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Das rätselhafte Männlein

bild_sunrise_31972_s77_1"Sehen Sie sich einmal diese ungewöhnliche kleine Statue an", rief eine sachkundige Touristin, als sie eine kleine Figur aus Kupfer sorgfältig betrachtete. Sie war mit anderen Kunstgegenständen, deren Echtheit erwiesen war, in einem Laden in Bagdad ausgestellt. "Sie strahlt solch ein Leben aus, und ist eine so wirklichkeitsgetreue Darstellung, wie ich sie nur vergleichsweise von Sumerien ... oder Babylonien oder Assyrien kenne."

Das war im Jahre 1951, und der Händler in Bagdad mußte zugeben, daß er über das Alter und den Ursprung dieses speziellen Stückes nichts aussagen konnte, obwohl er mit den neuesten archäologischen Funden in diesem Gebiete wohl vertraut war. Seitdem hat es zahlreichen Gelehrten und archäologischen Forschern Kopfzerbrechen bereitet. Die spektrographische Analyse zeigt an, daß das Stück mindestens 5 OOO Jahre alt sein muß. Kunstkritiker, die über seine eindrucksvolle Anmut und Ausstrahlung von Vitalität begeistert sind, bestehen darauf, daß es das Produkt einer hochentwickelten Kultur ist; aber sie fragen sich, welche Zivilisation weit genug fortgeschritten war, um solch ein Meisterstück hervorzubringen?

Heute steht diese außergewöhnliche Arbeit in der Albright-Knox-Kunstgalerie in Buffalo, New York, und interessiert Sachverständige mit seiner Aufschrift: Eine Berggottheit, Mesopotamien (?) III. Jahrtausend v. Chr. (?) Die Würde des Ausdrucks und der Gestalt sind wirklich die eines Gottes. Die breiten Backenknochen sind die eines kaukasischen Heros, während die große gebogene Nase und die schräge Stirn denen eines Hethiterkönigs1 ähnlich sind. Die Augen sind aus Elfenbein eingelegt, so, wie es bei den frühesten Sumerern üblich war, aber sein Bart, der wie der Schnabel eines Vogels spitz zuläuft, unterscheidet sich von dem konventionellen quadratischen Schnitt der alten Bewohner des fruchtbaren Türkischen Reiches. Als Zeichen der Stärke trägt er den Gürtel des Löwenbändigers, während, entgegen dem herrschenden Brauch, seine mächtigen Schultern und seine Lenden unbekleidet sind. Seine Stiefel haben die, zwar stark übertrieben aufwärts gebogenen Spitzen der einsam wohnenden Berghirten. Sie erwecken die Vorstellung, daß er von den schneebedeckten kurdischen Höhen herabgestiegen sein könnte. Sowohl der Helm, - geschmückt mit den 2 gekrümmten Hörnern und den Ohren eines Steinbocks - als auch der Mantel - bestehend aus den zusammengefalteten Schwingen und den aufgeschlitzten Schwanzfedern eines Adlers - sind einzigartig und haben wenig Ähnlichkeit mit dem stilisierten ägyptischen Falken oder mit den babylonischen Vogelgottheiten mit ihren ausgestreckten Flügeln.

Was stellt diese geheimnisvolle Figur wirklich dar, die wie eine Sphinx Mensch, Vogel, Löwe und Widder in einem einzigen kraftvollen Geschöpf vereinigt? Vielleicht ist sie ein Symbol aus einem alten Heiligtum, dessen Bestimmung es war, den Profanen zu verwirren und doch dem Wissenden die verborgene Bedeutung zu enthüllen?

Ein Blick in die Vergangenheit kann vielleicht dazu beitragen, das Rätsel zu lösen. Offensichtlich kam diese kleine Statue aus dem Tal des Tigris und Euphrat, wo unter den unzähligen Keilschrifttafeln2 aus gebranntem Ton, die man vor kurzem ausgegraben hat, einige kreisrunde Scheiben mit eingravierten Gruppen von Widdern, Vögeln, Schlangen und Sternen gefunden wurden. Diesen Haufen von Tafeln, die in übereinanderliegenden Schichten freigelegt wurden, ist es zu verdanken, daß die Gelehrten in der Lage waren, die Geschichte der Sumerer, der Chaldäer, Babylonier, Assyrer und Hethiter genau zu verfolgen, ihre eindrucksvolle Kultur zu bewundern und die peinlich genaue Sorgfalt festzustellen, mit der diese Völker Naturerscheinungen aufzeichneten und klassifizierten. Es ist überraschend, so vertraute Worte wie Wegwarte, Krokus, Myrrhe und Safran zu lesen, die vor 5 000 Jahren in einer keilförmigen Schrift geschrieben worden waren, und mit astronomischen Beobachtungen konfrontiert zu werden, von denen unsere Wissenschaftler annehmen könnten, sie seien eben erst mit Hilfe sensitiver photoelektrischer Teleskope aus dem 20. Jahrhundert gemacht worden! Die Babylonier verwandten ein mathematisches System, das auf der Zahl 60 basierte, und teilten den Kreis in 360 Grade ein, die Stunden in 60 Minuten oder 3 600 Sekunden. Sie hielten auch die Zeitperioden fest, die mit der Geschichte und der Entwicklung des Menschen und mit wiederkehrenden astronomischen Ereignissen zu tun hatten, wie dem "Neros"3 - einem Sonnenzyklus von 600 Jahren - und dem "Saros", - einem Zyklus von 3 600 Jahren - der, den Schriften des Griechen Berosus zufolge, mit den brahmanischen Yugazahlen der Hindus übereinstimmt, sowie die 432.000 Jahre ihrer göttlichen Dynastien mit den 4.320.000.000 Jahren, die einen Tag im Leben der Sonne bilden.

Wir können uns nur wundern, daß diese alten Völker ohne unsere spezialisierten Instrumente Sonnen- und Mondfinsternisse voraussagen, die zeitlich zusammenfallenden Bewegungen der Himmelskörper verzeichnen und den Ablauf der Zeit auf der Erde so unfehlbar genau messen konnten. Diese Fähigkeit wandten sie auch auf den systematischen Aufbau der menschlichen Gesellschaft an. Ihr rechtswissenschaftliches System ist als Eckstein wahrer Demokratie erhalten geblieben und bildet die Inspiration für die edelsten Privilegien der Menschenrechte. Zweiundzwanzig Jahrhunderte vor Christus garantierten sie die Sicherheit der Person, des Privateigentums und der freien Wirtschaft durch Gesetze, die von ihren großen Königen aufgestellt wurden; zuerst von Ur-Nammu von Sumerien und 350 Jahre später durch Hammurabi4, der sie zusammen mit einer genauen Beschreibung der Rechte und Pflichten des Menschen auf riesigen Steinsäulen niederschreiben ließ.

Dieser Geist individueller Freiheit wird in einer großartigen und phantasiereichen Kunst widergespiegelt. Auf ihren Freskomalereien und durch Statuen war der Mensch mit beinahe göttlicher Schönheit in der Ausübung seiner täglichen Aufgaben dargestellt - als ob er hinter den Illusionen der äußeren Erscheinungen das Vorhandensein einer inneren menschlichen Kraft entdeckt hätte, die jede Einzelheit seines Lebens heiligte. Solche Menschen waren wie Götter und des Lobes und Nacheiferns durch ihre Mitmenschen wert. Über ihre Schicksalsprüfungen, ihre Siege und familiären Beziehungen wurde in Erzählungen von epischem Ausmaß berichtet. Eine kürzlich von verschiedenen Tafeln entzifferte Geschichte könnte über diese Berggottheit geschrieben worden sein, denn sie scheint, wie sie, reichlich mit Anhaltspunkten versehen zu sein, die in ein altersgraues, geheimnisvolles Dunkel führen.

Die Erzählung beginnt gewissermaßen mit einem Donnerschlag. Sie schildert das heftige Toben des Sturmgottes und wie der jugendliche Gott dabei in seiner Raserei "den rechten Schuh anzieht", hastig seinen schwarzen Mantel ergreift und im Weltenraum verschwindet, höchste Verwirrung hinter sich lassend. Dicker Nebel hüllte die Städte ein, in den Häusern hörten die Holzscheite auf zu brennen, die nun vernachlässigten Statuen der örtlichen Gottheiten stürzten von ihrem Sockel. Die Gebirgsflüsse trockneten aus, Seen versumpften, die Ernten reiften nicht, Bäume verdorrten, das Mutterschaf wies sein blökendes Lamm ab, und die Menschen waren voller Trägheit.

Auch die Götter litten darunter. Die Feste verloren ihren Glanz. Die Nahrung war ohne Geschmack und der Wein entsprach nicht mehr den Erwartungen. Der Sonnengott erkannte, daß sein Kind, der Sturmgott, dieses völlige Chaos verursacht hatte. Er rief die großen Götter des Himmels und die kleinen Götter der Städte und der Stämme zusammen und bat sie um ihre Hilfe beim Suchen nach seinem Sohn. Er befahl dem schnellen Adler, auf den höchsten Gipfeln, in den tiefsten Tälern und auf den dunkelblauen Meeren zu suchen. Aber die Götter und auch der schnelle Adler kehrten zurück, ohne eine Spur von dem verschwundenen Gott gefunden zu haben.

Daraufhin wandte sich der Sonnengott an die Mutter der Götter. Sie beruhigte ihn und versprach ihm, die Biene auszusenden, um den umherstreunenden Sprößling ausfindig zu machen. Darüber lachte der strahlende Gott geringschätzig. Wie könnte so ein kleines Geschöpf Erfolg haben, wo die größten versagt hatten? Wie könnte es möglich sein, daß eine unbedeutende Honigbiene mit so schwachen und zerbrechlichen Flügeln seinen Sohn findet?

Die gütige Göttin nahm keine Notiz davon, inzwischen aber flog die Biene direkt zu einem heiligen Hain, wo der verschwundene Gott schlief. Sie summte geräuschvoll an seinem Ohr, krabbelte auf seinen gewaltigen Arm und dann stach sie ihn. Der mächtige Sturmgott setzte sich verärgert auf. Als er aber das kleine Insekt bemerkte, lächelte er über dessen Mut und kehrte in guter Laune nach Hause zurück. Sofort lichtete sich der Nebel, die Holzscheite begannen wieder zu brennen, die Götter wurden wieder auf ihre Sockel gestellt und Mensch und Tier erwachten und sahen überall Leben hervorsprießen.

Welch bemerkenswerte Ähnlichkeit hat diese alte Legende mit dem Märchen vom Dornröschen! Könnte die Quelle für beide nicht die gleiche sein? Als eine junge Prinzessin ging auch sie in einen verbotenen Teil des Schlosses, stach sich in den Finger und fiel in Schlaf. Auch um sie herum wurden alle Menschen und alle Tiere vom Schlaf überwältigt, bis ein Prinz, der in das verzauberte Schloß eindrang, die Prinzessin und ihr ganzes Land mit einem Kuß zu neuem Leben erweckte.

Möglicherweise verbergen diese Geschichten genauso wie die kleine kupferne Figur ein einst im Heiligtum der Mysterienschulen bewahrtes Wissen, das aber jetzt von ernsthaften Suchern wiedererlangt werden kann. Vergleicht man die alten Mythologien und das Wissen, so findet man einige Andeutungen. Das Wüten des Sturmgottes, der Stich der Biene, der Kuß des Prinzen, und auch die so offensichtliche Vitalität der Statue deuten vielleicht die Erzeugung kosmischer Energien bei der Erschaffung uranfänglicher Materie an, weisen auf den zyklischen Neuaufbau eines Sonnensystems, die Wiedergeburt von Menschenrassen und die periodische Renaissance menschlichen Wissens hin.

Es ist seltsam und ermutigend zugleich, daß die von den Menschen angebeteten Götter - die kleinen Stammesgötter und der große Gott der Liebe und der Weisheit - von Zeit zu Zeit von ihren Postamenten fallen, um in neuem Gewande und mit neuem Namen zu einer immer wieder neuen Darlegung der Wahrheit zurückkehren.

Unsere faszinierende Berggottheit, die zu einer Zeit ausgegraben wurde, in der die Menschen gerade dabei sind, die Illusionen der Scheinheiligkeit abzustreifen und es wagen, die 'verzauberten' Haine des Alls zu erforschen, läßt uns für die Zukunft hoffen. Sie bringt auch die Ermutigung für den Menschen, der die Stärke der Tiere hat, aber auch die visionäre Kraft eines Adlers und sogar einen unüberwindlichen Schutzmantel besitzt, der ihn durch die Verworrenheit der heutigen, von Gemütsbewegungen völlig abhängigen Moral näher zu jenen Höhen spiritueller Fähigkeiten führt, die paradoxerweise nicht auf den Höhepunkten der persönlichen Befriedigung zu finden sind, sondern hier und jetzt in der Verrichtung unserer täglichen Pflichten.

Fußnoten

1. Hethiter - nach 1. Moses 10.15 die Nachkommen des Heth; ein Volk des Altertums mit indogermanischer Sprache, das sich wohl schon vor 2000 v. Chr. im östlichen Kleinasien ansiedelte. [back]

2. Keilschrift wurde durch einen Griffel in Ton gedrückt. Sie ist eine Erfindung der Sumerer 3500-3100 v. Chr. Sie wurde von den Babyloniern, Assyrern, Hethitern und Persern übernommen und um 300 v. Chr. von der aramäischen Buchstabenschrift endgültig verdrängt. [back]

3. Nach der chaldäischen Kosmogonie, aufgezeichnet von Berosus, gründeten die Zahlen auf 120 Sarosen (1 Saros - 6 Nerose zu je sechshundert Jahren). Das ergibt insgesamt die Summe von 432.000 Jahren. [back]

4. 6. König der 1. arabischen Dynastie von Babylon (1955-1913 v. Chr.). Sein Gesetzbuch, das älteste der Erde, auf eine Steinsäule gemeißelt, steht im Louvre. [back]