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Verlangen nach Wahrheit?

Enoch, warum fragst Du, und warum hast Du ein so starkes Verlangen nach Wahrheit?

 

 

Ein Akademiker von einer nahegelegenen Universität wollte für Sunrise schreiben und fragte deshalb an, welche Leser mit dieser Zeitschrift angesprochen werden sollen, also wer sie kauft. Intelligente, aufgeschlossene, aber nicht unbedingt akademisch gebildete Menschen, antwortete ich, obwohl natürlich auch Pädagogen, Geistliche, Wissenschaftler und Vertreter vieler anderer Berufe zu unseren Lesern zählen. Sunrise will vor allem diejenigen ansprechen, die, wie wir selbst, die großen und bedrückenden seelischen Nöte für wichtiger erachten als die einengenden Wünsche des persönlichen, kleinen Ichs. Kurz, Sunrise wendet sich an alle, deren Denken frei und unabhängig ist, die die etablierten Normen in Frage stellen und vor allem den echten Kern der Dinge suchen, ganz gleich, ob er sich in erstarrten religiösen und philosophischen Axiomen, in den erstaunlichen Folgerungen wissenschaftlicher Forschung oder den Aussagen der edelsten und weisesten Menschen verbirgt.

Es mag widersinnig erscheinen, vom göttlichen Wesen des Menschen zu schreiben, wenn gleichzeitig Verbrechen, Terror und Haß das menschliche Dasein beherrschen. Das alles ist ein Teil des Lebens, das steht fest; es muß aber nicht unbedingt ein Teil unserer Zukunft sein. Das Verlangen nach klareren Antworten, nach befriedigenderen Auslegungen der Lebensrätsel, nach einer stärkeren Erforschung der verborgenen Seiten der Seele, das alles ist ein Beweis für die Elastizität des menschlichen Geistes. Was ist Wahrheit? Diese Frage bleibt so lange bedeutungslos, bis wir im eigenen Leben erfahren, was Jesus meinte, als er sagte: "Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben" - denn nur wenn wir die innere Wahrheit enthüllen, werden wir den Pfad offen vor uns sehen, der unser Lebensweg ist.

Man hat sich die Wahrheit als einen unbeschreiblich schönen Edelstein vorgestellt, der, als er zur Erde fiel, in unzählige Fragmente zersplitterte, und jeder, der ein Splitterchen fand, glaubte, er allein besitze die ganze Wahrheit. Das ist in der Tat eine Komödie und dennoch voller Tragik, weil wir, trotz der erstaunlichen Emanzipation auf so vielen Gebieten, immer noch nicht die Verkettungen unseres Getrenntseins überwunden haben. Bei jedem Volk gibt es eine aus alten Zeiten stammende Überlieferung, die sehr heilig gehalten wurde. Sie berichtet von weit fortgeschrittenen Menschen, die, wie Enoch, die Erforschung der Wahrheit so ernsthaft betrieben haben, daß sie sehr rasch vorangeschritten sind und uns alle weit hinter sich gelassen haben. Unter ihnen gab es jedoch in jeder Epoche einen oder mehrere, die das menschliche Leid so stark berührte, daß sie den Entschluß faßten, mitten unter diesen Menschen zu leben und zu arbeiten, um alle, die hören wollten, anzuspornen, ihr Herz dem inneren Licht zu öffnen.

Die Geschichte ihres Schicksals und ihres Lebenswerks ist nur zu gut bekannt. Heute können wir jedoch nicht viel mehr als Bruchstücke, versteinerte Fragmente und zusammenhanglose Teile finden. Sie enthalten zwar wertvolle Körnchen, ergeben aber als einzelne Teile kein vollkommenes Bild der lebendigen Botschaft.

Die Archäologen vollbringen anhand verstreut aufgefundener Knochen, einzelner Zähne, Bruchstücken aus Leder, Papyrus-Schriftrollen oder Tonscherben, wahre Wunderleistungen. Je mehr ihnen dabei bekannt ist, wie das zu rekonstruierende Objekt aussehen muß, desto mehr Erfolg haben sie. Haben sie jedoch keine Vorstellung davon, dann registrieren sie geduldig die einzelnen Bruchstücke. Manchmal lassen sich da und dort einige zusammenfügen, und so bekommen sie wenigstens eine Ahnung, wie das Original ausgesehen haben mag. Mit den Bruchstücken religiöser Offenbarung, philosophischer Prinzipien und wissenschaftlicher Hypothesen geht es uns eigentlich weit besser. Sie stellen, wie lückenhaft sie auch sein mögen, doch schließlich Facetten des Edelsteins der Wahrheit dar. Aber gerade hier sind wir durch unsere spezielle Art der Betrachtung so voreingenommen geworden, daß wir die größere Perspektive verloren haben und nicht erkannten, daß die vielen zerbrochenen Splitterchen, wenn man sie in einem universalen Rahmen zusammensetzt, ein evolutionäres Bild von kosmischem Ausmaß ergeben würden.

Wir wären in einer seltsamen und schrecklichen Lage, wenn es keine derartige Synthese gäbe, die die vielen wunderbaren und inspirierenden Splitterchen, die der menschliche Genius der Welt gab, zu einem lebendigen Ganzen zusammenfügt. In jeder Epoche und in jedem Land sind vom heiligen Gral Zeichen gegeben worden. Dieser Gral hatte so viele Namen wie es Menschen gab, die mutig und würdig genug waren, ihn zu suchen. Er war die Gnosis der frühen christlichen Mystiker, die Gupta-Vidyâ oder Geheimlehre Indiens, das Tao Chinas, wie auch die Kabbala oder Überlieferung der Chaldäer und Hebräer. Nicht zuletzt aber war er die Theosophia oder Gottesweisheit jeden Zeitalters, in der Vergangenheit und in der Gegenwart.

"Warum fragst Du, und warum hast Du ein so starkes Verlangen nach Wahrheit?"1 So fragte Uriel, ein Engel, Enoch, den Schriftgelehrten, einen rechtschaffenen Mann, dessen inneres Streben so zielstrebig und dessen Motiv so rein war, daß "seine Augen geöffnet" und ihm die Werke des Himmelreichs gezeigt wurden, die "Schätze der Sterne und den Donner und die Blitze", wie auch die Sphären in der Unterwelt, wo die menschlichen Seelen ihrem Verdienst entsprechend gerichtet werden. Er verstand alles, was er hörte, und alles, was er sah, und als die Visionen verschwanden, erzählte er sie, nicht nur seiner eigenen Generation, sondern "für eine zukünftige, die erst noch kommen muß."

Die großen Menschheitslehrer, deren Ideen später die Grundlage für die herkömmlichen Religionen und philosophischen Schulen wurden, waren die Enoche ihrer Zeit. Jeder von ihnen war "gottgelehrt" und hat die mystische Vereinigung mit der Quelle der inneren Wahrheit erreicht. Wenn man bedenkt, daß es nur eine Wahrheit gibt, nur eine Göttlichkeit, und es im innersten Wesen keine Trennung gibt, dann hatte auch jeder eine Vision ein- und derselben Realität. Deshalb waren sie auch "Vermittler, sie brachten also keine neuen, eigenen Lehren ... sie waren die Schöpfer neuer Formen und Interpretationen, denn die diesen zugrundeliegenden Wahrheiten sind so alt wie die Menschheit."

Genauso war es auch bei H. P. Blavatsky, deren Geheimlehre eine weitere und - weil das Erkenntnisvermögen der Menschheit inzwischen weitreichende Fortschritte gemacht hat - eine umfassendere Neudarstellung der uralten Weisheitslehren übermittelt. Ihre allgemeingültigen Prinzipien waren einst jeder Rasse und jedem Volk gegeben worden, aber während der nachfolgenden Zivilisationen und durch die menschliche Bigotterie und Unduldsamkeit sind sie in anscheinend zusammenhanglose Grundbestandteile zersplittert. Die Autorin konzentrierte ihr Interesse besonders auf die kosmischen Themen der Stanzen des Dzyan und die Kommentare darüber, die den Menschen aus den Fesseln materialistischen Denkens zu befreien vermögen - auf Lehren, die, wie sie sagte, "verstreut in Hunderten und Tausenden von Sanskritmanuskripten gefunden werden können und ... auf die in den fast unzähligen Bänden brahmanischer, chinesischer und tibetischer Tempelliteratur hingewiesen wird."

Da die archäologische Forschung mehr und mehr Zeugen der materiellen und geistigen Menschheitsgeschichte entdeckt, wird Blavatskys Behauptung bekräftigt, daß es eine "ursprüngliche Offenbarung" gibt, eine heilige Weisheits-Tradition, die "noch existiert und der Welt nie verloren gehen, sondern wiedererscheinen wird."

Diese Stanzen, so berichtet die Autorin, stammen aus unermeßlicher Vorzeit2 und waren in ihrer ursprünglichen Form die Quelle aller späteren Offenbarungen; und - was aber noch wichtiger ist - auch sie stellen nur einen kleinen Teil der umfangreichen Lehre dar, die Frau Blavatsky studierte, als sie sich im Osten aufhielt. Wir können dabei einen gewaltigen Einblick über die Entstehung von Universen erhalten, von der Tiefe des Raumes, vom Erwachen der leuchtenden Söhne des Lichts und von den Baumeistern, die Welt um Welt hervorbrachten, bis schließlich eine entstand, die sich als lebensfähig genug erwies, um die Menschheit und alle darunter liegenden Reiche aufzunehmen. Schon für sich allein betrachtet fanden die Stanzen großen Anklang, nicht nur wegen ihrer majestätischen Konzeption, sondern auch deshalb, weil ein erstaunliches Bild der Themengleichheit zu sehen ist, wenn man sie den traditionellen Schöpfungsberichten der verschiedenen Völker gegenüberstellt.

Damit soll aber nicht gesagt sein, daß Sunrise vorgibt, die Wahrheit anzubieten, nur weil wir, neben anderen, auch an der Erforschung der Werke Blavatskys - die ein Interpret der spirituellen und philosophischen Schätze der Welt war - interessiert sind. Das wäre lächerlich und entspräche ganz und gar nicht unserer Absicht. Im Gegenteil, wir sind mit Robert Browning der Ansicht, daß die Wahrheit im Innern liegt, und daß wir, jeder einzelne für sich, wenn wir Erleuchtung erhalten wollen, auf dem Aktionsradius unseres Wesens bis zum eigentlichen Zentrum vordringen müssen, wo "Wahrheit in Fülle wohnt."

Um also im besonderen auf uns zu kommen. Ist das simple Theoretisieren über zyklisches Erscheinen und Verschwinden von Universen in unendlicher Folge - so faszinierend und erstaunlich modern das Thema auch sein mag - für uns von praktischem Nutzen bei der Bewältigung des allgegenwärtigen Dilemmas menschlichen Leidens? Wir glauben, daß es nützlich sein kann, vorausgesetzt, daß wir den inneren Zweck unseres Lebens im Zusammenhang mit dem sich entfaltenden Drama der Natur sehen.

Geburt und Tod, Tod und Geburt; gibt es in irgendeinem Naturreich irgendeine Gattung, die nicht die alten Formen abwirft, um die Art zu erneuern und fortzupflanzen? Atome, Moleküle, Zellen, alle werden geboren und sterben innerhalb der Lebensspanne unseres Körpers x-illionen mal. Wir betrachten das alles als selbstverständlich; ist es aber nicht seltsam, daß wir uns selbst völlig außerhalb dieses evolutionären Schemas sehen? Und doch werden sich die zunehmenden Veränderungen der Bewußtseinszustände, die periodischen Metamorphosen der Körper weiter fortsetzen - in den Mikrowelten der Atome wie auch in den Makrowelten der Galaxien und Milchstraßen, wo Sterne zu Supernovae explodieren und ihre Essenz in alle Richtungen zerstreuen. Wo uns aber, genauso gewaltig, 'dunkle Löcher' daran erinnern, daß das Geheimnis an beiden 'Enden' des Spektrums evolvierenden Lebens verbleibt.

So ist es auch bei uns: Wie wunderbar ist der Mensch - mit der reinen Güte des menschlichen Herzens, dem Wunder des mitfühlenden Mitleids, wo immer es notwendig ist - das sind die Qualitäten, die die Äonen überdauern. Doch irgendwann in unserem Leben müssen wir alle durch das Tal der Schmerzen gehen, denn dadurch stellen wir unsere Festigkeit unter Beweis und erlangen eine neue Geburt. Wie trostreich ist es deshalb, im tiefsten Kummer zu erkennen, daß alles so ist wie es sein soll, daß keine Schwierigkeit erduldet und kein Hindernis überwunden wurde, das nicht seinen Platz in dem sich entwickelnden Plan eines Lebens hätte. Wie tröstend ist es, die Gewißheit zu besitzen, daß es nicht das bittere Ende aller Hoffnungen bedeutet, wenn das Unglück über einen geliebten Menschen hereinbricht. Nein, andere Leben wird es geben, andere Gelegenheiten, um Unrecht wieder auszugleichen und Kämpfe zu gewinnen, die heute verloren erscheinen; und neue und höhere Dimensionen des Geistes werden erreicht, weil wir Gottesfunken sind, die sich höher entwickeln.

Enoch ist in Wirklichkeit nichts anderes als wir selbst. Er hat nur länger und intensiver gesucht, so daß er sich die Segnung der Erleuchtung verdient hat: die großartige Wahrheit, daß ich und Du - Mensch und Mitmensch, Mensch und Atom, Mensch und Sonne oder Stern - eins sind. Das alles sind einfache Worte und dennoch können sie uns zutiefst bewegen, denn mit einer jähen, blitzartigen Erleuchtung erkennen wir, daß wir und der Kosmos ein Pilger sind, ein Wesen, das verschiedene Facetten unseres vielfach funkelnden Selbst zum Ausdruck bringt.

Fußnoten

1. Buch des Enoch, 8, XXI. [back]

2. In diesem Zusammenhang ist es erwähnenswert, daß Dr. Gersholm Scholem, Professor für jüdische Mystik an der Hebräischen Universität, Jerusalem, annimmt, H. P. Blavatsky habe die Stanzen des Dzyan von einer alten kabbalistischen Abhandlung abgeleitet, dem Siphra di-tzeniutha, wobei er glaubt, daß die "Jüdische Theosophie" der Kabbala noch vor Frau Blavatskys Quelle existierte. Wir stimmen dem nicht zu. Vom inneren Standpunkt aus ist es jedoch von geringer Bedeutung, was zuerst da war; denn wenn der Autor der Siphra di-tzeniutha einer der "Gottgelehrten" war, und wir nehmen dies an, dann hat er aus dem Brunnen der Wahrheit geschöpft, ob aus dem Innern oder aus der archaischen Quelle. (S. Major Trends in Jewish Mysticism, S. 392.) [back]