Informationen über Theosophie in anderen Sprachen:     ENGLISH    ESPAÑOL    ITALIANO    NEDERLANDS    РУССКИЙ    SVENSKA  

Ein Gespür für das Unendliche

So vielgestaltig ist die Phantasie, daß das allein schon ganz phantastisch ist.

- Shakespeare

 

 

 

Buchbesprechung

Unter den Phänomenen unserer Zeit ist ein deutliches Aufleben des Interesses für die phantastische Literatur zu verzeichnen. Nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene, alte und junge, wenden sich zur Beschäftigung und Unterhaltung den Werken der Phantasie zu. Diese Neigung haben Robert H. Boyer und Kenneth J. Zahorski vom St.-Norbert-College in La Pere, Wisconsin, beobachtet und eine zweibändige Anthologie1 zusammengetragen. Diese zwei Bände enthalten Erzählungen von bekannten Schriftstellern dieser Richtung, wie J. R. R. Tolkien, John Buchan, George MacDonald und auch von weniger bekannten, aber deshalb nicht weniger hervorragenden Schriftstellern, darunter auch Kenneth Morris, von dem die meisten Werke seit einigen Jahren vergriffen sind. Dank Dr. Boyer und Dr. Zahorski wird die Öffentlichkeit wieder auf einige davon aufmerksam gemacht. Diese beiden Gelehrten haben jetzt gemeinsam mit Marshall B. Tymn einen Führer durch die Literatur auf diesem Gebiet zusammengestellt.2

"Core Collection and Reference Guide" (auf dessen Umschlag die Reproduktion von Richard Dadds The Fairy Feller's Master Stroke [Das Meisterstück des Zauberers] zu sehen ist) beginnt mit einer Abhandlung, die die verschiedenen Formen der phantastischen Schriften im einzelnen beschreibt und sie in sieben Kategorien einteilt, von Traumvisionen und psychologischen Phantasien bis zu Science Fiction. Davon sind allerdings keinerlei Werke in der Kategorie "Phantasie" untergebracht. Diese Sammlung enthält auch nicht das, was die Verfasser niedere Phantasie nennen - das "nieder" ist eine Klassifizierung und kein Werturteil. Nach sorgfältigster Aussonderung empfiehlt der Führer eine repräsentative Auswahl nur der besten Beispiele dessen, was hier als "hohe" Phantasie bezeichnet wird. Im Stil drückt es sich so aus, daß der Verfasser konsequent seine eigene Welt schafft, die sich von der Alltagswelt unterscheidet, aber eigene Gesetze hat, nach denen alles passieren kann und auch passiert.

die Welt der niederen Phantasie ist die primäre Welt - die reale Welt, in der wir leben.

... Die sekundäre Welt mit ihrer wahrnehmbaren, aber nicht rationalen Kausalität, ist das Charakteristische der hohen Phantasie. Im Gegensatz dazu geschehen in der niederen Phantasie Dinge, für die es keine Ursache oder Erklärung gibt, weil sie in der rationalen Welt geschehen, wo man derartige Dinge nicht erwartet.

- Fantasy Literature, Seite 5-6

Das Unheimliche und Wunderbare wird von unserer nüchternen Gesellschaft etwas verlegen wieder in Erwägung gezogen, und die Menschen, die an metaphysisches Denken nicht gewöhnt sind, hegen oft die Vorstellung, die materielle Welt sei die eine Hälfte des Ganzen und die "spirituelle" die andere Hälfte. Das mag die Ursache dafür sein, daß sie bedenkenlos Vertrauen in die mutmaßliche Überlegenheit und das Wohlwollen der Bewohner dieser jenseitigen Welt haben, in der Götter, Dämonen und alles, was zum Feenland gehört, zusammengeworfen wird, und die als harmlose Geschöpfe aus Schaum und Phantasie betrachtet werden, im Gegensatz zu den stabilen Bewohnern auf der massiven Erdkruste. Diese vereinfachte Betrachtung wird in den klassischen Feengeschichten nicht bestärkt. Sie unterscheiden genau zwischen den Welten, die höher sind als unsere eigene Welt und denen, die tiefer liegen und tatsächlich das berücksichtigen, was wir ohne weiteres beobachten können, wenn wir uns die Zeit nehmen, darüber nachzudenken: Die physische Welt nimmt deutlich eine in jeder Hinsicht scheinbar zentrale Stellung ein - im Raum, in der Zeit und im Bereich der Wellenlängen, die wir als Materie betrachten. Auch im Größenmaßstab sehen wir, daß der Mensch im Mittelpunkt oder in der Nähe seiner wahrgenommenen Welt steht, irgendwo in der Mitte zwischen Anhäufungen von Milchstraßen und Quarks. Da wir Teile eines anscheinend endlosen Kontinuums in all diesen Beziehungen sind, könnte sich daraus ergeben, daß der kühne Forscher, der in unbekannte Bereiche vordringt und sein Wahrnehmungsvermögen aus unserem normalen Umkreis des Empfindens in unbekannte Weiten ausdehnt, mit ebenderselben Wahrscheinlichkeit damit rechnen muß, entweder in höllische Zustände abzusinken oder in Himmel aufzusteigen, die normalerweise nicht zu sehen sind. Die Richtung, die er einschlägt, wird vermutlich durch seine natürliche Vorliebe bestimmt.

In ähnlicher Weise könnte die schöpferische Imagination eines Schriftstellers seine Neigungen widerspiegeln. Seine Charaktere und Handlungen bekommen, entsprechend seinem eigenen Charakter und seiner augenblicklichen Stimmung, einen erhebenden oder einen unheimlichen Ausdruck. Darin liegt eine große Verantwortung gegenüber den unbekannten Lesern, die ganz unterschiedlich beeinflußbar sind. Eine Geschichte kann erheben oder erschrecken, manchmal beides. In jedem Fall hinterläßt sie ein Gedankendepot mit Gedanken, die den Geist noch lange, nachdem das Buch weggelegt wurde, beschäftigen. Ebenso besteht ein weltweiter Unterschied zwischen der Phantasie, die ihren Ursprung in den bedeutungsvollen Mythen hat, und dem fröhlichen Unsinn eines Wolkenkuckucksheimes oder den Ammenmärchen, die erdacht wurden, um die Kleinen in den Schlaf zu lullen. Wie die "hohe Phantasie", die von unseren Anthologen zusammengetragen wurde, und die, ihrer Meinung nach, nicht nur oder nicht hauptsächlich nur für Kinder bestimmt ist, so sind die Mythen und die davon abgeleiteten Geschichten und Legenden alles andere als Breinahrung für Einfältige. Im Gegenteil, sie sind manchmal eine höchst geniale Methode, uns wissenschaftliche und ethische Instruktionen zu geben und die rechte Lebensführung zu zeigen. Sie täuschen durch ihre Einfachheit, verlangen aber eine kindliche Geradheit, die wenige Erwachsene aufbringen können. Sie vermögen die edelsten Triebe wachzurufen, Intelligenz und Verständnis anzuregen und stehen keiner erfundenen Geschichte nach, wie ausdrucksvoll oder klug diese auch sein mag. Ihre Bildersprache ist oft übertrieben unglaubwürdig, um dadurch die richtige Einstimmung für die wesentliche Botschaft, die das Bewußtsein erfassen soll, besser herzustellen. Es ist paradox, aber die Andeutung der tatsächlichen Grundlage, die viel großartiger ist, als daß der Verstand sie allein ergründen kann, verleiht den Bildern Gültigkeit und ruft "'Ehrfurcht und Staunen' (Tolkiens Worte), die durch hohe Phantasie entstanden sind" hervor, und wird von den Kompilatoren (Sammler von Auszügen aus verschiedenen Werken) sehr geschätzt. Das soll nicht heißen, daß jede hohe Phantasie instruktiv ist - wenigstens nicht absichtlich. Es ist jedoch wahrscheinlich, daß gerade die unterhaltsamsten und hübschesten Geschichten eine gedankliche und gefühlsmäßige Nachwirkung haben, die einen nachhaltigen, nach oben gerichteten Impuls von Mut und heroischem Streben vermittelt. Dieser Impuls stammt aus der Universalität der Prinzipien, die ihn weitergeben. Auch wo die Lehren über Tugend und vorbildliches Verhalten auf taube Ohren stoßen, erwecken ihre Vorbilder dennoch Bewunderung und den Wunsch nachzueifern, trotz unseres (niedereren) Selbst.

Dieses Gefühl für das Unendliche bildet den Hintergrund der Mythologie und der Erzählungen, die von den Mythen stammen; deshalb bereiten sie einen offenen Kanal für den Gedanken, damit er sich ungehindert dem Unbekannten zuwenden kann, dabei lassen sie den Zuhörer oder Schüler seine eigenen Entdeckungen machen, und sich sein Urteil selbst bilden. Wir werden an das Heilige in unserem Inneren und in der "realen" Welt erinnert - aber nur, wenn wir danach verlangen. Man fragt sich in dieser Hinsicht, ob irgendeine Welt oder irgendein Geschehen mit Recht als unreal betrachtet werden kann, auch wenn ihre Existenz nur auf die Gedanken des Schriftstellers beschränkt ist. Spielt sich nicht alles Leben tatsächlich in dem betreffenden Bewußtsein ab, das es erlebt? Träume und Visionen, Entzücken und Schamgefühl, Alpträume, die uns verfolgen und in Schrecken versetzen - sind sie für uns weniger real als die vertraute Umgebung, in der wir unsere Tage verbringen? Auch ohne greifbare Form erfüllen derartige Erfahrungen unser Bewußtsein und formen unsere Haltung, die ihrerseits wieder die Wahrnehmungen und die Handlungen lenkt, die unsere späteren Geschicke formen.

In dem Maße, in dem der Autor das eigene innere Suchen weiterführt, kann er dem Leser ein Gefühl seiner eigenen mythischen Realität vermitteln - einen feinen Zauber, der im Gefüge seiner Erzählung eingeschlossen ist und die eigenen lebendigen Farben und Strukturen in den anderen einfließen läßt, der ihn dadurch verstehen kann. Gerade dieses geheimnisvolle Unberührbare verleiht der hohen Phantasie den Zauber. Es mag wohl sein, daß der Leser den Vorstellungen des Verfassers nicht ganz folgen kann, aber es wird - wie auf anderen Gebieten des Lebens - durch die stillen Gedankenverbindungen, die zwischen uns allen bestehen, eine gewisse Übertragung des Erkennens vermittelt, die allgemein menschlich ist und jedes Gemüt in einem gewissen Maße berührt. In diesem Bereich ist der Mensch wirklich ein Schöpfer; und so nehmen wir mit jedem Schritt Form oder Phantasie auf, wir bewegen uns entweder nach rechts oder nach links, vorwärts oder rückwärts, geführt und angetrieben durch alle die unzähligen Denker der Vergangenheit, und nehmen unseren Platz zwischen ihnen ein, indem wir helfen, unsere gemeinsame Zukunft zu gestalten.

In den zwei Bänden The Fantastic Imagination gibt es eine Menge Absonderlichkeiten und Ergötzliches. Viele der Erzählungen nehmen uns durch die geistreichen Akzente oder durch das Ungewöhnliche gefangen, aber viele enthalten auch etwas mehr: Eine sanfte Brise aus Sphären, die realer sind als unsere eigenen. Diese inspirierende Art des Realen inmitten des Ursprünglichen ist es, die Werke wie die von Kenneth Morris auszeichnet, der "die Götter wieder mit der Göttlichkeit bekleidet, die durch die Zeit verlustig gegangen ist" (Fantasy Literature). Sie schöpfen, ob absichtlich oder unabsichtlich, aus dem großen mythischen Reservoir menschlicher Weisheit, die den tiefsten Tiefen unserer Wahrnehmungen zugrunde liegt und die die phantastischste Vorstellung des Menschen bei weitem übertrifft.

Fußnoten

1. The Fantastic Imagination und The Fantastic Imagination II, (Die Phantastische Imagination I und II). Eine Sammlung höchst phantastischer Werke, Avon Books, New York, 1977 und 1978; Paper $ 2.25 und $ 2.50. [back]

2. Fantasy Literature, A Core Collection and Reference Guide, R. R. Bowker Co., New York und London, 1979; 287 Seiten, gebunden $ 14.95. [back]