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Die Christus Mythe

Vor langer Zeit, in der historisch unbekannten Vergangenheit, bestanden große Zivilisationen, die Zeugnisse ihrer Errungenschaften hinterließen - steinerne Überreste, Ruinen und in Stein gemeißelte Inschriften, während Legenden und Epen ihre Geschichte im Gedächtnis der Rasse lebendig erhielten. Was auch immer die unmittelbare Ursache ihres Dahinschwindens gewesen sein mag, ob Naturkatastrophen oder angehäufte menschliche Fehler, wie sie heute unsere Kultur bedrohen, die Berichte über die Taten und die Tapferkeit der damaligen Helden verbreiteten sich unter den weniger begabten Nachkommen weiter, indem sie von den Alten an die Jungen weitergegeben wurden, bis die alten Legenden im Verlauf von Generationen einen märchenhaften und unwirklichen Charakter bekamen. Mit der Zeit erinnerte man sich nur noch schwach an die Führer der Völker, und die großen spirituellen Lehrer wurden als Götter verehrt. Die Wahrheit, die sie gelehrt hatten, wurde jedoch immer mehr mißachtet und vergessen. In unserer Ära heute haben Gelehrte einen reichen Schatz derartiger Überlieferungen wiederentdeckt, die in den ältesten Sagen der Völker wurzeln und von denen die meisten in einer kurzen Spanne einer verhältnismäßig neueren Zeit niedergeschrieben wurden.

Ganz besonders fällt dabei die außergewöhnliche Ähnlichkeit dieser alten Geschichten auf, obgleich sie aus weit voneinander getrennten Teilen des Globus stammen. Sie alle handeln nicht von alltäglichen Ereignissen, die gleichzeitig an verschiedenen Orten hätten geschehen können, sondern von unwahrscheinlichen Dingen, die eine überraschende Einstimmigkeit der Imagination widerspiegeln. Zum Beispiel gibt es die Erzählungen von Schlangen und Drachen, angefangen von der geflügelten Schlange der Tolteken bis zu den fliegenden Drachen Chinas, vom nordischen Fafnir bis zum Fohat Tibets, vom Lande der Druiden bis zum Garten Eden, wo immer auch vermutet wurde, daß er gewesen sei; über die ganze Erde verstreut gab es Drachen- und Schlangenkulte. Es ist kaum anzunehmen, daß die feuerspeienden 'Ungeheuer', die in allen Ecken der Welt, unabhängig voneinander, entstanden sind, nur zufällige Phantasiegebilde sind, was natürlich bedeutet, daß eine auffällige Übereinstimmung innerhalb eines ungewöhnlich großen Spielraumes gegeben ist! Es ist jedoch durchaus möglich, daß in einem anderen 'zivilisierten' Zeitalter eine umfassende Wissenschaft existierte, - die Religion und Philosophie in sich einschloß - und daß gewisse Grundideen aus diesem Wissen in den allegorischen Erzählungen enthalten waren. Die Anlehnung an allgemein verbreitete Vorstellungen sicherte ihr Überleben in Geschichtsform im einfachen Volke durch viele Generationen, - wobei sie für die meisten nicht viel mehr waren als ein Gegenstand der Unterhaltung - bis im Verlauf der Zeit eine neue Kultur entstehen würde, deren Gelehrte imstande wären die innere Bedeutung, die Philosophie und die Weisheit zu erfassen, die in den Märchen verkörpert sind. Vielleicht ist die Zeit gekommen, wo wir oder unsere Nachkommen die verstreuten Bruchstücke früheren Wissens enthüllen und wieder zusammenfügen können.

Symbole wurden immer weitgehendst benützt, um Ereignisse aufzuzeichnen und von ihnen zu berichten. Auch heute benützen wir sie in ausgedehntem Maße: unsere Zeitungen sind übervoll mit Redefiguren und Karikaturen, die berühmte Persönlichkeiten und aktuelle Begebenheiten in symbolischer Verkleidung schildern. Die vielen Zweige der neuzeitlichen Wissenschaft und der Mathematik benützen sinnbildliche Darstellungen, um Ideen schnellstens mitzuteilen, und alle schaffen sich ihre eigene technische Fachsprache, die von den Mitgliedern der eigenen Interessengemeinschaft leicht verstanden wird, für andere jedoch, die in den besonderen Disziplinen nicht geschult sind, ist sie unverständlich. Warum sollten dann die Symbole aus früheren Zeiten buchstäbliche Aufzeichnungen sein? Die alten Mythenerzähler benützten ohne Zweifel Symbole, die durch ihre weite Verbreitung leicht zu erkennende Ideen vermittelten. Viele Symbole, die wir im Neuen Testament finden, existierten auch in Zeiten und in Gebieten, die vom Beginn des Christentums weit entfernt sind. Tatsächlich wurde die gleiche Lebensbeschreibung wie die von Jesu, sogar beinahe in allen Einzelheiten, auch von vielen anderen Lehrern überliefert. Die Form ihrer Lebensgeschichte dient dazu, dem Wissenden bestimmte Ideen zu vermitteln, während es den in diesen Dingen Unwissenden freisteht, die Symbole als Tatsachen hinzunehmen. Es scheint eine feststehende Formel zu geben, die für die Geschichte von spirituell Initierten angewendet wird, eine Formel, die leicht zu entdecken ist, wenn man die angeblichen Biographien miteinander vergleicht.

Die Erzählung beginnt mit der Verkündung: Jesus wurde von einem Engel angekündigt, der Maria Lilien überreichte; Buddhas Mutter, der Jungfrau Maya, wurde eine Lotusblume überbracht. Im alten Mexiko wurde Quetzalcoatl von einer Jungfrau, genannt "Königin des Himmels", geboren, und die übernatürliche Empfängnis erfolgte in Form einer Blumengabe. Parallel dazu gab es in Ägypten Neith, die Mutter von Osiris, und Isis, die Mutter von Horus, die beide Jungfrauen waren. In Griechenland wurde Apollo von der Jungfrau Leto oder Latona, Hermes von der Jungfrau Maria oder Myrrha, Dionysius von der Jungfrau Semele, auch Mary, Myrrha oder Maris genannt, geboren. Von der Geburt selbst - immer die 'zweite Geburt' des Geistes - berichtet man, daß sie zur Zeit der Wintersonnenwende in einer Höhle oder an einem anderen einfachen Ort, gelegentlich auch unter einem Baume, stattfand.

Bei den Völkern in den Ländern nördlich des Äquators war es üblich, die Rückkehr des "Sonnengottes" nach der längsten und dunkelsten Nacht des Jahres und die Wiedergeburt der Sonnenkraft an der Wintersonnenwende zu feiern. Deshalb gehört die mystische Geburt eines Erlösers, der von neuem Inspiration bringt, zu Recht in diese Zeit des Jahres. Den anderen drei Jahreszeiten, also Sommersonnenwende sowie Frühlings- und Herbsttagundnachtgleiche, wurde ebenfalls spirituelle Bedeutung zugemessen, und sie wurden in der alten Welt allgemein gefeiert. Diese vier Wendepunkte im Kreislauf der Erde kann man sich als Kreuz im Raume vorstellen, was von vielen vorchristlichen Völkern tatsächlich so betrachtet wurde.

Jesus wurde von Hirten und drei Weisen besucht, die Gold, Weihrauch und Myrrhe als Gaben brachten, während himmlische Heere Freudengesänge anstimmten. In Indien wurde Buddha von Devas begrüßt, die 'Juwelen und kostbare Gegenstände' für das Kind brachten, an dem sie die Zeichen des Messias erkannten, während die Götter der dreiunddreißig Himmel sangen. Ebenfalls in Indien wurde Krishna zur heiligen Jahreszeit im Winter von der Jungfrau Devaki geboren. Hirten und Weise brachten dem in einer Höhle geborenem Kinde Sandelholz und Räucherwerk, während die Astronomen die Göttliche Inkarnation bestätigten. Der zur selben Zeit in Persien geborene Mithras erhielt die Huldigung der drei Weisen, die Gold, Weihrauch und Myrrhe brachten. Er wurde "das Lamm Gottes, das die Sünden der Welt auslöscht", genannt. Von Zoroaster wird berichtet, daß er einem Strahl der göttlichen Vernunft entsprang, und wie die anderen "Neugeborenen" erfüllte auch er die Umgebung mit Licht.

Jeder dieser Erlöser, und noch viele andere, führte ein rechtschaffenes Leben, vollzog Heilungen, die ihren Anhängern als Wunder erschienen; er sprach zum Volk und gab auserwählten Jüngern geheime Lehren weiter. Im übertragenen Sinne heißt das, sie seien gekreuzigt worden, dann in die Hölle hinabgestiegen und nach drei Tagen wieder auferstanden. Krishna wurde an einen Baum gebunden oder daran festgenagelt und mit einem Pfeil durchbohrt. In Island hieß es von Odin, er "hing neun Nächte an dem windigen Baum." Der griechische Ixion wurde auf ein Rad gebunden, Hermes an ein Kreuz und Prometheus an einen Felsen gefesselt, wie der altnordische Loki, während Zoroaster am Baum der Erkenntnis hing. Vorchristliche Kruzifixe in verschiedenen Formen wurden gefunden. Auf vielen war eine menschliche Figur festgebunden oder festgenagelt, die oft mit einem Speer oder einem Pfeil verwundet worden war. Die christliche Kirche hat dieses Symbol nicht von Anfang an angenommen. Ihre frühesten Kruzifixe stammen etwa aus dem sechsten oder siebenten Jahrhundert, während unter den Ruinen des Tempels von Serapis in Alexandrien schon ein altes Kreuz gefunden wurde.

Nach dem heutigen Stande des Wissens und der ausgedehnten Forschung, die man über die Überlieferungen und deren offensichtlich zugrunde liegenden Bedeutung in der ganzen Welt anstellt, ist ein koordiniertes Studium der Symbole wohl längst überfällig. Das Studium wird natürlich behindert, weil die in den Erzählungen angedeuteten esoterischen Lehren über die Symbole ebenfalls verschleiert werden: absichtlich verschleiert, denn sie waren zu heilig, als daß Uneingeweihte die Möglichkeit haben sollten, sich damit 'befassen zu können, also jene, die nicht zum inneren Kreis gehörten' und noch nicht die Berechtigung für diese Erkenntnisse verdient hatten. Wenn wir sehen, wie bereitwillig die äußere Schale der eindeutig erkennbaren Sinnwidrigkeiten als gültig anerkannt wurde und von vielen noch immer angenommen wird, so ist leicht zu verstehen, daß der Versuch, die erhabene verborgene Bedeutung uneingeschränkt zu übermitteln, wenig Sinn gehabt hätte. Selbst der anscheinend wörtliche Sinn - das Kennzeichen wahrer Mythologie - findet Anklang und das genügte, die Mythen davor zu bewahren, verloren und vergessen zu werden.

Die tatsächliche Bedeutung der hier miteinander verglichenen Begebenheiten ist deutlich dieselbe. Genau die gleiche Serie wunderbarer Ereignisse, die jedem Führer und Lehrer der Menschheit zugeschrieben werden, deutet darauf hin, daß er einer in der hermetischen Kette derer war, die die Menschheit erleuchten sollten und die die höchste Prüfung der Selbstbemeisterung erfolgreich bestanden hatten und daß er somit ein 'Gesalbter' oder ein 'Christus' geworden war. Ein solcher ist 'von neuem' geboren. Sein ganzes Wesen ist von so unanfechtbarer Reinheit und Selbstlosigkeit, daß alle gegnerischen Angriffe vergeblich sind, denn es gibt nichts bei ihm zu finden, an dem das Böse Halt gewinnen könnte. Da er sich selbst vollkommen beherrscht, ist er imstande, dem Ansturm der Kräfte zu widerstehen, und er ist auch in der Lage, die unvorstellbare Kraft seiner eigenen göttlichen Essenz zu untermauern.

Jeder einzelne in dieser langen Reihe spiritueller Lehrer ist durch diese Erfahrung gegangen und mußte dabei in die Unterwelt, in die niedrigeren materiellen Reiche hinabsteigen, um ihren Bewohnern zu helfen und sie zu inspirieren, während er selbst von den dort waltenden schädlichen Einflüssen unberührt und unbeeinflußt bleiben mußte. Nur dann war er würdig 'gekreuzigt', "an das Kreuz der Materie geheftet" zu werden. Nur dann konnte er vollkommen bewußt seinem eigenen inneren Gott gegenübertreten und mit ihm vereint sein, auferstehend aus seiner schweren Prüfung, umhüllt von den Strahlen der Sonne - seinem spirituellen Einfluß, den er der Welt gespendet hatte. Eine Legende erzählt, daß lange vor der christlichen Ära bei Initiationszeremonien eine kreuzförmige Liege benutzt wurde.

Das periodische Erscheinen solch großer Menschen kann auch von ungewöhnlichen Phänomenen begleitet sein, denn der ganze Planet und seine Bewohner werden davon beeinflußt. Seltene astronomische Zyklen können ebenfalls mit diesen Ereignissen zusammentreffen. Alles deutet darauf hin, daß es sich bei dem hellen Stern in der Messias-Erzählung, der die weisen Männer führte, tatsächlich um eine solche Planetenstellung handelte, möglicherweise um ein Syzygium - das ist eine Ausrichtung mehrerer Planetenkörper in einer geraden Linie - und auch darauf, daß dieses besondere Zusammentreffen zyklisch stattfindet.

Wann immer ein Bote oder ein Avatâra in unsere Sphäre eintritt, bringt er "freudige Botschaften" aus höheren Welten und inspiriert das menschliche evolutionäre Wachstum während weiteren Jahrhunderten. Schließlich verliert die Botschaft an Vitalität, und wohlmeinende oder auch nicht so wohlmeinende Menschen verstümmeln sie solange, bis sie ihre Aufgabe, der Menschheit zu helfen, nicht mehr erfüllt. Genau zur rechten Zeit kommt dann ein neuer Lehrer mit einer neuen Auslegung der zeitalteralten Wahrheiten. Er sammelt Jünger um sich und schlägt einen Grundton an, der wieder zeitalterlang nachhallen wird. Der Ruf aus dem Herzen der Menschheit, die nach Erkenntnis hungert, bringt eine Erwiderung aus dem Herzen der Natur hervor, jenem reinen Herzen göttlicher Stärke, die sichtbaren Sphären innewohnt und die mächtigen Milchstraßen in vollkommenem Gleichgewicht erhält. Aus dieser Sphäre des Lichts wird im zeitlich richtigen zyklischen Moment die Brücke erscheinen, um die Welten zu umspannen und den Kontakt zwischen dem Menschen und seinem inneren Wesen wieder herzustellen.