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Der Mensch – ein Zeitreservoir

In allen Epochen der Geschichte hat das intellektuelle menschliche Denken den Schauplatz für das sich entwickelnde Bewußtsein abgegeben, ganz gleich, ob es überwiegend religiöser Art oder wissenschaftlich oder philosophisch eingestellt war. Heute ist die Wissenschaft der Übermittler des Wissens und der Schrittmacher für dessen Begründung. Die wissenschaftlich ausgerichteten Universitäten übernehmen die Aufgabe, unsere augenblicklichen kulturellen Errungenschaften an die Menschheit des einundzwanzigsten Jahrhunderts weiterzugeben.

Unser Beitrag für die Zukunft stammt natürlich von jenen Errungenschaften, auf die wir besonders stolz sind: materielle Werte, Technologie, Besitztum, arbeitsparende Geräte, und unsere Findigkeit, mit den Naturgesetzen und den Schätzen der Natur scheinbar zu unserem Vorteil umgehen zu können. Das Ausmaß des allein in den letzten hundert Jahren erworbenen materiellen Wissens ist so umfassend, daß die Studenten gezwungen sind, davon ein oder zwei abgegrenzte Fachgebiete auszuwählen, um diesen ihre konzentrierte Aufmerksamkeit zu widmen. So bleibt vieles unbeachtet, was aber gleich wertvoll ist. Wir finden deshalb die merkwürdige Anomalie, daß einige unserer hervorragendsten Gelehrten, die in ihrem Fachgebiet außergewöhnliche Kenntnisse besitzen, auf anderen Gebieten, die nicht zu ihrem Fach gehören, schlecht unterrichtet sind. Vor kurzem fand eine Zusammenkunft von Studenten der Religionswissenschaft und der Philosophie statt. Ein Professor, der in drei wissenschaftlichen Disziplinen unterrichtet, nahm daran teil und sagte hinterher, daß er den Abend höchst lehrreich fand, weil er in den diskutierten Themen völlig unerfahren war. Er habe vollauf zu tun, um mit den neuen Entwicklungen auf seinen Spezialgebieten Schritt halten zu können.

Tatsächlich sind wir ein Konglomerat von Spezialisten geworden, die nicht imstande sind, von dem Erfahrungsreichtum Gebrauch zu machen, der jenseits des Bereiches liegt, der jedem von uns durch Wahl oder durch die Umstände zugefallen ist. Dabei ist es sehr bedeutsam, daß wir unsere Bemühungen auf äußerlich wahrnehmbare Tatsachen konzentrierten und daß wir unterlassen haben, den dazugehörigen inneren Menschen, den Empfänger von allem, zu entwickeln. Unsere geistige Einstellung war so voller Wissensstolz, daß wir jene kaum beachteten, die nur sind, deren innere Qualitäten an Einsicht und altruistischem Verhalten aber jeden gelehrtesten Experten der Wirtschaft oder Atomphysik in den Schatten stellen könnten.

Vor einigen Jahren hatte man erwogen, eine Zeitkapsel herzustellen, indem man in einem fast unzerstörbaren Behälter Proben der Errungenschaften unserer heutigen Zivilisation einschließen wollte. Dabei hoffte man, daß eine zufällige Entdeckung in der Zukunft den dann lebenden Menschen ermöglichen würde, unsere gegenwärtige Zeit zu erforschen. Ganz abgesehen davon, ob ein solcher physischer Gegenstand je entdeckt würde, steht uns eine viel haltbarere und geeignetere 'Kapsel' zur Verfügung, in der wir alles aufbewahren können, was auf lange Zeit von größtem Wert ist, ohne Rücksicht darauf nehmen zu müssen, wie die physischen Bedingungen in irgendeiner Epoche einmal sein mögen. Das ist das Vermächtnis der Gedankenwelt. Alles, was von bleibendem Wert ist und womit der menschliche Geist betraut wurde, wird zum festen Bestandteil des Gedankengutes, das von den kommenden Rassen benützt und vergrößert werden wird.

Plato betonte, daß die Welt von Ideen regiert wird. Der menschliche Geist muß die materiellen Hindernisse ergründen und überwinden, wie ein Grashalm, der durch die Asphaltdecke der Straße hervorbricht. Die Geschichte hat immer wieder bewiesen, daß Tyrannei zwar vorübergehend Gehorsam erzwingen kann, der menschliche Geist sich aber nicht zwingen läßt, jedoch für Vernunft empfänglich ist. Völker wurden unterjocht und sogar ausgerottet, aber innere Überzeugungen finden früher oder später ihr geeignetes Ventil, denn das Reservoir menschlicher Reichtümer basiert auf immateriellen Werten, und diese sind unzerstörbar. Deshalb kann auch die innere Befriedigung nicht allein durch physische Dinge erlangt werden. Wenn wir nach dem Sinn und Zweck suchen, müssen sowohl das Herz wie auch der Verstand beteiligt sein, und beide müssen während des vom Menschen zu bewältigenden Lebensprozesses eine Antwort finden. Mehr und mehr weitherzige Menschen beginnen, unsere angehäuften Werte in Frage zu stellen, und darum erscheinen unsere materiellen Gewinne immer dürftiger und unbefriedigender. Es ist uns möglich, auf dem Mond umherzuwandern, aber auf Erden müssen wir noch lernen, unsere hervorragendsten Fähigkeiten bestens anzuwenden. Die Forschung hat uns zahllose Dinge beschert, womit wir unsere Sinne ergötzen und unseren Intellekt erfreuen können, doch von einem weiterreichenden Gesichtspunkt aus gesehen sind sie wenig mehr als Spielzeuge für Erwachsene.

Unser Vermächtnis für die Zukunft wird von uns allen jetzt geschaffen. Es ist schon viel über die Gefahren, die den kommenden Generationen drohen, geschrieben worden - Überbevölkerung, Umweltverschmutzung, Wirtschaftskrisen. Viele beklagen auch den niedrigen Stand der Moral und die Interesselosigkeit auf den verschiedenen Gebieten der menschlichen Beziehungen. Doch der ernsthafteste Schaden, den wir hinterlassen, ist wahrscheinlich keiner der genannten, sondern er kann darin liegen, daß minderwertige Ideen allgemeine Verbreitung fanden und die Grundlage für das Betragen bilden. "Ohne Ideen geht das Volk zugrunde." Welche Ideen, was für eine feste Grundlage halten wir für die zukünftige Menschheit bereit, damit sie darauf bauen kann? Unsere Lehrer sind unsicher, denn ihre Philosophien scheinen für die denkenden jungen Leute, die zwischen den heute herrschenden, sich widerstreitenden Werten schwanken, zur Vorbereitung untauglich zu sein.

In der Vergangenheit gab es Zeiten, in denen zu lehren viel mehr bedeutete, als sich damit den Lebensunterhalt zu verdienen, es war mehr, als die zur Beschaffung des Lebensunterhalts notwendigen Fähigkeiten zu vermitteln, - der vorherrschende moderne Begriff von Erziehung - wie sie die Künstler und Handwerker ihren Lehrlingen, oder Eltern den Kindern beibringen, die in ihre Fußtapfen treten. Die wahren Lehrer waren jene, die ihre erwählten Schüler (d. h. Lernende in Selbstdisziplin) durch ihr eigenes untadeliges Leben und ihre reinen Motive dafür begeisterten, in sich selbst edlere Aspekte des Charakters und der Erkenntnis bis zu dem höchsten Grade zu entwickeln, der für den einzelnen möglich ist. Das war ein Prozeß der Ent-faltung, des Herauslockens der Eigenschaften, die in der spirituellen Seele wohnen - Fähigkeiten der Erkenntnis und des Verstehens, die die sichtbare Geschicklichkeit für praktische Arbeit weit übertreffen, sie beseelen, aber nicht verdrängen. Zu diesem Zweck diskutierten die Philosophen mit ihren Schülern über Ideen und versuchten, in ihnen einen Widerhall zu wecken. Das ist etwas ganz anderes, als in kleinen Dosen Angaben zu vermitteln. Das Band zwischen einem solchen Lehrer und seinem Schüler wurde als heiliger betrachtet als dasjenige zwischen Eltern und Kind, denn während die Eltern dem Kind zu einem Körper verhelfen, bringt der wahre Lehrer die Seele zur Entfaltung.

In den Mysterienschulen wurden die Wissenschaften auch vom Standpunkt der Verstandesprinzipien ausgewählten Schülern gelehrt, die für würdig befunden worden waren, nach entsprechender Schulung und Einweihung, die heilige Gabe des Wissens zu besitzen und denen man vertrauen konnte, daß sie ihr Wissen nicht mißbrauchten oder an Unwürdige weitergaben. Die mit diesem Wissen verbundene Verantwortlichkeit wurde voll anerkannt und respektiert. Es ist allgemein bekannt, daß ein großer Lehrer - Christus - seine Jünger davor warnte, "die Perlen vor die Säue zu werfen." Jeder spirituelle Lehrer der Menschheit, Buddha, Laotse, Sankarâchârya, Plato, Pythagoras und viele andere, hatte einen kleinen Kreis auserwählter Schüler, die esoterische Belehrung empfingen. Sokrates verlor sein Leben, weil er die festgelegten Grenzen überschritten hatte. Reste dieser Art der Erziehung waren noch im Mittelalter vorhanden, als die Institute der Gelehrsamkeit noch religiös ausgerichtet waren, obgleich die Philosophie lange vorher des blinden Glaubens wegen aufgegeben worden war und die Kirchenschulen für Propagandazwecke verwendet wurden, um Anhänger für die Organisation zu gewinnen, indem man Mitglieder bekehrte oder sie in einer Art psychokulturellem Gewächshaus aufwachsen ließ.

Heute liegt ein großer Teil der Verantwortung, jene aufzuklären, die die Fackel in die Zukunft tragen sollen, in den Händen wissenschaftlicher Autoritäten. Sie legen die Richtlinien fest, denen die Allgemeinheit folgt. Anerkennend sei gesagt, daß auf vielen Gebieten, selbst in der Technologie, die tiefer denkenden Gelehrten über das Fehlen von menschlichen Werten beunruhigt sind. Unter ihnen befindet sich Dr. Roger W. Sperry vom Kalifornischen Institut für Technologie, der seine Gedanken in einem Vortrag zum Ausdruck bringt, der bei verschiedenen wissenschaftlichen Tagungen und in Seminaren wiederholt wurde:1

Für die 1970er Jahre kann es keine Aufgabe von entscheidenderer Bedeutung geben, als zum Wohle der zivilisierten Gesellschaft neue, gehobenere Wertbegriffe zu finden, die für die wachsende Anzahl der Menschen und die neue Macht über die Natur besser geeignet sind, einen Rahmen zu finden, der die Welt schützt und aufrecht erhält, anstatt sie zu zerstören. Ein Weg, der das möglich machen könnte, zeichnet sich deutlich ab. Er besteht in der Vereinigung von Wissenschaft, Ethik und Religion, was dazu führen würde, daß Einsicht, Wissen und wissenschaftliche Prinzipien ihren Einfluß auf das ganze Problem der Werte und Wertprioritäten zum Tragen bringen. Wir brauchen dringend etwas, das beinahe eine Wissenschaft der Werte genannt werden könnte.

Wenn die Wissenschaftler nicht nur in ihren Spezialgebieten und unantastbaren Prinzipien erkennen, was die Menschheit braucht, wenn sie also ihr augenblickliches System in Frage stellen könnten, dann bestünde große Hoffnung, daß eine universalere Anschauung Vorrang bekommt und die edleren Aspekte menschlichen Denkens auf einer gesunden Grundlage wieder Gültigkeit finden, unterstützt durch das Prestige der Wissenschaft und einer intelligenten Betrachtung der unfaßbaren Mysterien des Seins.

Fußnoten

1. "Science and the Problem of Values" aus Perspectives in Biology and Medicine, Herbst 1972. [back]