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Eine goldene Regel

Vor allem: Sei wahr gegen Dich selbst,

denn daraus muß folgen wie die Nacht auf den Tag,

daß Du gegen andere nicht falsch sein kannst.

 

 

 

Für ein Schauspiel hat der Dichter Shakespeare diese Verszeilen ersonnen, "eine Regel", die der Vater an den Sohn weitergab. Sie steht mit keinem Text in Zusammenhang - sie ist ein Gebet. In seiner Erfüllung liegt Rechtschaffenheit.

Der Barde vom Avon geht damit über die Erscheinungswelt hinaus und dramatisiert die Vielgestaltigkeit der menschlichen Natur, indem er nach außen hin einen Teil der Menschheit darstellt, während er scharfsichtig erkennt, daß jedes menschliche Wesen die ganze Menschheit in sich einschließt. Jeder Schauspieler stellt in seiner Rolle eine ganz bestimmte Eigenschaft aus der zusammengesetzten Natur des Menschen dar. Der Mann oder die Frau auf der Bühne können also ein lebendiges Symbol für die Stellung im Leben sein, die er oder sie inne hat, oder auch nicht. Das heißt, der Diener kann ein Beispiel für die Erhabenheit eines Königs exemplifizieren, während die Personifikation eines Königs aus den seichten Pfuhlen der Leidenschaften hergeleitet werden kann. Damit soll darauf hingewiesen werden, daß der wahre König die Essenz jeder dargestellten Person ist. Damit er aber sein Amt, das er zu verwalten hat, erfüllen kann, muß der König paradoxerweise die Essenz des wahren Dieners sein. Das gleiche Prinzip gilt sowohl für die gesamte Stufenleiter im Menschenreich als auch für die Bindeglieder zwischen den verschiedenen Reichen. Es ist das mitleidsvolle Gesetz der Natur, oft durch die ausgestreckten Hände symbolisch dargestellt, wobei die eine nach vorwärts und die andere nach rückwärts ausgestreckt ist.

Das Axiom "Vor allem: Sei wahr gegen dein eigenes Selbst" erweckt den Wunsch, dieses Selbst zu entdecken, und somit gerät der Intellekt oft in Versuchung, so zu handeln, als wäre das Selbst etwas von uns Getrenntes, ein Juwel in einem Futteral. Wenn auch der Intellekt in seiner Tätigkeit begrenzt ist, so ist er keineswegs vom Einfluß des Gemüts getrennt. Und das Selbst, wenn es auch undefinierbar ist, sendet doch Strahlen aus, die als praktische Mittel erklärt und erkannt werden können, um die persönliche Starrheit umzuwandeln.

Der Mensch, der damit begonnen hat, die Ursache des Konflikts, die seinem eigenen Selbst zugrunde liegt, zu erkennen, hat die Richtung gesehen, in die er gehen muß. Der erste Blick auf die Pläne zeigt jedoch nur den Umriß des Aufbaus. Wenn das Suchen beginnt, wird er sich in einem Übergangsstadium befinden, in dem der starke Drang verspürt wird, gegen die Herrschaft der vertrauten Verhältnisse anzukämpfen. Hier wächst die Versuchung, sich abzusondern und nur einen Teil des ganzen Wesens zu befreien. Wer aber das Konzept des großen Plans wirklich begriffen hat, wird wissen, daß alle Glieder mitbeteiligt sein müssen - der Mensch ist wahrlich die Menschheit.

Man sagt, daß aufrichtige Fragen ihre Antworten selbst anziehen. Wie aber kann jemand etwas über die Zukunft des Menschen oder über seine Vergangenheit wissen, über seine Beziehungen innerhalb des menschlichen Bereiches oder über seine Verbindungen mit anderen Reichen und mit der kosmischen Natur? Wird von uns erwartet, daß wir Metaphysik studieren? Der Fragesteller muß alles selbst durchdenken und die Antworten prüfen. Über und um all diese Dinge wurden Bände geschrieben, aber das alles ist solange nur literarischer Stoff, bis es nicht nur vom Intellekt, sondern auch vom Herzen des Lesers geprüft wurde. Wahrhaft weise Menschen haben gesprochen, und ihre Philosophien sind oft schriftlich niedergelegt worden. Große Dichter haben dem gesamten menschlichen Wesen, von der Ebene des Selbstes aus betrachtet, Ausdruck verliehen. Es gibt sowohl die christliche Bibel, die Bhagavad-Gîtâ, den Koran und das Tao-Te King wie auch die gegen Ende des letzten Jahrhunderts geschriebene Geheimlehre und auch noch andere Quellen der Inspiration, die verschiedene Völker in Ehren halten. Jedoch keine Quelle der Weisheit besitzt einen Zauberbecher, der die Weisheit von einem Behälter in den anderen fließen läßt. Jeder Entdeckung in der Unendlichkeit der verborgenen Natur muß ein Wunsch, zu wissen, vorausgehen. Aber genauso gewiß ist auch die Hilfe. Demut, verbunden mit Unterscheidungsvermögen, wird sie aus reinen Quellen anziehen. Jeder Mensch wandert den Pfad und trägt sein Bündel. Doch wir haben Mitwanderer; die einen sind neben uns, andere hinter uns, und wieder andere vor uns.

Es gibt dabei jene, die schneller vorausgewandert sind und jede auf dem Weg sich einstellende Depression kennen; sie haben sich jedoch entschlossen, das Weiterwandern aufzuschieben, um jüngeren Brüdern beizustehen und ihnen zu helfen, den Docht zu reinigen, damit sie mehr Licht empfangen können. Die Resultate, die ihrem Dasein zu verdanken sind, können nur indirekt verspürt werden; ihr Wirken vollzieht sich auf der Ebene der Ursachen. Männer und Frauen, Mitsuchende, die von diesem ausströmenden Mitleid berührt werden, bildeten von Zeit zu Zeit Gruppen, nicht um mehr Licht zu empfangen, sondern um ebenfalls Führer auf dem Pfad des Lichts zu werden. Ein Mann, der Leiter einer solchen Gruppe war, - er hatte sich keinesfalls um diese Stelle bemüht - erkannte, daß intellektuelles Wiedergeben der Prinzipien, nach denen man leben soll, nur Bedeutung haben kann, wenn sie der Betreffende in seinem eigenen Verhalten zur alltäglichen Gewohnheit macht. Er beantwortete tiefe Fragen einfach und klar. Seine Antwort auf eine Frage, die mit dem hier behandelten Thema in Einklang steht, ist folgende:

"Frage: Wie können wir wissen, daß die Inspiration von unserem höheren Selbst kommt?"

"Antwort: Die Antwort ist ganz einfach: Wenn Sie eine Inspiration, eine Intuition oder eine Vorahnung haben oder wenn Sie den Impuls verspüren, eine Entscheidung zu treffen, und Sie möchten wissen, ob die Eingebung wirklich von Ihrem höheren Selbst kommt und eine echte Intuition ist, so gibt es ein oder zwei Anzeichen, die Ihnen das sofort sagen können: 1) ist es für mich oder für irgend jemand anderen von Nutzen? 2) hat die Ausführung eine universale Wirkung, d. h., würde sie für jedermann gut sein oder nur für mich, oder würde sie für eine begrenzte Anzahl Leute, wie z. B. die Familie, von Nutzen sein? Ist der Impuls wirklich selbstlos oder ist er selbstsüchtig? Hierin sehe ich die beste Antwort, die ich weiß, und an die Sie sich immer halten können."

Unser Haus des Skeptikers ist eingefallen, und lächelnd flüstert er "unbrauchbar", wenn die Idee der sich ausbreitenden Selbstlosigkeit den Angelegenheiten des Alltags gegenübergestellt wird. Alle vertrauten Dinge und Gewohnheiten stemmen sich erst einmal ganz beharrlich gegen jede Veränderung, dabei sind sie in Wirklichkeit Kinder des falsch verstandenen spirituellen Dranges, die vorübergehend im Gestrüpp des Begehrens gefangen sind. Werden jedoch die Schranken der überlebten Gewohnheiten überwunden, von denen Nutzen und kurzfristiger Gewinn erwartet wird, während der Reichtum des Altruismus bereitsteht, dann erwartet uns goldener Glanz; die Verse des Poeten werden sich bestimmt durchsetzen und die Worte zum Gesetz werden. "Vor allem: Sei wahr gegen Dein eigenes Selbst" ist eine goldene Regel.