayas ist dieses Spiel zweifellos ihrem Verständnis der universalen Gesetze nachempfunden. Tatsächlich scheinen die meisten Zeichnungen in Naj Tunich Kenntnisse zu illustrieren, die im Popol Vuh angedeutet sind. Das Popol Vuh ist das alte Buch des Rates der Maya, das die Geheimnisse der Schöpfung, den Ursprung und die Zukunft der Götter, sowie die Einweihungsprüfungen und Erlebnisse erklärt, denen jeder Mensch begegnen wird, der dem Weg der Wahrheit folgt. Es ist auch die einzige Quelle der Eingeborenen, die die ethnologische Vorzeit und die symbolische Bedeutung des Ballspiels beschreibt. 

Der Überlieferung zufolge kann das Spiel mit verschiedenen Bedeutungen gespielt werden. Die Spieler, die kunstvoll gearbeitete und möglicherweise symbolische Insignien tragen (Fig. 2), personifizieren die himmlischen Götter der Sonne oder der Sterne oder des Mondes, der Venus, oder die Herren der Unterwelt, irdische Könige oder gewöhnliche Menschen. Wenn die Götter mit anderen Göttern oder mit Sterblichen kämpfen, deutet das Spiel einen Aspekt des ewigen Konflikts zwischen Gut und Böse an; wenn Menschen gegen Menschen aufgestellt sind, kann damit ein historischer oder psychologischer Kampf geschildert werden. 

Der Ball stellt gewöhnlich Kopf und Herz von Sonne oder Mond, oder die heilige Essenz eines Gottes dar. Im Naj Tunich-Spiel deutet die Glyphe Neun über dem Ball wahrscheinlich darauf hin, daß dieses besondere Spiel mit den neun Herren der Nacht, und deshalb mit der Initiation verbunden ist, die rituell durch das Todesopfer, die spirituelle Wiedergeburt und durch die Befruchtung des Lebens geschildert wird. 

Der Ballspielplatz wird durch den "Weg der Sonne", von ihrem Aufgang im Osten bis zu ihrem Untergang im Westen, in ein nördliches und ein südliches Spielfeld geteilt. Das stimmt mit der Maya-Vorstellung überein, daß unsere Welt - die wir mit unseren Sinnen erfassen - aus einer großen Quadratischen Ebene besteht, in deren Mitte ein großer Kapokbaum (ceiba pentandra), Lebensbaum, wächst, dessen Wurzeln in die vielschichtige Unterwelt hinabreichen und dessen Laubwerk bis zu den vielen Himmelsebenen hinaufragt. Sie glauben, daß aus diesen höheren und niederen Regionen verschiedene Energien fließen, die die Menschen verstehen und nützen lernen werden, wenn die menschliche Gemeinschaft spirituell entwickelt sein wird. 

In Übereinstimmung mit dem Popol Vuh wurde das "Spiel" zusammen mit vielen Kunstfertigkeiten und wissenschaftlichen Erkenntnissen in den frühen Zeiten der Vorgeschichte von einem der sieben Ahpú (Sonnengötter, die menschliche Wesen wurden) ersonnen und der Menschheit übergeben. Es heißt, daß von diesen Ahpú je zwei aus der östlichen und aus der westlichen Region des Kosmos kamen. Sie trafen sich auf dem Ballspielplatz und formten sich zu einem Wesen, dem Herzen des Himmels - dem Ball. Dann teilten sie sich in die verschiedenen Spieler, ohne ihre göttliche Individualität zu verlieren. Sie spielten das Spiel, indem sie den harten Gummiball mit ihren Hüften und Hinterteilen von einem Ende des Platzes zum anderen stießen. Da der Ball den Sonnengott repräsentierte und abwechselnd zum Haupt jedes Wettkämpfers wurde, kostete jede Berührung des Balles mit dem Kopf, den Händen oder den Füßen, sowie das Fallenlassen auf die Erde Strafpunkte. Am Ende des Spiels läßt sich der "Gewinner" bereitwillig feierlich enthaupten und erhält damit Zugang zur Unterwelt. 

Diese und spätere Ereignisse sind auf den Wänden des südlichen Ballspielplatzes im religiösen Zentrum von El Tajín ("Platz des Lichtes" oder "Platz der unsichtbaren Wesen") in Veracruz dargestellt. Eines der Bilder zeigt den sich opfernden Spieler - kurz bevor er enthauptet wird - in meditierender Haltung, Musiker spielen, und ein Adler tanzt. Eine andere Szene zeigt ihn enthauptet mit sieben Schlangen, die seinem Nacken entsteigen (eine Erinnerung an die sieben prânas oder Lebenskräfte der Hindu?). Der Ball, nun ein Schädel, liegt zu seinen Füßen. In den beiden letzten Bildern ist der heldenhafte Initiand wieder heil und steht als halbgöttliches Wesen vor den Göttern. Er erbittet von ihnen einen Topf voll Pulque (gegorener Agavensaft) für sein Volk, durch das die Menschen Visionen haben können, und Kunde vom Leben nach dem Tod, und über die Gottheiten erhalten. Entgegenkommend gibt ihm der Regen-Gott ein volles Maß von seinem nährenden Blut, d. h. von seiner göttlichen Lebenskraft. 

Welch originelle Art, die spirituelle Initiation darzustellen. Der Neophyt erwirbt zunächst auf dem Platz des Lebens durch schwierige Prüfungen Kenntnisse und unterzieht sich dann voll Eifer der höchsten Prüfung, dem Tod. Doch anstatt zu sterben, verliert er seine menschliche Persönlichkeit, seinen Kopf oder seine Maske, und gewinnt stattdessen seine wahre, göttliche Identität, oder seinen göttlichen Kopf, und wird unverzüglich zum Träger und Kanal für lebenspendende Wahrheiten. 

Die Erklärung des Popol Vuh über den Ursprung des Ballspiels - von den sieben Sonnengöttern, die sich zu dem Einen vereinigen, sich wieder in die Spieler aufteilen und durch die Veredelung und die Fertigkeit des "Gewinners" wiedervereinigen - deutet auf zwei tiefgründige philosophische Vorstellungen hin: Erstens, wie aus dem Einen das Viele wird, und wie das Viele wieder zu dem Einen wird, was auf der menschlichen Ebene die höchste Erfüllung für den strebenden Pilger bedeutet: Vereinigung oder Einssein mit dem Göttlichen. Zweitens, die Immanenz des Göttlichen in der verschiedenartigen Manifestation des gesamten Lebens, d. h. auf dem Ballspielplatz, dem Feld der Tätigkeit der vierfältigen Energien der sieben Sonnengottheiten. Dieser Gedanke wird nochmals betont durch die Teilnahme eines Zwerges an dem Spiel, denn bei den klassischen Maya-Skulpturen, den Vasenmalereien und Flachreliefs bedeuten Zwerge Götter. Der Zwerg in Naj Tunich ist sicher etwas Besonderes, nach seinem Haarknoten und der Krone zu urteilen, die wie das orientalische ushnísha oder der Heiligenschein, weltweite Embleme der Männer und Frauen sind, die spirituell erwacht sind und mitleidsvoll handeln. 

Wenn man das alles bedenkt, erhält man aus dem Studium von Naj Tunich das Gefühl, daß zwar das volle Ausmaß der hier verborgenen Wahrheiten noch verborgen ist, diese Entdeckung aber eines der einzigartigsten und möglicherweise wichtigsten Kapitel im ungeschriebenen Buch der Maya-Traditionen enthüllt. 

 

 

Quellen: 

Esotericism of the Popol Vuh, Raphael Girard, Theosophical University Press, Pasadena, California, 1979. 

The National Geographic Magazine: "Man's Eighty Centuries in Veracruz", S. Jeffrey K. Wilkerson, August 1980; "Maya Art Treasures Discovered in Cave", George E. Stuart, August 1981; "The Maya, Children of Time", Howard La Fay, Dezember 1975; "The Maya: Riddle of the Glyphs", George E. Stuart, Dezember 1975; "A Traveler's Tale of Ancient Tikal", Alice J. Hall und Peter Spier, Dezember 1975. 

Illustrations: entnommen aus National Geographic, August 1981. 

Fußnoten

1. Siehe "Die Mysterien im alten Irland", Sunrise, Heft 2/1982. [back]