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Ein neuer Messias?

"Wenn Jesus heute unter den Menschen erschiene, so würden sie ihn in Stücke zerreißen." Das war vor vierzig oder mehr Jahren der Inhalt eines Bühnenstückes. Seitdem haben sich die Dinge sehr gewandelt. Die Menschen sind heute so begierig auf spirituelle Führung, daß sie den Worten eines angeblichen Erlösers sofort glauben, wenn er vorgibt, eine Abkürzung des Weges zur Erlösung oder eine Methode, die Erleuchtung leichter zu erreichen, lehren zu können. So mancher, der sich selbst als Guru bezeichnet, sich aber im allgemeinen nur auf seine fremdländische Abstammung berufen kann, wird reich durch die Leichtgläubigkeit jener, die durch Versprechungen verführt werden, daß sie durch besondere Anweisungen Vorteile gewinnen können. Plattheiten, die kärglich mit dem in Tibet und in Indien Gelernten umkleidet sind, werden als Körner goldener Wahrheit aufgenommen. Mantrams und Redensarten werden mit Pathos ausgesprochen, als könnten sie durch bloße Wiederholung eine magische Umformung bewirken und anstelle der Fehlbarkeit und des selbstischen Ehrgeizes das Gold der Vollkommenheit setzen.

Ja, die Dinge haben sich tatsächlich geändert, aber die angeführte Erklärung bleibt dennoch im wesentlichen wahr. Wenn der Meister Jesus oder der Buddha oder Zoroaster oder irgendein anderer großer Vorläufer der menschlichen Rasse heute öffentlich auftreten würde, wie viele unter denen, die als Vermittler besonderer Kräfte auftreten, würden ihn als einen wahren Lehrer erkennen? Wie würden sich seine Gebote des liebevollen Selbstvergessens mit den Lehren der Selbstverherrlichung vereinen? Welchen Anklang fände ein Mensch der Weisheit und der stillen Tugenden, der wieder einmal die Botschaft vom Altruismus und von der selbstverleugnenden Ergebenheit zur Pflicht bringen würde?

Es gibt viele, die einen neuen Messias erwarten und hoffen, zu den wenigen Begünstigten zu gehören, die ihn erkennen und das Wort der Wahrheit erfahren werden. Doch wie viele Menschen haben die Befähigung entwickelt, die eine solche Erkenntnis ermöglicht? Wie viele von uns haben einen Platz in den Reihen jener verdient, die jeden Augenblick ihres Lebens der Aufgabe widmen, am weiteren Wachstum des menschlichen Bewußtseins mitzuhelfen? Wer von uns kann wirklich -

in sein Kämmerlein gehen und im Verborgenen zu seinem Vater beten, anstatt eine öffentliche Schau damit abzuziehen;

anstatt alle möglichen Rückversicherungen abzuschließen, nicht an das Morgen denken;

wenn ein armer Mann den Mantel nimmt, ihm auch noch den Rock dazu geben;

das Gebot befolgen, den Gott im Herzen aller Wesen zu sehen und daher seinen Nachbarn lieben wie sich selbst;

dem Kaiser geben, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist;

anstatt Schätze auf Erden zu sammeln, nach den Schätzen, die von dauerndem Wert sind, streben;

zu seinem göttlichen Mentor aufrichtig sagen: "Nicht mein Wille, sondern Dein Wille."

Kann irgend jemand von uns die Oberflächlichkeiten des 'zivilisierten' Lebens abwerfen und, ohne die Gefühle anderer zu verletzen, "wie kleine Kinder" werden und unsere Umgebung und unsere Umstände völlig neu und grundlegend betrachten?

Und dennoch ist unser Zeitalter reichlich versehen mit all dem, was für eine wunderbare Verjüngung des menschlichen Geistes nötig ist. Wir empfinden intuitiv, wie rechtes Denken und rechtes Handeln sein muß. Mit Erfolg haben wir auf vielen Gebieten die Heuchelei entlarvt, und jeder von uns besitzt einen Prüfstein, um zu erkennen, was wahr ist. Warum ist es dann so schwierig, den nächsten Schritt zu tun: unser menschliches Selbst der unfehlbaren Führung des Wissenden in unserem innersten Bewußtsein anzuvertrauen? Der Lehrer ist da, in meinem und in deinem Herzen, und wo auch immer ein Kanal unpersönlicher Liebe es ermöglicht, bringt er die wahre Würde unserer Menschlichkeit zum Ausdruck. Er ist das Bindeglied, das die ganze Menschheit in einer wirklichen Bruderschaft zusammenhält. Diese Bruderschaft besteht unzweifelhaft, denn sie stammt aus unserer gemeinsamen göttlichen Wurzel. Es ist wahr, wir müssen in den äußeren Formen erst vieles neu ordnen, bevor wir wirklich die universale Bruderschaft zustande bringen können, die wir innerlich anerkennen. Wir wissen von vielem, was wir hinnehmen und akzeptieren, daß es falsch ist und geben das zu. Es wirft ein trauriges Licht auf unsere Einstellung, daß die aufdringlichen Kundenwerber für Luxusartikel im Fernsehen eine derartige Position einnehmen können und dafür Vergütungen erhalten, die in gar keinem Verhältnis zu ihren Bemühungen stehen, während viele Menschen arbeiten und dabei Not und Hunger leiden. Ohne die umfassende Lebensanschauung, die die endlosen Wanderungen sich entwickelnder Bewußtseinszentren durch jeden Zustand des Seins einschließt, würde jede Inkarnation eines Menschen tatsächlich wie ein schlechter Witz voll unvereinbarer Ungerechtigkeit erscheinen. Aber der Mensch ist nicht nur ein Körper, der eine kurze Zeit auf der irdischen Bühne des Lebens verbringt. Er ist ein bewußtes, wachsendes Wesen, das eine Reihe bestimmter Umstände für die Erweiterung des Bewußtseins benutzt. Jeder Gedanke gibt der menschlichen Natur bis zu einem gewissen Grade eine Färbung, wodurch das zukünftige Schicksal dieses Menschen und das Schicksal all seiner Mitmenschen mit bestimmt wird.

Und jeder Erlöser hat dafür individuell - und alle gemeinsam - seinen eigenen Fortschritt für größere Erkenntnis und für größere Glorie geopfert. Sie richteten ihre Bemühungen darauf, in den menschlichen Herzen einen kleinen Widerhall zu wecken; und es ist dieser Geist der Hilfsbereitschaft und des Mitleids, der sich heute unter uns allen bemerkbar macht. Ganz gleich, ob ein Avatâra - auf einem weißen Pferd reitend - erscheint oder nicht, dieser Drang wird von jedem Mitglied der menschlichen Familie in seinem tiefsten Innern verspürt: alles, was nichtssagend und wertlos ist, abzulegen und für etwas zu arbeiten, das wirklichen Wert hat, und für ein größeres Verständnis - ein Verstehen untereinander und des universalen Lebens - zu wirken. In jedem von uns wartet ein Gott darauf, geboren zu werden; seine gottgleichen Eigenschaften sollten sich in unserem Alltagsleben zeigen.

Viele empfinden diesen Drang nach einem edleren Bewußtsein. Er ist es, der die Menschen veranlaßt, jedem Irrlicht zu folgen, auf das sie aufmerksam gemacht werden. Er ist der anregende Impuls, der hinter dem heftigen Verlangen nach psychischen Kräften steht. Diesen Drang verspüren die 'Jesus-Fans' und die Anhänger der verschiedenen Swamis und 'Rishis'. Er ist die treibende Kraft unter den menschenfreundlichen Philanthropen, die sich unauffällig bemühen, das Leben der weniger glücklichen Menschen zu verbessern, und die wahres Mitleid mit den Opfern des Elends verspüren, das sich täglich mehr ausbreitet. Es ist wahr, der Mahnruf des inneren menschlichen Drängens wird oft fehlgeleitet, daraus erklärt sich die Popularität von Systemen, die, verborgen unter der Maske der Selbstentwicklung, sich an die selbstische, persönliche Natur wenden und sich mit zahlreichen geringeren Formen des okkulten Studiums befassen. Doch bei ein wenig Nachdenken wird klar, daß das gesamte Universum - diese Einheit in der Verschiedenheit - ein Organismus ist, in dem alle Teile das beitragen, was sie für das Ganze sind. Wenn das erst einmal erfaßt wird, dann begreifen wir, daß 'kein Mensch eine Insel ist', daß die einzige, dem Leben zugrundeliegende Tatsache eine göttliche Einheit ist, und daraus entspringt der Altruismus.

Niemand kann einem anderen Schaden zufügen, ohne sich selbst zu schaden. Niemand kann einem anderen helfen, ohne sich dabei selbst zu helfen, denn der andere und er sind eins. Die Persönlichkeit eines Menschen wird zu einem willigen Instrument, das mit Weisheit und Liebe im Dienst für alles Leben gebraucht wird. Das Selbstsüchtige und Unwürdige in uns wird dem Universalen und Wahren geopfert, wodurch wir von den erniedrigenden Fesseln des Selbstes frei werden. Es ist die Freiheit, zu sehen, zu wissen und immer mehr die Universalität der wahren Natur, des Gottes im Innern, des Christuslichtes im Herzen, zu verstehen.