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Saat und Frucht des Mitleids

Es haben wohl wenige einen so tiefen Einfluß auf das Schicksal der Menschheit ausgeübt wie die Erleuchteten, die zwar Allwissenheit und die Seligkeit Nirvanas erreicht hatten, aber dennoch von den Höhen zurückkehrten, um in den Vorgebirgen mit ihren jüngeren Brüdern, die noch in Unwissenheit und Verwirrung kämpfen, zu leben. Sie sind Vorbilder in der Liebe, die sie durch Äonen für alle Lebewesen entwickelt haben, und gehören zur Heiligen Hierarchie des Lichtes. Ihr Opfer bleibt auch heute noch ein Leuchtzeichen in der Dunkelheit des menschlichen Lebens.

Das Mitleid spricht und sagt: "Kann Seligkeit bestehen, wenn alles, was da lebt, leiden muß? Sollst du errettet sein und den Schmerzensschrei der ganzen Welt hören?" ...

Der PFAD ist einer nur, oh Schüler, doch er gabelt sich am Ende. Seine Teilstrecken sind durch vier und sieben Tore gekennzeichnet. An einem Ende steht unmittelbare Seligkeit, am anderen ist sie noch hinausgeschoben. Beide sind des Lohnes wert. Die Wahl jedoch mußt du selbst treffen.

- Die Stimme der Stille (englische Ausgabe S. 71 und 41)

In diesen Fragmenten, die aus dem "Buch der goldenen Regeln" ausgewählt wurden, hat H. P. Blavatsky die Quintessenz aus Buddhas Lehre zum "täglichen Gebrauch" für die heutigen Schüler weitergegeben, damit wir vom ersten bis zum letzten Schritt das Karma aufbauen, das zu dieser Wahl führt.

Im Osten wie im Westen beschreiben ungezählte Abhandlungen die verschiedenen Stufen der Schulung, die uns, wenn sie beharrlich befolgt wird, sicher an das "entfernte" Ufer bringt, in das Reich der "Freiheit und des Lichtes", wo der Kreislauf von Geburt und Tod beendet ist. Nirgends finden wir jedoch den zweifachen Pfad des Bemühens so bildhaft beschrieben, wie in der buddhistischen Mahâyâna-Schule des nördlichen Indien und Tibet. Der eine Weg hat Nirvana zum Ziel, Befreiung von allem, was irdisch und nicht spirituell ist. Es ist ein Pfad, der verlangt, daß alle Fähigkeiten zur Selbstvollendung durch Reinigung der Motive und Kontrolle des Körpers, der Sprache und der Gedanken gelenkt werden. Auf diese Weise werden Arhats geboren, die "Würdigen" - ein Ziel, das von jenen angestrebt wird, die Erleuchtung "für sich allein" suchen: Schüler, Mönche und Pratyeka-Buddhas.

Der andere Pfad ist zwar langsamer und schwieriger, aber unendlich wunderbarer, denn er ist durch das edle Ideal der Tathâgatas gekennzeichnet, der Reihe von Buddhas, die "so gekommen und gegangen sind." Zu ihnen gehörte der Bodhisattva-Gautama, der dem Nirvana der vollkommenen Weisheit entsagte, um unter seinem Volk zu leben und zu arbeiten, und um auf diese Weise dem Rad des Gesetzes eine weitere Umdrehung zu geben. "Aus welchem Grunde sollte ich mich fortwährend manifestieren?", fragte er - wenn nicht mit der Absicht, empfängliche Seelen zu ermuntern, an dem uralten Streben aktiv teilzunehmen.

In Tibet übermittelte Tsong-kha-pa im 14. Jahrhundert die Buddhaweisheit in der archaischen Überlieferung. Für ihn waren Pratyeka-Buddhas oder "nur für sich Erkennende" von "mittlerer" Kapazität. Selbst wenn sie beharrlich ihrem Ziel zustreben, sind ihr Verdienst und ihre Weisheit beschränkt, weil ihre Anstrengungen nur dem "eigenen Ich" gelten. Im Gegensatz zu ihnen ist der Bodhisattva "ein Schößling vom Baum der Buddhaschaft, der alle Wesen nährt."

Das Gelöbnis, ein Bodhisattva zu werden, wird offensichtlich nicht nur für ein Leben abgelegt, sondern für alle Zukunft; es gibt kein Zurück. Der tibetische Weise legt Nachdruck auf die ehrfurchtsvolle Ausübung des Mitleids als "die erhabenste Ursache der Buddhaschaft, da sie die Fähigkeit hat, alle verwundbaren, fühlenden Wesen, die im Gefängnis des zyklischen Daseins gebunden sind, vollkommen zu beschützen." Hier handelt es sich nicht um die Verehrung des Buddha als Person, sondern vielmehr dessen, was er verkörpert. Das ist der Mahâyâna-Pfad in seiner reinen Auslegung. Darüber hinaus müssen mit der Ausübung der pâramitâs oder "transzendentalen Tugenden" auch die Sämlinge des Altruismus Leben um Leben mit dem Regen des Mitleids begossen werden, ungeachtet der unvermeidlichen karmischen Behinderungen durch die Persönlichkeit, die unseren Fortschritt verzögern. Wenn der Schüler schließlich in die "Familie der Tathâgatas" hineingeboren wird, wird ihm außerordentliche Freude zuteil - aber auch unermeßliches Leid, weil ein so großer Teil der Menschheit geistig träge ist.

In der Tat, die Zeiten sind mit dem Karma beschwert, das wir alle früher gesät haben, aber wir sollten das Karma der anderen Saaten nicht außer acht lassen, jene der Liebe und der Fürsorge, die viele Leben hindurch gehegt wurden. Wenn es auch scheint, als ob sie lange brauchen würden, um zu reifen, wollen wir doch an den Prinzen Siddhârtha denken: "Vor vier unermeßlich langen Zeiträumen gelobte er, der leidenden Menschen wegen, ein Bodhisattva zu werden. Danach säte er viele aufeinanderfolgende Leben hindurch die Samen und hegte die Pflanze des Mitleids, bis sie schließlich in seiner letzten Geburt in Kapilavastu, in Indien, zur "vollen Reife" gelangte.

Wir haben dieselbe Möglichkeit: jetzt zu beginnen, trotz der selbstsüchtigen und häßlichen Charakterzüge, die unser Wesen beeinträchtigen, die Samen altruistischen Strebens zu säen; denn, wenn auch die volle Erleuchtung unendliche Zeiträume weit in der Zukunft liegt, die entscheidende Wahl wird nicht im letzten Augenblick des Schicksals getroffen, sie ist vielmehr auf dem ganzen Weg entlang im Entstehen gewesen. In jedem Augenblick unseres Lebens bauen wir in unseren Charakter die Neigungen zur Ich-Bezogenheit ein, die schließlich zur Pratyekaschaft führen, oder jene zur Großmut und zur geistigen Hilfestellung, die uns unvermeidlich zum ersten Schritt auf dem Bodhisattva-Pfad bringen. Es kann kaum verwundern, daß der Pratyeka mit dem "Licht des Mondes" verglichen wurde, im Gegensatz zum Tathâgata, der "der tausendfach strahlenden Herbstsonne" gleicht.

Jedes Lebewesen ist die Ernte dessen, was ohne Anfang und ohne Ende aus einem göttlichen Samen ausströmt, denn in der Samen-Essenz liegt das Versprechen, was er sein wird: ein Dynamo von ungeheurer Kraft inaktiv ruhend, bis zu dem mystischen Augenblick, in dem die Lebenskraft durchbricht und Blüte und Frucht hervorbringt. Wenn ein Same in eine passende Umgebung gesät ist, beschützen die Elemente der Natur - Erde, Wasser, Luft und Feuer - sein Wachstum und regen es an. So ist es auch mit uns selbst: mit Hilfe der unsichtbaren Gegenstücke dieser Elemente lassen die Gedankensamen, die wir täglich und nächtlich säen, ihren Eindruck auf dem inneren Gewebe von Mutter Erde zurück, und da wir eine Menschheit sind, wie getrennt wir uns auch manchmal empfinden mögen, teilen wir mit allen anderen, was wir sind, unser Bestes und unser Schlechtestes. Was für eine große Verantwortung haben wir, aber auch welche außerordentliche Möglichkeit! Genauso, wie wir für die niederen Schichten der Gedankenkräfte empfänglich sind, wenn wir mutlos sind, genauso können wir mit den oberen Regionen der aurischen Erdatmosphäre mitschwingen und vielleicht, wenn wir still sind, das feine Flüstern hören, das zu erstaunlichen Dingen und edlen Taten anregt.

In diesem Abschnitt des Jahrhunderts, in dem die Schleier zwischen dem Inneren und dem Äußeren dünner werden, reagieren immer mehr Menschen, viele von ihnen bewußt, auf den zunehmenden Altruismus, der sich auf der ganzen Welt anzeigt. Wenn genügend Männer und Frauen nicht nur an ihre Eingebungen glauben und ihnen folgen, sondern bewußt ihr Schicksal mit der Sache des Mitleids verbinden, dann besteht Grund genug zu vertrauen, daß unsere Zivilisation schließlich den Sprung von der Ichbezogenheit zu echter Brüderlichkeit auf jedem Gebiet menschlicher Unternehmungen tun wird.