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Größer als wir uns bewußt sind

Für jeden von uns gibt es nur ein Fenster von dem aus wir all das, was wirklich ist, sehen können. Es ist das Fenster unseres Bewußtseins, ein Fenster, das klein und trüb sein kann und nur ein düsteres Zwielicht durchläßt, das aber auch ein breites Flügelfenster sein mag, durch das von außen Lichtblitze in unser Inneres hereinfallen. Auf jeden Fall ist es für jeden Menschen einzigartig, wenn es nicht sogar auf besondere Weise Aufschluß gibt.

Vom ersten Augenblick unseres kindlichen Erwachens an gibt es für jeden Menschen nur eine gültige Wahrheit im Universum, der er im wachen Zustand untersteht, und die nur während des traumlosen Schlafes aus seinem Blickfeld entschwindet. Von ihr hängt alles andere ab. Ohne sie existiert, soweit es uns anbetrifft, nichts. Wir nehmen das zwar als selbstverständlich hin, doch im gesamten Universum gibt es nichts eigenartigeres als dieses sich seiner selbst bewußt sein, dieses Bewußtsein, das ein Gedächtnis und eine Individualität besitzt, die von den Tagen unseres ersten kindlichen Geplappers an bis ins hohe Alter besteht. Das ist mit der alles beherrschenden Realität gemeint, dem größten Mysterium, auch wenn wir selten erkennen, daß es den Schlüssel zu unserer Natur und zum Leben überhaupt enthält.

Eines der hervorstechenden charakteristischen Merkmale ist, daß diese Realität als ewig dauernd empfunden wird, so daß selbst das Kind glaubt, es sei schon immer da gewesen, und beide, das Kind und der Erwachsene, können sich kaum eine Stunde vorstellen, in der sie nicht gewesen wären oder nicht sein werden. Das beweist natürlich nicht, daß das Bewußtsein dem Körper zeitlich voranging oder ihn überlebt. Aber es spiegelt einen intuitiven Gefühlszustand wider und läßt eine Frage unbeantwortet: Warum besteht dieser tiefverwurzelte Eindruck des immerwährenden Bestehens, wenn wir wie eine Frühlingsblume vergehen?

Mit der Vorstellung des ununterbrochenen Bestehens ist aber gleichzeitig die unüberwindliche Besonderheit des Bewußtseins verbunden, die es zu einer Welt für sich werden läßt, zu einer Welt, die in sich besteht und letztlich sich selbst nicht entfliehen kann. Jeder von uns besitzt seine eigenen Gedanken. Jeder erduldet oder erfreut sich an seinen eigenen Erfahrungen, an denen er aber andere nicht unmittelbar teilnehmen lassen kann. Meine Reaktion auf laute Musik gehört zu mir, obgleich ein anderer in gleicher Weise darauf reagieren kann. Genauso ist es mit der inneren Bewegung, die ich beim Anblick einer herrlichen Landschaft verspüre, und so ist es auch, wenn mein Stolz oder mein Ehrgeiz verletzt werden oder mich der Zahnschmerz während der Nacht nicht schlafen läßt. Obwohl andere bei diesen Erfahrungen mitleidsvoll reagieren mögen, mache nur ich sie durch; und umgekehrt kann ich nicht unmittelbar an den Freuden und Kümmernissen, den Aufregungen, Erkenntnissen oder Schmerzen anderer teilnehmen. Das alles ist selbstverständlich ein Teil der alltäglichen Erfahrung, aber gerade weil es etwas so Alltägliches ist, nehmen wir uns selten Zeit, darüber nachzudenken, wie beachtenswert es in Wirklichkeit ist.

Was ist der Sinn dieses deutlich abgesonderten Bewußtseins, das völlig in sich und für sich existiert, so, wie ein einsamer Planet, der um eine ferne Sonne kreist? Weshalb sollte dieses Bewußtsein, das anscheinend unveränderlich ist, an einen besonderen Körper unter den Millionen, die existieren, gebunden sein? Auf diese Fragen meinen wir eine Antwort zu haben. Wir sagen, Vererbung ist die Ursache der Verschiedenheit. Leider stellt uns das vor weitere Rätsel. Wir versuchen schlechterdings, das Unerklärte mit dem Unerklärten zu erklären. Hierbei pflegen wir, wie auf so vielen Gebieten des Denkens, Vermutungen aufzustellen und nennen sie "Wahrheit". Dabei werden wir anscheinend gar nicht gewahr, daß es nur Vermutungen sind. Es ist bestimmt nicht notwendig, besonders zu betonen, daß die Vererbungsgesetze, - soweit sie uns bisher bekannt sind - die für die Übertragung besonderer Eigenschaften in Frage kommen, nicht zur Bildung eines individuellen Bewußtseins führen, obgleich sie uns helfen können, eine Persönlichkeit zu charakterisieren. Das Bewußtsein eines jeden von uns ist mehr als die Summe unserer Eigenschaften, seien sie vererbbar oder nicht. Jeder ist eine Einheit, ein persönliches Bewußtsein, das durch jede einzelne aus einer Menge von Charaktereigenschaften beeinflußt werden kann. Jeder von uns ist unteilbar und ein Universum für sich, das aufhören würde zu bestehen, wenn es in seine Bestandteile aufgeteilt würde.

Woher kam dieses Bewußtsein? Wie könnte es ererbt worden sein? Man kann wohl sagen, daß der Mensch vermutlich die eine Eigenschaft von einem Vorfahren übernommen hat und die andere von einem anderen. Das sagt uns aber noch nichts über den Ursprung des Bewußtseins, das mehr und anders ist als alle Eigenschaften zusammen. Die Eigenschaften machen mich nicht zu dem, was ich bin: zu einer individuellen, bewußten Wesenheit, die ungeachtet aller Stimmungen und Impulse, ohne Rücksicht auf den Sturm der Gedanken, weiterhin eine solche Wesenheit bleibt. Sie sind nur äußere Merkmale, aber nicht essentielle Bestandteile.

Gerade hier scheint mir, gehen wir am wesentlichen Faktor unseres Wesens vorbei. Kein Geheimnis im Universum ist tiefer oder fordert mehr nach einer Erklärung als unser eigenes Bewußtsein. Und doch sind wir geneigt, seine Existenz zu ignorieren oder es mit einer Handbewegung als ein "Epiphänomen", als eine wertlose Nebenerscheinung des Nervensystems abzutun. Ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, daß wir der Lösung aller anderen Mysterien des Lebens und des Universums näher kämen, wenn wir das Geheimnis des Bewußtseins ergründen würden. Und ich kann nicht umhin zu fragen, ob das Bewußtsein - ein unstoffliches Etwas, das nicht gesehen, gehört, gefühlt, gewogen oder gemessen werden kann, das sich aber immer wieder durch alle Veränderungen der Zeit und der menschlichen Natur hindurch manifestiert - nicht den Schlüssel zu einer Realität enthält, die sich außerhalb des Körpers befindet.

Wie aber ist es möglich, daß Bestandteile, die anscheinend voneinander so verschieden sind, wie Bewußtsein und Nicht-Bewußtsein, wie das Immaterielle und das Materielle in einem einheitlichen Ganzen eng verbunden sein können? Das dürfte nicht leichter sein als Feuer und Erde, Mondstrahlen und Granit zu verschmelzen. Damit berühren wir natürlich eines der ewigen Probleme: Die Beziehung zwischen Geist und Materie. Und das ist ein Problem, das keinesfalls bei der Suche nach Wahrheit unbeachtet gelassen werden kann.

Dabei beziehe ich mich nicht auf bloßes passives Bewußtsein, wie ein Beobachter am Bergeshang, der die vorüberziehenden Wolken betrachtet, oder ein Zuschauer bei einer Vorstellung, der das wechselnde Panorama aufnimmt ohne sich dabei etwas zu denken. Diese Art Bewußtsein, die der Mensch wahrscheinlich mit dem Hund, der Katze und vielen anderen Geschöpfen gemeinsam hat, ist an sich schon wunderbar. Es ist vom Nicht-Bewußtsein durch eine Brücke getrennt, die zu breit ist, als daß wir eine Erklärung finden könnten, die es uns ermöglichen würde, diese zu überschreiten. Für ein entwickeltes Wesen wie der Mensch ist mit dem Bewußtseinszustand viel mehr verbunden: Gedanken überfallen uns oft mit überraschender Plötzlichkeit, wie Boten aus anderen Welten; Emotionen stürzten auf uns herein mit ihrer mitternächtlichen Verlassenheit und den Hoffnungsstrahlen der Morgendämmerung, sowie der Verzauberung und der Verwirrung der Liebe. Woher kommen diese Gefühle, die uns zuweilen heftig und überwältigend überfallen? Wie können sie in unser Bewußtsein eintreten?

Die moderne Psychologie hat natürlich ihre Antworten darauf, doch sie dienen nur dazu, ihre eigenen Schlußfolgerungen zu untermauern. Die Vorherrschaft des Körpers wird dabei als gegeben angenommen, wie zum Beispiel bei den Anhängern Freuds, die ihre Lösungen in sexuellen Impulsen und Symbolen suchen, oder bei den Verhaltensforschern, die das Gemüt des kleinen Kindes als unbegrenzt formbar betrachten, was dem "unbeschriebenen Blatt" von Locke1 gleichzusetzen ist, also etwas, das alle Entwicklungen der Umwelt sorgfältig aufnimmt. Sie dienen auch dem Theoretiker, der als gegeben annimmt, daß alles, was sich im Gemüt ereignet, eine Begleiterscheinung von Veränderungen im Körper darstellt und davon abhängig ist, angefangen von der schöpferischen Inbrunst, die für die Missa Solemnis verantwortlich ist, bis zur philosophischen Erkenntnis, die der Kritik der reinen Vernunft zugrunde liegt. Für manche Schlußfolgerungen gibt es ohne Zweifel eine ganze Menge Beweise: ganz offensichtlich sind physische Veränderungen eine Begleiterscheinung auf viele, wenn nicht auf alle unsere psychologischen Reaktionen. Bei emotionellen Erregungen zum Beispiel wird Adrenalin ausgeschüttet. Schwache elektrische Energieausstrahlungen begleiten die Tätigkeiten unseres Gehirns. Solche Fakten lassen jedoch mehr als nur eine Erklärung zu. Wenn eine Funktion des Körpers mit einer Tätigkeit des Gemüts verbunden ist, so ergibt sich nicht zwangsläufig daraus, daß die erste die Ursache und die zweite die Folge ist: Es ist genauso logisch anzunehmen, daß der Körper auf die Signale des Gemüts reagierte, als daß das Gemüt auf die Befehle des Körpers antwortete. In manchen Fällen ist die Aufeinanderfolge der Ereignisse klar ersichtlich: ein hungriger Mensch sieht nicht ein gegrilltes Hähnchen in der Auslage weil seine Speicheldrüsen Speichel absondern, vielmehr sondern seine Speicheldrüsen Speichel ab, weil er das Hähnchen sah. In diesem Falle, wie in tausenden anderen Fällen, haben die Impulse ihren Ursprung im Gemüt, und der Körper gehorcht - die physische Reaktion wird zusammen mit allen sie begleitenden chemischen Veränderungen durch einen psychischen Funken ausgelöst.

Das gilt für uns alle, unzählige Male, an jedem Tag. Wenn ich meinen Arm hochhebe oder mein Bein ausstrecke, wenn ich den Hörer vom Telefonapparat abnehme oder wenn ich an der Tür einen Freund begrüße, wenn ich diese Worte auf der Schreibmaschine niederschreibe, dann ist der Impuls, der der Tätigkeit vorausgeht, eher ein psychischer als ein physischer. Er ist ein Antrieb, der von meinem Willen oder meinem Bewußtsein ausgeht; und wenn irgendwelche chemischen Reaktionen erfolgen, was sehr wohl der Fall sein mag, dann folgen sie lediglich einer psychischen Anweisung, aber sie verursachen diese nicht. Das ist eine Tatsache, die so allgemein festgestellt wird, daß es unglaublich erscheint, daß sie in den Diskussionen über die Beziehungen zwischen Gemüt und Körper nicht eingehender erörtert worden ist. Ich bin mir natürlich darüber im klaren, daß es Wege gibt, den Sachverhalt zu umgehen: Man kann argumentieren, daß winzig kleine Veränderungen oder elektrische Stöße im Innern des Körpers, - obwohl man sie nicht nachweisen kann - dem psychischen Impuls vorausgingen, der mich veranlaßte, aufzustehen oder mich auf das Sofa zu setzen, die Straße hinunterzugehen oder irgendeine der unzähligen Handlungen des täglichen Lebens auszuführen, so daß es der Körper ist, der bestimmt, ohne daß ich mir dessen bewußt bin. Aber wenn ich es nicht weiß, wie kann es irgend jemand sonst wissen? Warum also dem Selbstverständlichen ausweichen? Ich gebe zu, daß ich keine absolute Beweismöglichkeit dafür besitze, daß die im Körper als Begleiterscheinungen auftretenden physischen oder chemischen Einflüsse nicht jede erdenkbare Tätigkeit meines Gemütes anregen; andererseits, so scheint es mir, müßten jene, die diese unverständliche Annahme vertreten, sie auch beweisen. Während es leichter ist, anzunehmen, daß die Erklärung bei den noch nicht völlig erforschten physischen Faktoren in rein körperlichen Funktionen liegt, so liegt die Wahrheit doch darin, daß diese Folgerung ebenso fadenscheinig ist wie ehedem die logisch erschienenen Theorien, nach denen sich zum Beispiel die Sonne und die Planeten um die Erde bewegten.

Was wir bestimmt wissen ist: Das Geheimnis wird weiterhin bestehen bleiben und der Weg für nicht mechanische und immaterielle Lösungen ist noch immer offen; die eigenen inneren Überzeugungen des Menschen und die tieferen Impulse des religiösen Glaubens werden es bestätigen.

Fußnoten

1. John Locke, engl. Philosoph (1632-1704). [back]