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Das innere Licht

Plato läßt Sokrates in seinem Dialog Phaidros eine bemerkenswerte Geschichte erzählen, mit der er das Wesentliche über die Rede und ihre Beziehung zum geschriebenen Wort ausdrückt. Kurz, er sagt, daß es im alten Ägypten einen König gab, und daß dieser und sein erster Minister beide in Wirklichkeit göttliche Wesen waren. Eines Tages kam Theuth1, der Minister, zum König und bat um Erlaubnis, alle Menschen die verschiedenen Künste und Wissenschaften lehren zu dürfen, wie z. B. Zahl und Rechnen, die Geometrie und die Astronomie, das Brett- und Würfelspiel und andere Dinge, die er erfunden hatte.

Als er alles aufgezählt hatte, erkundigte sich der König nach dem Nutzen einer jeden Erfindung und stimmte zu oder lehnte ab, je nachdem. Als aber die Rede auf die Schrift kam, da warnte der König ihn. Theuth hatte gemeint, daß sein Geschenk der Schrift die Ägypter schulen würde, sie klüger machen und ihr Gedächtnis verbessern würde. Der König erwiderte jedoch, daß die Einführung der Buchstabenkunst die gegenteilige Wirkung haben würde. Anstatt die Weisheit zu vergrößern und das Gedächtnis zu verbessern, würden die Leute von der Schrift per se abhängig, und das Vertrauen auf das innere Licht der Eingebung würde verkümmern. Dennoch gewährte der König die Bitte, aber er warnte den Minister auch vor den Folgen. Plato drückt es so aus:

Deine Erfindung wird Vergessenheit in den Seelen der Lernenden entstehen lassen, weil sie ihr Erinnerungsvermögen vernachlässigen werden; sie werden sich auf die sichtbaren geschriebenen Zeichen verlassen und sich nicht mehr aus sich selbst heraus erinnern. Das, was du eigentlich gefunden hast, ist ein Hilfsmittel für das Gedächtnis, nicht für die Erinnerung. Du gibst deinen Schülern nicht Wahrheit, sondern nur den Schein einer Weisheit; sie werden viele Dinge hören, ohne belehrt zu werden; sie werden viel zu wissen meinen, und im allgemeinen nichts wissen. Ihre Gesellschaft wird ermüdend sein, da sie mit Scheinwissen großtun müssen, ohne das wahre Wissen zu besitzen.

Es ist wichtig, an diesem Punkt Platos Lehre ins Gedächtnis zu rufen, daß die Seele ursprünglich göttlich war, daß sie der Entwicklung wegen in grobstoffliche Lebensstadien eintrat. Der Erwerb des Wissens bestand nicht so sehr darin, Einzelheiten, die außerhalb des Menschen lagen, zu sammeln, als vielmehr darin, die angeborene Weisheit der Seele hervorzubringen. Plato veranschaulicht das noch in einem anderen Dialog. Sokrates stellte einem Knaben, der bei Tisch bediente, Fragen, wobei er durch die richtige Fragestellung in einfacher Form von ihm den Lehrsatz des Pythagoras über die Quadrate der Seiten eines rechtwinkligen Dreiecks entlocken konnte. Sokrates erklärte, daß das durch die "Erinnerung" möglich sei, der man nur in richtiger Weise beikommen müsse, um sie zu wecken. In den alten Mysterienschulen sollte der Vervollkommnungsprozeß der menschlichen Natur angeregt werden. Im Verlauf der Übungen wurde den Schülern klar, was sie gelernt hatten. Der Lehr-Zyklus brachte in gedrängter Form und in kürzerer Zeit den langsameren, längeren Weg der evolutionären Entfaltung der gesamten Menschheit. Plato, Proclus und andere haben auf die teletai oder "Vollendung" hingewiesen, die die Eingeweihten erfuhren. Die ägyptischen Mysterien waren im Altertum berühmt, ebenso die griechischen, und Theuth (Hermes) war besonders eng mit ihnen verbunden.

Theuth wurde, wie Plato in dem Dialog feststellt, durch den Ibis symbolisiert, den zweifarbigen Vogel, der die Dualität der geistigen Fähigkeiten darstellt. Die höheren werden vom spirituellen Menschen angezogen, während das niedrigere Denken mit der tierischen menschlichen Natur verbunden war. Im ägyptischen Hieroglyphensystem, das mit Figuren oft Begriffe bildlich ausdrückte, wurde der edlere Aspekt des Denkens durch einen Falken dargestellt, den Vogel, der anscheinend am höchsten zur Sonne fliegt, wobei die Federn den Sonnenglanz zurückstrahlen. Der niedrigere Aspekt des Denkens, allein betrachtet, wurde als affenartige Gestalt gezeigt. Alle drei Glyphen erscheinen in der berühmten Vignette vom "Wiegen des Herzens", wenn der Kandidat eines hohen Einweihungsgrades seinem innersten Wesen gegenübersteht.

In einer der ältesten ägyptischen Mythen ist Theuth das Sinnbild für den Logos. Theuth oder Hermes ist der große Erwecker des Geistes, sowohl in unserem Universum als auch in der Menschheit. Er ist auch die Hauptfigur in einer der hervorragendsten Schriften, die jetzt nach ihm Hermetica genannt werden. In diesen Schriften wird die wunderbare Erhebung geschildert, die der Mensch erfährt, wenn er seinem höheren, inneren Selbst von Angesicht zu Angesicht gegenübersteht, nach einer langen Zeit der Schulung, die dazu diente, diese ungeheuer beeinflussende Begegnung zu erreichen. Das Bewußtsein wächst und überflutet das Wesen mit einem inneren Licht, das eins ist mit dem kosmischen Licht, in das der Kandidat eingetaucht ist. Jene ungewöhnlichen Seelen, die eine derartige besondere Erfahrung durchgemacht haben, wie sie im Buch Pymander der Hermetica beschrieben ist, haben eine Funkenspur hinterlassen wie die Kometen und Meteore, die durch den Raum schießen.

Sind Bücher somit wertlos? Nicht notwendigerweise. Sokrates sagte, die Schrift befähige die Menschen, sich nur vermittels "äußerer Kennzeichen" zu erinnern, während Theuth "Hinweise für das Gedächtnis" anstatt ein "Rezept zur Erinnerung" anbiete. Wahres Gedächtnis glüht voller Leben, so daß wir einen inneren Dialog mit den Ideen, die in den inspirierten Schriften solcher Menschen wie Plato enthalten sind, haben können. Aus solchen Dialogen muß größeres Verständnis kommen, eine Erweiterung des Denkens, ein Fortschreiten des Bewußtseins im Herzen und im Geiste.

Können wir unsere Gedanken soweit zurückschicken, um uns vorzustellen, welch ein Aufleuchten inneren Lichtes erfolgte, als der menschliche Geist in der weit zurückliegenden Vergangenheit zum ersten Mal erweckt wurde? Können wir uns in die Zukunft versetzen und vorhersehen, was sein wird, wenn wir alle das Ziel erreicht haben, und in vollkommener Weise die höchsten spirituellen menschlichen Eigenschaften zum Ausdruck bringen, die als Anlage in uns vorhanden sind? In dieser Richtung liegen die segensreichsten schöpferischen Bemühungen eines jeden von uns, da wir als Teile einer Einheit miteinander verbunden sind, die so tiefgründig ist, daß ihre Wurzel jenseits unseres Vorstellungsvermögens liegt.

Fußnoten

1. Heute besser bekannt als Thoth (ägyptisch: Tehuti), der mit Hermes identisch ist. [back]