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Werden wie die Götter

Schon seit unzähligen Jahrtausenden hätte der Mensch gern etwas über seinen Ursprung gewußt. Er hat Theorien über die ersten Menschen aufgestellt und über ihre eventuelle Verwandtschaft mit den Tieren. Hat tatsächlich Gott den Himmel und die Erde geschaffen und alle Geschöpfe, die hier leben? Oder entsprang die Vielgestaltigkeit des irdischen Lebens aus irgendeinem inneren Entwicklungsprozeß der Natur? Diese Fragen wurden in den verschiedenen Zeitepochen vielfältig beantwortet. Die Antworten waren für gewöhnlich durch die jeweils vorherrschende Meinung gefärbt, voller Aberglauben, dogmatisch, oder beruhten auch auf Tatsachen. In den letzten hundert Jahren wurde zunehmend die Auffassung vertreten, daß sich das Leben allmählich entwickelte, daß es mit einfachen Formen begann und dann immer mehr Varianten von zunehmender Komplexität hervorbrachte. Im gleichen Verhältnis zu diesen äußeren Veränderungen entwickelten sich die inneren Fähigkeiten, die Sinne und Gefühle, die Denkfähigkeit und der Intellekt, die alle im größeren Bewußtsein des Menschen ihren Höhepunkt erreichen. Dieser Vorgang wird Evolution genannt.

Wenn wir jedoch davon ausgehen, - wie es heute viele tun - daß die physische Welt von blinden Gesetzen regiert wird, und daß alles Leben nur entstand, weil diese Gesetze auf die träge Materie einwirkten, dann bleibt uns allerdings nichts weiter übrig, als anzunehmen, daß der Mensch tatsächlich nichts weiter ist als ein Körper, von dem Gemüt und Bewußtsein nur komplizierte Nebenprodukte sind. Diese Ansicht wird durch die beherrschende Position der Wissenschaft im heutigen Leben untermauert. Dabei leugnen die Wissenschaftler in ihren persönlichen Lebensanschauungen die Existenz metaphysischer Gesetze, Realitäten und Wesen durchaus nicht; aber, ganz gleich, wie erhaben ihre individuellen Überzeugungen auch sein mögen, irgendwie werden sie durch das Verhalten der Wissenschaft gezwungen, ihre berufliche Tätigkeit so zu betreiben, als wenn diese inneren Faktoren nicht notwendig wären, um den Menschen und die ihn umgebende Welt zu erklären. Die psychologischen Einwirkungen, die diese Ideen viele Jahrzehnte hindurch ausgeübt haben, sind kaum abzuschätzen.

Und dennoch hatte der materialistische Darwinismus schon in den Anfängen seine Kritiker unter den Wissenschaftlern. In der April/Juni-Ausgabe des Journal of the History of Ideas werden eine Anzahl Auszüge aus Darwins Korrespondenz veröffentlicht, in denen der sogenannte Vater der modernen Evolutionstheorie zeigt, daß er gar nicht erfreut war über die sozial-materielle Richtung, in die seine Ideen von einigen seiner Zeitgenossen und Anhänger - den wirklichen Schöpfern dessen, was wir heute Darwinismus nennen - gelenkt wurden. Es ist recht interessant, daß das moderne Denken wieder zu Darwins ursprünglicher Ansicht von der "natürlichen Auswahl" zurückkehrt, im Gegensatz zu Spencers "Überleben des Tauglichsten"; denn in der Geschichte der Arten sind es oft die Sanftmütigen, die die Erde erobern, nicht die Stärksten und die Rücksichtslosesten.

Alfred Russel Wallace, der Mitentdecker des Darwinismus, und der hervorragende französische Anthropologe De Quatrefages gaben die Notwendigkeit zu, daß bewußte Wesenheiten die Vorgänge in der Natur überwachen, und übten an den einzelnen Punkten der Evolutionstheorie Kritik. Ihnen folgten zahlreiche andere; in neuerer Zeit René Dubos, Loren Eiseley, Teilhard de Chardin und viele andere. Auch auf anderen wissenschaftlichen Gebieten deuteten Jeans und Eddington, Einstein und Schrödinger auf die Unvollständigkeit der mechanistischen Theorien hin und auf die Notwendigkeit einer umfassenderen kosmischen Philosophie, die Bewußtsein und Intelligenz einschließen würde, und zwar nicht als Nebenprodukte der Materie, sondern als grundlegende, kausale Elemente.

Erwin Schrödinger, der Nobelpreisträger für Physik, befaßte sich mit griechischer Philosophie, um seine wissenschaftlichen Anschauungen zu vervollständigen. Er hatte den Eindruck, daß die Wissenschaft viele allgemein verbreitete religiöse Überzeugungen verwarf, ohne dafür irgendeinen wertvollen Ersatz zu bieten. Wir sehen uns "... dem grotesken Phänomen wissenschaftlich geschulter, höchst sachkundiger Denker mit unglaublich kindlicher, - unentwickelter oder verstümmelter - philosophischer Anschauung" gegenübergestellt (Nature and the Greeks, S. 10 - Die Natur und die Griechen). Schrödinger versuchte, seine Entdeckungen mit Religion und Philosophie in Einklang zu bringen, indem er den wissenschaftlichen Theorien einen größeren Rahmen gab.

Im Altertum scheint die Ansicht geherrscht zu haben, daß das Universum, das von Heerscharen höherstehender Intelligenzen beaufsichtigt wird, ungeheuer groß ist. In den uns überlieferten vermenschlichten Mythen und symbolischen Geschichten sind die wirklichen Obliegenheiten und das Wirken dieser Intelligenzen allerdings schwer zu erkennen. Für viele Philosophen früherer Zeiten war das Verhältnis zwischen Menschen und "Göttern" ähnlich wie das zwischen den Molekülen unseres Körpers und unserem eigenen, die Aufsicht führenden Bewußtsein, das heißt, alle wirken untrennbar und unersetzbar zusammen. Die Hierarchien höherer Wesen, die in ihrer Gesamtheit den göttlichen Aspekt des Kosmos bilden, unterstützen durch ihre spezifischen charakteristischen Eigentümlichkeiten die in der Natur, unter den Planeten und allen anderen Sternen unzweifelhaft herrschenden universalen Gesetze der Ordnung und Harmonie. Ihr Einfluß erstreckt sich auch auf den Vorgang von Ursache und Wirkung in jedem Aspekt des kosmischen, irdischen und menschlichen Lebens. Wenn ein Widerstreit der Wünsche das empfindliche Gleichgewicht stört, entsteht Verwirrung. Beim Homo sapiens wird sie noch verstärkt, wenn der Mensch der Entfaltung der von ihm in Bewegung gesetzten Ursachen entgegenarbeitet.

Ein nahezu jeder großen Religion gemeinsamer Begriff ist, daß der Mensch eine höhere und eine niedere Natur besitzt. Einerseits ist er wahrhaft buchstäblich ein Kind der Götter, das durch die Erfahrungen in vielen Inkarnationen eine tiefere Weisheit zu gewinnen und größeres Mitleid zum Ausdruck zu bringen sucht. Auf der anderen Seite hat er, was manchmal eine Tiernatur genannt wird: Ein nützliches Instrument, wenn es richtig geleitet und geschult wird; ein jeder Bestialität und jedes Verbrechens fähiger Tyrann, wenn ihm nachgegeben und erlaubt wird, sich ungehindert zu entfalten. Das menschliche Dilemma liegt anscheinend immer in dem Problem, die niederen Elemente zu beherrschen, indem man die schlummernden Gaben und Kräfte der höheren Elemente zu größerer Aktivität bringt.

Der Darwinismus hat das Tier im Menschen in gewissem Sinne verherrlicht, denn seine Lehrsätze bestärken die Anschauung, daß wir nur eine Art höherstehendes Tier sind, das mit einem dünnen Kulturfurnier überzogen wurde und erst kürzlich aus dem Dschungel oder aus den Höhlen auftauchte. Das hörten wir jedenfalls über hundert Jahre lang. Es kann nicht geleugnet werden, daß jeder von uns eine solche niedere Natur hat. Wir sind uns dieser Tatsache nur zu gut bewußt; aber wenn wir nur diese niedere Natur hätten, befände sich die Menschheit wirklich in einer traurigen Lage. Welche Bewandtnis hat es mit unserer höheren Natur, der Quelle von allem, was erhaben und selbstlos in unserem Leben ist? Oder kann ethisches Verhalten wirklich nur als ein Reflex erklärt werden, der dem Wunsch entspringt, gelobt und der Furcht, ertappt und bestraft zu werden, wie manche Psychologen in den Kliniken uns glauben machen möchten?

Die Idee, daß durch Zufall und praktisches Herumprobieren Entwicklung erfolgt, wird fast ohne Unterschied auf nahezu jedem Gebiet angewendet. Wir beziehen uns auf die Entwicklung der Sprache, der Ausdrucksweise und der Schrift; wir suchen das zu ergründen, was unserer Meinung nach die Entwicklung der Kunst, der Architektur und Musik, der Zivilisation und Religion ist. Was ist in diesem Zusammenhang mit Evolution gemeint? Ist sie vielleicht in den Zeiten zwischen dem Bau der Großen Pyramide, des Parthenons und der modernen Wolkenkratzer zu bemerken? Wenn ja, in welcher Weise? Und wie steht es mit den vielen dazwischenliegenden Jahrhunderten relativer Unfruchtbarkeit und manchmal des Verfalls? Oft gelingt es nicht, eine wahrnehmbare Weitergabe der erlangten Fähigkeiten, einen ununterbrochenen Zusammenhang zu sehen. Hat sich die heutige menschliche Natur im Vergleich zu derjenigen aus früheren Zeiten sehr verändert?

Die christliche Theologie drängte die Geschichte der menschlichen Rasse in ein paar tausend Jahre zusammen. Dann befreite uns der Darwinismus von diesem Dogma, aber nur, um uns sein eigenes aufzudrängen, das uns zwingt, die Geschichte des zivilisierten Menschen in einen Zeitraum von ungefähr fünf- bis zehntausend Jahren zu pressen, wobei am Anfang ein hypothetischer primitiver Vorfahre steht, und die Menschen dann plötzlich hochintelligent und schöpferisch erscheinen, so wie wir heute sind. Das alles beginnt nun jedoch zusammenzubrechen, weil sich Berge von Beweismaterial anhäufen, woraus das Gebiet und der Reichtum uralter menschlicher Leistungen ersichtlich sind, die auf die überlegene Intelligenz hinweisen, mit der diese geplant sein mußten. In einer größeren Sicht könnten dieselben Tatsachen in einer völlig neuen und gleichfalls gültigen, stichhaltigeren Perspektive gesehen werden. Dadurch würde der psychologische Einfluß der wissenschaftlichen Philosophie positiver und anregender werden, anstatt deprimierend und beschränkend.

Häufig versucht man, die Geschichte der Religion mit Hilfe des Evolutionsgedankens zu erklären. Mit den primitiven Tabus der Stämme, mit Magie und den personifizierten Naturkräften beginnt man, geht weiter bis hinauf zum Pantheon der 'heidnischen' Götter und gelangt dann zu den heutigen Institutionen und Begriffen. Ob aber unsere gegenwärtigen religiösen Anschauungen besser entwickelt sind als diejenigen der Zeitgenossen von Jesus, Buddha oder Laotse, oder ob unser tägliches Leben mehr geistige Größe und Würde widerspiegelt, ist zumindest eine strittige Frage. Die Geschichte bestätigt die Behauptung, daß religiöse Institutionen genauso dem Wachstum und dem Verfall unterliegen, wie jede andere Schöpfung des Menschen.

Andererseits ist aber auch genügend Material vorhanden, das die Idee untermauert, die Evolution sei im Individuum verankert und finde in der menschlichen Seele statt. Unsere Rasse bestand nach dieser Auffassung schon immer aus höher entwickelten, durchschnittlich entwickelten und verhältnismäßig unterentwickelten Menschen; das Kommen und Gehen dieser menschlichen Wesen von Leben zu Leben - durch Karma in Familien-, Völker- und Rassenschicksalen verbunden - kann die Ursache für die Ungleichheit der menschlichen Errungenschaften sein und auch dafür, daß es anscheinend an physischer Übermittlung zwischen den Epochen mangelte. Wenn man alles von dieser erweiterten Perspektive aus betrachtet, dann liegt die Kontinuität der Evolution nicht in Körpern, Persönlichkeiten, Nationen und auch nicht bei den Rassen, - die alle vergänglich sind, und ihren Aufstieg, ihren Gipfelpunkt und ihren Abstieg haben - sondern vielmehr in den Seelen, die geboren werden und die Frucht ihrer eigenen Vergangenheit mitbringen. Wenn diese nun in ihrem Charakter und in ihren Fähigkeiten mehr von ihren spirituellen Möglichkeiten offenbaren, dann geht der Lauf der Evolution langsam voran.

Dagegen kann eingewendet werden, daß es nicht wissenschaftlich ist, wenn man nun annimmt, daß der Mensch diese verborgenen Möglichkeiten hat und daß die Idee von diesen Möglichkeiten, die sich in der menschlichen Seele in vielen Leben nach und nach entfalten, kaum mit der angenommenen Evolutionstheorie übereinstimmt. Doch darauf kann mit gleichem Nachdruck erwidert werden, daß bei dieser Anschauung über die Natur des Menschen und seine Bestimmung aber auch keine wissenschaftliche Tatsache verworfen wird. Nicht die Tatsachen stehen einer umfassenderen Idee der universalen und menschlichen Evolution im Wege, sondern festgefahrene, materialistische Theorien, die uns an rein physische Erklärungen ketten und anstelle von spirituellen Intelligenzen die planlosen Energien der Materie setzen. Wie Hamlet sagt:

Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, Horatius, als sich eure Philosophie träumen läßt.

Engstirnige Theorien haben entmutigende Nebenwirkungen. Wenn wir aber erst einmal zugeben, daß Bewußtsein das ursprüngliche Element hinter der Evolution ist und daß der intelligente Mensch und seine Zivilisationen wahrscheinlich Tausende - in der Tat Millionen - Jahre älter sind als die dürftigen Jahrtausende, die ihnen gewöhnlich zugewiesen werden, und wenn wir den großzügigeren Anschauungen einiger unserer weitblickenden Wissenschaftler Glauben schenken, ohne sie zu brandmarken, dann wären wir sicherlich auf dem Weg zu einer neuen Ära in Wissenschaft und Zivilisation. Inspiriert durch die Macht unserer eigenen inneren Göttlichkeit, die tatsächlich vorhanden ist, könnte es uns gelingen, wie die Götter auf Erden zu wandeln, die wir potentiell sind.