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„Wie Du liebst...“

"Die Erde liebt", sang Euripides vor 2500 Jahren, "und selbst der ganze allheilige Himmel liebt." Das bedeutet, sagt Mark Aurel, daß "das Universum tatsächlich seine Aufgabe liebt, das Zukünftige zu gestalten", und daher sollte unsere Einstellung zum Leben und zum Universum lauten: "Wie Du liebst, so liebe auch ich" (Selbstbetrachtungen, 10:21).

Dies könnte eine frohe Philosophie sein, aber oft erweist sie sich in der Praxis als ziemlich schmerzhaft, da sie, wenn man danach leben will, eine besondere Art von Mut und Einsicht erfordert. Sie verlangt eine ständige Unterordnung des persönlichen Willens unter den universalen Willen: "Nicht mein Wille, sondern Dein Wille geschehe!" Dies könnte für uns leichter sein, wenn wir nicht seit Jahrhunderten dazu erzogen worden wären, uns selbst als von der Natur getrennt und von ihr verschieden anzusehen, so daß wir unsere intuitive Einstellung zu ihr und unsere instinktive Fähigkeit, mit ihren Methoden in Einklang zu leben, verloren haben. Als Folge übersehen wir ihre Fingerzeige und stellen uns unnötige Hindernisse in den Weg. Ehe wir es erkennen, ergeben sich Spannungen, und wir haben das Gefühl, alle Welt sei wider uns. Wenn wir aber wieder ruhig werden - tief in unserem Inneren -, tritt unsere innewohnende Weisheit hervor, und wir wissen dann mit Sicherheit, daß wir und das Universum eins sind. Wenn wir aber in Übereinstimmung mit der universalen Absicht leben und wachsen wollen, müssen wir uns den Eingebungen unseres innersten Selbst öffnen, selbst wenn uns diese nicht auf bequeme Wege führen - eher das Gegenteil, denn das Göttliche will unser Wachstum beschleunigen und uns nicht einschläfern.

Vielleicht sollten wir uns fragen, was Wachstum wirklich bedeutet? Im Grunde ist es ein liebe- und freudevoller Vorgang, ein spontanes Hervorbringen dessen, was im Keim latent vorhanden ist. Unser Wort "Natur" vom lateinischen natura vermittelt die ursprüngliche Bedeutung des Begriffes weniger gut wie das entsprechende griechische Wort phúsis (physics): "Wachsen" oder "die Art, wie die Dinge wachsen" und produktiv sind und Früchte tragen, jedes gemäß seiner einzigartigen Qualität. Wenn wir uns daran erinnern, daß die Stoiker jedes Teilchen des Kosmos als einen Ausfluß der göttlichen Ordnung ansahen, dann sehen wir, daß Natur (phúsis) für sie ein lebendiges und bewußtes Wachsen aller Wesen und Dinge in Übereinstimmung mit deren innerem Charakter bedeutete.

Wie können wir Menschen nun den Weg des Wachsens und der Entwicklung entdecken - oder vielleicht wiederentdecken -, der nicht nur mit unserem individuellen Charakter übereinstimmt, sondern auch mit der Innenwelt des kosmischen Wesens harmoniert, in dem wir unsere Erderfahrung erleben? Gegenwärtig haben wir gerade den mittleren Punkt unserer langen evolutionären Pilgerreise überschritten, der gleichzeitig der niederste Punkt auf dem weiten Bogen des Fortschritts ist. Deshalb haben wir den Aufstieg in Richtung spirituelles Selbstbewußtsein begonnen. Das bedeutet, daß das Interesse der Natur an materiegeborenen Elementen bereits nachläßt, und daß es sich in Zukunft mehr auf geistige Eigenschaften wie Liebe, Licht und Wahrheit richten wird. Es ist gut, wenn wir in unserem Leben frühzeitig lernen, uns nicht an Vergängliches zu klammern, da Veränderung der Modus des Wachstums ist: Das Alte muß dem Neuen Platz machen, das Kleinere dem Größeren. Wenn wir den Schätzen unserer Seele und unseres Geistes den Platz einräumen, der ihnen zusteht, dann kann nichts, nicht einmal der Ablauf von Kalpas [lange Zeitepochen], dasjenige schädigen, das in der Essenz todlos ist.

Solche Überlegungen waren es, die zur Aufnahme von zwei Artikeln über Nârada - einer der Götter der hinduistischen Legenden - in dieser Ausgabe führten. Der erste Artikel, von H. P. Blavatsky, verbindet diese geheimnisvolle Figur mit menschlichen und kosmischen Zyklen und auch mit dem atlantäischen Astronomen Asuramaya;1 Der zweite Artikel, von G. de Purucker, betont Nâradas Funktion als universaler karmischer Agent, der unter der Menschheit für wohltätige Ziele wirkt.

Wenige Orientalisten haben die esoterische Bedeutung Nâradas erfaßt, weil ihm die Legenden in den Veden, im Mahâbhârata und in den Purânas, die von den "Erscheinungen" dieses "mächtigen Sehers" in verschiedenen Zyklen berichten, eine Vielfalt von Eigenschaften zuschreiben. Er wird als ein Bote zwischen den Göttern und Menschen beschrieben, als Inspirator von Dichtern und Musikern und als Erfinder der vînâ oder Laute und auch als einer der zehn Prajâpatis oder "Ahnherren" der Söhne, die aus Brahmâs Stirne geboren wurden. Gleichermaßen wird er Unruhestifter, Spitzel, einer, der sich in fremde Angelegenheiten mischt, und Affengesicht genannt. Einmal heißt es, er habe sich in den Plan eines Gottes eingemischt, der die Erde wieder bevölkern wollte. Andere faszinierende Legenden über die Beziehung Nâradas zu Vishnu und Brahmâ tragen philosophische Züge, die wir nicht behandeln können, außer der Erwähnung, daß Nârada zumindest an einer Stelle als "Liebhaber des Kali Yuga" bezeichnet wird. Dies scheint eine Bestätigung seiner engen Verbindung mit unserem "Eisernen" oder "finsteren Zeitalter" zu sein, in dem das Licht der Wahrheit fast verlöscht ist und das vor etwas über 5000 Jahren mit dem Tod des Avatâras Krishna, mit dem Nârada in der späteren Mythologie verbunden ist, begonnen haben soll.

Unser gegenwärtiges Interesse richtet sich auf Nâradas Rolle als Zerstörer und Erneuerer der Formen. Wahrscheinlich sollte man, um genauer zu sein, Erneuerer zuerst sagen, weil der Auflösungsprozeß in Wirklichkeit durch den inneren Impuls zur Geburt des Neuen ausgelöst wird - in eben der Weise, wie sich unsere Milchzähne durch den Druck der nachfolgenden Zähne, die herauskommen wollen, lockern und nach und nach ausfallen. Wenn wir diesen Gedanken noch weiterverfolgen, sehen wir, daß Nârada, gerade weil er die Auflösung der Formen ermutigt, wenn nicht gar bewirkt, in Wirklichkeit ein Beschützer und Erhalter der unzerstörbaren Essenz in jedem bewußten Lebensatom ist.

Die mythologische Überlieferung berichtet über viele Zivilisationen, die vor unserer Zeit erblüht waren und wieder verschwunden sind; glanzvolle Kulturen, die sich durch Philosophie, Kunst, Literatur und wissenschaftliche Errungenschaften auszeichneten. Alle sind vergangen, niedergemäht von der Sense der Zeit - das Werk Nâradas; beklagenswert nur teilweise, denn die Zerstörung von etwas, das seinen Zyklus vollendet hat, ist kein Unglück. Vom Standpunkt des Wissenden, des inneren Sehers, ist es eine Wohltat. Äußere Formen müssen vergehen, damit das kreative Feuer weiterleben kann, um sich wieder und wieder in neuen Darstellungen auszudrücken, so wie die zurückkehrenden Egos ihr Erdenleben in neuen Umgebungen und anderen Rassen suchen. Nichts kann die Essenz zerstören; nur Formen, Körper und Träger werden beiseitegefegt.

Wie steht es aber mit dem Individuum? Zählen die Mühen und Sorgen, die ein wenig Weisheit in die Seele eingebrannt haben, die heroischen Kämpfe zur Selbstüberwindung, die durch den Tod abgeschnitten werden, nichts? "Selbst der verpuffte Rauch hinterläßt Spuren." Was wir in der ganzen Skala unseres inneren Wesens sind, hinterläßt unauslöschbare Eindrücke in den Gedächtniszellen des Charakters, wie auch im Gedächtnis der Natur, im Astrallicht der Erde, der Aufbewahrungskammer aller Gedanken- und Gefühlsenergien der Menschheit, seit wir vor Millionen Jahren Selbstbewußtsein erlangt haben.

Es gibt für uns keinen überzeugenderen Lehrer als die Natur selbst, die in ihrer gesamten Domäne nach eben diesem Prinzip des Aufgebens von einer Form nach der anderen arbeitet, um der inneren Lebenskraft die Gelegenheit zu weiterer Ausdehnung und größerem Wachstum zu geben. Nehmen Sie als Beispiel die Mutter Erde: Sorgt sie nicht für periodische Katastrophen durch Feuer und Wasser, Erdbeben und Flutwellen und eine Menge kleinerer Katastrophen, um das gestörte Gleichgewicht wieder herzustellen? Wenn es möglich wäre, die rhythmischen Prozesse der Natur zu vereiteln, die es ermöglichen, daß dem Tod die Geburt folgt und der Geburt der Tod, würden die Menschheit und alle anderen Naturreiche stagnieren. Die Erde ist selbst ein Lebewesen, das beständig den Druck von innen ausgleichen muß, um die Spannung zu lösen. Zyklisch verändern die Pole der Erde ihre Lage, Landmassen, die jetzt ruhig unter der Wasseroberfläche liegen, werden, nachdem sie gereinigt und erneuert worden sind, wieder emporgedrückt. Kontinentale Systeme, die ihre Zeit erfüllt haben, werden unter die rollenden Wogen versenkt, um wieder einmal Erfrischung und Ruhe zu erfahren. Durch all dies hindurch lebt der planetarische Geist der Erde weiter, liebevoll mit seiner erhabenen Mission beschäftigt, den latenten geistigen Genius in allen Familien seiner Kinder zu erwecken.

Das ist die zentrale Bedeutung hinter jeder Evolution: Die in jedem Lichtfunken verborgene Potentialität ins Äußere hervorzubringen. Anfangslos und endlos kennt dieser Lichtfunke weder Geburt noch Tod. Nur die Vehikel, die er benutzt, werden geboren und sterben, lösen sich beim Tod in einzelne Teilchen auf, um in zukünftigen Geburten wieder zusammengeführt zu werden. Jeder Mystiker, Philosoph und Weise in der ganzen Welt hat dieselbe Wahrheit bestätigt: Daß im Inneren des Logos, innerhalb des unsichtbaren "Raumes" im Herzen jedes Wesens, seine göttliche Geschichte versiegelt ist, die Quintessenz all dessen, was war, jetzt ist und in zukünftigen Zyklen sein wird. Mit Freude und Liebe trat das Universum in Erscheinung; in Freude und Liebe können auch wir wachsen und blühen, wie es die Natur beabsichtigt.

Fußnoten

1. Berühmter Autor des Surya-Siddhanta - eine Abhandlung, die als ältestes bestehendes astronomisches Werk angesehen wird. Die erste Übersetzung aus dem Sanskrit erfolgte durch Ebenezer Burgess, veröffentlicht 1860 im Journal of the American Oriental Society; Nachdruck 1978 durch Wizards Bookshelf. [back]