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Martin Buber – Für mehr Menschlichkeit

Als Aubrey Hodes den Philosophen Martin Buber 1953 zum ersten Mal traf, war er ein verzweifelter junger Mann. Von Geburt war er Südafrikaner und lebte damals in einem Kibbuz in Galiläa, wo er Schafe hütete. Jede Woche machte er die beschwerliche Reise nach Jerusalem, um dort in der Nervenheilanstalt in der Abteilung für Schizophrenie eine Verwandte zu besuchen. Da er sich selbst in einer Phase geistiger Unruhe befand, war die Qual, mitanzusehen, wie es mit ihr ständig schlimmer wurde, so heftig, daß es ihn manchmal körperlich schüttelte. Freunde rieten ihm, seine Schwierigkeiten mit Professor Buber zu besprechen, der für Menschen, die in Bedrängnis waren, immer zu sprechen war. Eines Tages gab ein Buchhändler, der Hodes kannte, ihm Bubers neueste Schrift Der Weg des Menschen, die er sofort las, während er in einer Ecke des Ladens stand. Von diesem Augenblick an wußte er, daß er mit dem Verfasser persönlich sprechen mußte. Zunächst hielt ihn ein Gefühl der Scheu zurück, aber schließlich faßte er Mut und rief Buber an. Minuten später befand er sich in dem Studierzimmer voller Bücher, das er noch gut kennenlernen sollte, denn obwohl die beiden durch zwei Generationen getrennt waren, entwickelte sich eine Freundschaft, die bis zu Bubers Tod im Jahre 1965 dauerte. In einer Biographie1, die 1969 herausgegeben wurde, teilt Hodes das Ergebnis dieser Beziehung mit, die "total und umwälzend" war und die Richtung seines ganzen Lebens änderte.

Eines der Dinge, die ihn außerordentlich beeindruckten, war Bubers Fähigkeit, unter die Oberfläche seines Kopfes einzudringen. Er schien zu wissen, welche Fragen Hodes stellen wollte, noch bevor sie formuliert waren. Buber sagte ihm, daß er diese durchdringende Einsicht erst nach einem Erlebnis in seinen späten dreißiger Jahren erworben habe:

Es war nichts weiter geschehen, als daß ich eines Vormittags, nach einem Morgen "religiöser" Schwärmerei, Besuch von einem unbekannten jungen Mann bekam, ohne daß ich geistig wirklich ganz da war. Ich unterließ bestimmt nichts, damit dieses Zusammensein durchaus freundlich verlief; ich behandelte ihn nicht nachlässiger als alle seine Zeitgenossen, die mich für gewöhnlich zu dieser Tageszeit aufsuchten wie ein Orakel, das bereit ist, sich belehren zu lassen. Ich unterhielt mich aufmerksam und offen mit ihm und unterließ es nur, die Fragen zu erraten, die er nicht stellte. Später, nicht lange danach, erfuhr ich von einem seiner Freunde - er selbst war nicht mehr am Leben - den wesentlichen Inhalt dieser Fragen; ich erfuhr, daß er nicht zufällig zu mir gekommen war, sondern vom Schicksal geführt, nicht einer Unterhaltung, sondern einer Entscheidung wegen.

Er war zu mir gekommen, er war in jener Stunde gekommen. Was erwarten wir, wenn wir in Verzweiflung sind und dennoch zu einem Menschen gehen? Sicherlich, daß wir aus seiner Einstellung entnehmen können, daß trotz allem ein Sinn hinter allem verborgen liegt.

Der junge Mann hatte sich das Leben genommen, und Buber hatte das Gefühl, daß das vielleicht nicht geschehen wäre, wenn er selbst nicht so in seine mystischen Studien versunken gewesen wäre. Nie wieder suchte er religiöse Exaltation, die zur Konzentration auf abstrakte Dinge führt, während die naheliegende Pflicht vielleicht übersehen wird. Von nun an versuchte er, dem Ruf des Lebens zu antworten, sobald und wann er zu ihm kam. Dieser Vorfall lehrte ihn auch, daß es nicht genug ist, Worte und Gedanken auszutauschen, sondern daß das eigentliche Zwiegespräch das Hören auf unausgesprochene Fragen einschließt; denn was gefühlt wird, obwohl es nicht in Worte gefaßt ist, kann unendlich wichtiger sein als das, was tatsächlich geäußert wird.

Das Zwiegespräch wurde tatsächlich das Herz seiner Philosophie und fand im Jahre 1923 seinen Ausdruck in Ich und Du, einer Abhandlung, die sich wie eine Ode an die menschliche Beziehung liest. So wie es der Verfasser sieht, scheinen wir mit der anderen Person wohl zu sprechen, aber sie bleibt ein Faktor außerhalb von uns - Es (Bubers Bezeichnung). Nur wenn wir unser gewohntes mit uns selbst Beschäftigtsein beiseitelegen, das wie ein Van Allen Gürtel im Kleinen den größten Teil von der Ausstrahlung der Menschen unserer Umgebung abhält, erst dann wird der andere ein "Du", mit dem wir unmittelbar konfrontiert sind und der uns etwas zu sagen hat.

Wir alle haben praktisch die Erfahrung gemacht (wenn vielleicht auch nur einmal), wie aus den unzähligen Einwirkungen aus unserer Umgebung, die größtenteils nicht in unser Bewußtsein dringen, eine Einzelheit uns plötzlich trifft. Das braucht an sich gar nichts Welterschütterndes zu sein: der zufällige Blick eines Fremden oder ein Gespräch mit jemand, den wir im Omnibus treffen - doch wir sind tief beeindruckt. Zeitweise hebt sich der Schleier von unserem Ich: Es bleibt nichts, womit man den anderen beeindrucken könnte, keines der unzähligen Vorurteile, keine der Befürchtungen, der Eifersüchteleien, kein Gefühl der Minderwertigkeit oder der Überlegenheit oder auch nur der Gleichgültigkeit, nichts steht zwischen dem Ich und dem Du. Dann spricht Seele zu Seele, unmittelbar und ohne Schranke; und später sind wir überrascht von der Unbefangenheit und Offenheit einer solchen Verbindung. Ob tatsächlich etwas gesagt wird, spielt keine Rolle; denn das, was zwischen uns hin und her strömt, übt einen Einfluß auf uns aus.

Martin Buber betrachtet es als unsere Pflicht zu versuchen, die verborgene Bedeutung eines solchen Austausches zu erfassen - denn ohne Zweifel hat er eine Bedeutung. Der Gründer des Chassidismus im 18. Jh., Baal Shem Tov, dessen Leben und Worte eine große Inspiration für Martin Buber waren, drückt es folgendermaßen aus:

Kein Zusammentreffen im Laufe unseres Lebens mit einem Wesen oder einem Ding entbehrt einer verborgenen Bedeutung ... Die höchste Seelenkultur bleibt im Grunde trocken und unfruchtbar, wenn nicht Tag für Tag die Wasser des Lebens aus diesen kleinen Begegnungen, denen wir geben, was ihnen gebührt, in die Seele strömen.2

Lehrer und Weise aller geistigen Richtungen haben erkannt, daß die Ereignisse unseres Lebens nicht zufällig sind, sondern ein organisches Ganzes mit unserem Bewußtseinszustand bilden. Diese Wechselbeziehung von Ursache und Wirkung nennt der Orientale Karma. Das Leben entrollt Tag für Tag die Schriftrolle, von der wir unsere Lektion entnehmen müssen, aber gleichzeitig schreiben wir durch unsere Taten und unser Verhalten jene neuen Kapitel, von denen wir an einem künftigen Zeitpunkt unsere Folgerungen zu ziehen haben. Während des gesamten Lernprozesses begegnen wir jedoch Prüfungen, durch die wir uns selbst beweisen können, ob die gewonnene Erfahrung nur intellektuelles Wissen geblieben ist oder ob sie in einen Teil unseres Charakters umgewandelt wurde.

Buber war sich dieser Tatsache bewußt und teilte mit Hodes seinen Glauben an eine "existentielle Prüfung". Damit meinte er eine Erfahrung, die sämtliche Werte und Ansichten eines Menschen herausfordert. Er kann sie bestehen oder versagen, aber in jedem Fall bleibt er nicht derselbe, denn sein wahres Selbst in seiner ganzen bis dahin unbekannten Stärke würde sich in seinem Mut oder seiner Schwäche und seinen Mängeln offenbaren.

Hodes' Prüfung kam - nicht durch eine künstliche Verkettung von Umständen, sondern durch die grausame Wirklichkeit des Sinai-Feldzuges im Jahre 1956, in dem er als Sanitäter diente. In der relativen Ruhe, die der furchtbaren Schlacht von Gaza folgte, hatten die meisten Soldaten vor der sengenden Mittagssonne Zuflucht gesucht und versucht, etwas Schlaf nachzuholen. Hodes überprüfte seine Vorräte, als plötzlich aus dem Gebüsch ein verschreckter arabischer Zivilist mit einem gebrochenen Arm auftauchte, der schlimm aussah. Hodes zögerte keine Sekunde: hier war jemand in Not, und, ob Freund oder Feind, er mußte ihm helfen.

Als er gerade den Arm eingerichtet und bandagiert hatte, erschienen zwei junge Soldaten und verlangten mit gezogener Waffe von ihm, ihnen seinen Patienten zu übergeben. Er erriet ihre üblen Absichten und schob den alten Mann blitzschnell in einen nahen Krankenwagen, dann stellte er sich breit vor die Türe. Auf seine hartnäckige Weigerung hin zogen sie sich zurück, um kurz darauf mit ihrem Feldwebel wiederzukommen, der versuchte 'vernünftig' mit ihm zu reden, daß die Leute schwer gekämpft hätten und "Dampf ablassen" wollten. Obwohl ihm gesagt wurde, sie würden ihm eine Kugel durch den Kopf schießen, rührte sich Aubrey Hodes nicht von der Stelle, und die drei erkannten, daß sie verloren hatten. Sie zogen weiter und stießen immer noch zornige Drohungen aus. Im Stillen erkannte Hodes in dem verwundeten Araber die Person, durch die er geprüft wurde. Er wußte damals, daß, hätte er dieses Leben nicht beschützt, als ob es sein eigenes gewesen wäre, "so wäre etwas in mir verkümmert: etwas, das jetzt gegenwärtig und stärker war, wäre gestorben ... für den Rest meines Lebens."

Durch Hodes' gesamte Erzählung strömt die verborgene Spannung, die im modernen Israel stets zu bemerken ist und die nur dünn getarnt wird durch die leichte Überbetonung, daß alles normal sei, mit der die Leute ihrer Beschäftigung nachgehen. Bubers geistige Tätigkeit mag ihn zwar physisch absondern, doch an den Angelegenheiten seines Volkes und der Welt nahm er intensiv Anteil. In der Tat, ein großer Teil seines Lebens war unauflöslich mit dem politischen Umbruch und den Kriegen seiner Zeit verbunden. Im Nazi-Deutschland war er eine Säule moralischer Stärke; 1938 floh er in das Land, das damals noch Palästina war, und wurde in die Kämpfe dieses Landes eng verwickelt. In den Jahrzehnten, in denen die tragische Krise des Mittleren Ostens entstand und auch als sie ausbrach, kamen die Bemühungen derjenigen, die zu vermitteln versuchten, gewöhnlich zu spät. Was sie an gutem Willen aufgebaut hatten, wurde durch die niederstürzende Lawine der Ereignisse bald überrollt und zermalmt. Im Gegensatz zu der mehr an den Tatsachen orientierten Haltung der meisten führenden Denker wollte Buber immer die Tür zum Zwiegespräch und zur Mäßigung offenhalten, auch dann, wenn es im kalten Licht des Verstandes anscheinend nicht klug oder vergeblich war.

Bei verschiedenen Gelegenheiten rief Bubers idealistische Haltung bittere Kritik hervor, aber für ihn war seine Philosophie keine leere Theorie. Er glaubte, daß es wesentlich sei, für seine Grundsätze einzutreten, weil auch eine "Handvoll gerechter und ehrlicher Menschen eine Gesellschaft davor bewahren kann, daß sie korrupt wird, wenn sie ihre Stimme erhebt und Nein sagt." Nur wenn der Mensch ganz er selbst ist und seine Überzeugungen lebt, kann er seine Möglichkeiten als menschliches Wesen verwirklichen. Bubers Taten, die oft umstritten waren, entsprangen seinem Streben nach Menschlichkeit, die seiner Ansicht nach besonders das jüdische Volk zu verwirklichen versuchen sollte. Und wenn ein derartiges Ideal in der Lage war, das innere Leben zum Besseren zu beeinflussen, dann müßte es auch individuell und von der Allgemeinheit in ein neues Verhalten übertragen werden.

Obwohl Buber in seinem eigenen Land ignoriert oder nicht anerkannt wurde, nahm seine Anhängerschaft in Europa und Amerika zu - eine Widersprüchlichkeit, die nur durch die Tatsache erklärt werden kann, daß seine ganze Einstellung universal und das Judentum als solches für ihn ein zu enges Gefäß war, um ihn zu binden. Dennoch blieb er seiner angeborenen Tradition treu, die die Quelle seiner geistigen Inspiration war; denn es ist unbestreitbar, daß ein großer Teil seiner Philosophie aus dem Chassidismus des 18. Jh. stammt. Und obwohl es manchmal heißt, daß er in seinen Werken eine sehr persönliche Darstellung gegeben habe, so ist es doch sein Verdienst, daß er den Chassidismus in seiner ursprünglichen Fassung aus der dunklen Kammer der Vergessenheit gerettet hat. Er brachte dem Westen diese leuchtenden Gedanken zu einer Zeit, in der in Zweifel gezogen wird, ob es wert und zweckmäßig ist, das Leben zu leben - dasselbe tägliche Leben, das die Chassidim in Armut und Verfolgung mit jedem Atemzug heiligten.

Wie sehr auch die Schriften von Martin Buber und seine persönliche Philosophie einen Einfluß zum Guten ausgeübt haben mögen, sein größtes Verdienst liegt vielleicht mehr in der Art, wie er versuchte, diese Humanität zu leben, an die er von ganzem Herzen glaubte. Die Buddhisten unterscheiden zwischen der "Augen-Lehre", dem verstandesmäßigen Wissen irgend eines bestimmten Glaubens, und der "Herzens-Lehre", durch die sich der Mensch in seinem Innersten so sehr mit der Essenz der Wahrheit vereint, daß er ihre Regeln ganz selbstverständlich anwendet. Die intellektuelle Einsicht fällt ihm dann als ein natürliches Nebenprodukt zu. Immer wieder kann man die Stimme eines Menschen hören, der die Herzenslehre verkörpert; er erhebt sie über seinen eigentlichen Kreis hinaus und bemüht sich, Mitleid, Selbstlosigkeit und das Gespräch miteinander in einer Welt zu fördern, wo das Zünglein an der Waage wechselvoll zwischen zwei Extremen schwankt: dem Tier und dem Gott im Menschen. In vielen Werken Bubers ist der Geist auf dieselbe Wellenlänge abgestimmt wie der Geist jener, die zwar verschiedenen Zeiten oder Religionen angehörten, aber ebenso ihre Hingabe und Überzeugung auf den Marktplatz oder in die politische Arena trugen, um mit ihrem eigenen Leben den Grundsatz der menschlichen Brüderlichkeit zu bezeugen, doch ohne verstanden zu werden.

Hodes' Lebensbeschreibung ist wertvoll, weil sie auf Grund persönlicher Erfahrung geschrieben wurde und Verständnis, Respekt und oft auch ausgesprochene Zuneigung für seinen Freund und Lehrer ausstrahlt. Sie zeigt uns den Menschen Buber in seiner Weisheit, Wärme und Makellosigkeit und auch in seiner tiefen Sorge in einer gleichgültigen Welt, wie es seine eigenen Schriften nie vermochten.

Fußnoten

1. Martin Buber, an Intimate Portrait. [back]

2. Aus The Way of Man, von Martin Buber, S. 38-39. [back]