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Sol Invictus

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Bildtext: Prähistorisches Sonnensymbol.

"David Thompson!" sagte der Sonntagsschullehrer leise, "beuge dein Haupt!" Aber der Achtjährige gehorchte nicht. Er konnte einfach nicht auf diese Weise mit Gott sprechen. Gott war für ihn das Leuchten der Sonne. Instinktiv möchte er ihr entgegenstreben und ihre goldenen Strahlen spüren, und so tun, als ob auch er durch den Raum fliegen, die Dunkelheit besiegen und Licht und Leben in jeden Winkel des Universums senden könnte.

Nach einer kurzen Aussprache mit dem Geistlichen beschlossen die Eltern, ihn nicht mehr in die Sonntagsschule zu schicken, sondern ihn zu Hause zu lassen, wenn sie in die Kirche gingen. Als er sie weggehen und die Nachbarn am Hause vorbeifahren sah, wunderte er sich, warum er anders empfand. Hatten denn die anderen nicht auch das Gefühl, ersticken zu müssen, wenn sie beim Gebet die Augen schließen und den Kopf beugen mußten?

Am folgenden Sonntag stand er vor Tagesanbruch auf und fuhr mit dem Fahrrad bis zu den Vorbergen, wo er sein Fahrrad versteckte und einen steilen Pfad emporklomm, um zu beobachten, wie die Sonne über den Bäumen emporstieg und wie ihre Strahlen den Morgendunst rötlich und golden färbten. Er sah junge Kaninchen und eine Wachtel zusammen spielen, die plötzlich innehielten, als das frühe Licht auf ihre Lichtung fiel. Und drüben am See erhob ein Hirsch seinen geweihtragenden Kopf zum stillen Gruß, während über ihm große Vögel flügelschlagend dahinglitten. Davids Herz erfüllte sich mit innerer Fröhlichkeit. Er nahm zu seinen Füßen eine Bewegung wahr und sah den langen Körper einer Eidechse, die in das Sonnenlicht kroch, und er beobachtete wie eine goldene Mohnblume ihre Blütenblätter weit öffnete. Das war das Gebet, das er verstand. Es erfüllte seine Seele mit Freude.

Jahre später, als er an der Universität Anthropologie und vergleichende Religionswissenschaft studierte, forschte David in heidnischen und christlichen Aufzeichnungen nach Sonnensymbolen. Die Zeichen dafür waren eindeutig, - ein von Strahlen umgebener Kreis und ein Kreis mit einem Punkt in der Mitte - man kann sie in abgelegenen Gebieten Australiens, in Kleinasien, in Nord- und Südamerika, in Neuseeland und überall im alten Europa finden. So sind sie in Höhlen und auf Monumenten gemalt, in Metall eingraviert, in Holz geschnitzt, auf Felsen und auf Pergament gezeichnet, und die Ähnlichkeit ist verblüffend. Die gleiche Figur benützen auch heute noch die Astronomen. Das Zeichen ☉repräsentierte in den Hieroglyphen des ägyptischen Tempels von Ramses II in Abu Simbel den Sonnengott Ra. Der große Tempel wurde von den heutigen Ingenieuren vor dem steigenden Wasser des Nils gerettet und genauso wieder aufgebaut, wie ihn die ursprünglichen Erbauer vor Tausenden von Jahren errichtet hatten, so daß die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne an der Frühjahrs- und an der Herbst-Tagundnachtgleiche durch einen zweihundert Fuß langen, dunklen Gang, an vier gewaltigen, sitzenden Statuen des Ramses vorbei in das Heiligtum der Götter scheinen und die Figuren von Ptah, Amon, Horus und Ramses II beleuchten können. Für die Ägypter waren ihre Pharaonen Söhne der Sonne und häufig fügten sie den Abbildungen figürliche Darstellungen von Falken bei, die mit Emblemen der Sonnenscheibe geschmückt waren. Eine Vorstellung, die von dem japanischen Haiku-Dichter Tairo, wenn vielleicht auch nur intuitiv, erfaßt wurde:

Vom Himmel auf meinen Beizhandschuh herabfallend

spiegelt sich die Sonne in des Falken Auge.

Jahrhunderte vorher stellten die Sumerer in dem Zweistromland von Euphrat und Tigris die aufgehende Sonne in einem Bilderschriftzeichen dar, das einem allsehenden Auge, - aber auch einem Sonnenboot gleicht - das die alten Priester am Nil in der religiösen Kunst und Literatur so dramatisch darstellten. In seiner modernen Form ist es auf den US-Dollarnoten zu sehen.

bild_sunrise_31970_s101_1Heil Dir, Sonnenscheibe, Du Herr der Strahlen, der Du Tag für Tag am Horizont aufsteigst! Bescheine mit Deinen Lichtstrahlen das Antlitz von Osiris Ani, dem Siegreichen; denn er singt Dir Lobeshymnen und läßt Dich abends mit Worten der Verehrung untergehen. Möge die Seele von Osiris Ani, dem Triumphierenden, zusammen mit Dir in den Himmel eintreten, möge er im Boot der Mutter weiterfahren. Möge er mit dem Himmelsboot im Hafen einlaufen und möge er sich unter den nie rastenden Sternen in den Himmel seinen Weg bahnen.

Als David auf diese ausdrucksvolle Hymne stieß, kam sie ihm überraschend vertraut vor. Hier fand er genau die Idee, der er so gern Ausdruck zu geben versucht hatte: daß die Menschen, wenn sie im Sonnenlicht der Wahrheit leben, sich der Gesellschaft der Götter anschließen und im Sonnenboot des immerwährenden Lichtes furchtlos die Hallen des Lebens und des Todes durchqueren.

Für ihn war es einleuchtend, daß es für die Menschen, die an einem Fluß lebten, natürlich war, die Sonne als himmlische Barke darzustellen, während es für die Bewohner der Berge und des Inlandes genau so natürlich war, sie sich als einen Wagen vorzustellen und dieses Abbild bei ihren Zeremonien zu verwenden. Er entdeckte, daß die babylonischen Künstler die Sonne auf ihren keilförmigen Tontafeln als Gottmenschen Shamash darstellten, der auf einem von Pferden gezogenen Wagen über die Himmel fährt. Das gleiche taten auch die Bewohner Skandinaviens im Bronzezeitalter. Kürzlich bargen Archäologen aus dem dänischen Moor von Trundholm einen ganzen Sonnenwagen aus Bronze und Gold, der von sechs vierspeichigen Rädern getragen, von einem Pferd mit sternförmigen Augen gezogen und von einem auf eine polierte Scheibe eingravierten geflügelten Gott, inmitten von Spiralen und Kreisen gelenkt wird. Auch die alten Perser stellten ihren göttlichen Lehrer Mithras dar, wie er in einem von acht weißen Rossen gezogenen, feurigen Wagen zum Himmel fährt. Das erinnerte David an Pegasus, das geflügelte Pferd in der griechischen Mythologie, und an die weißen Pferde in den orientalischen Epen, die als die irdischen Repräsentanten der spirituellen Sonne angesehen wurden.

Bei den Azteken des vorkolumbischen Amerika stieß David auf Darstellungen, die der skandinavischen Sonnenscheibe ähnlich sind. Da war der berühmte runde Kalenderstein - ein vierundzwanzig Tonnen schwerer Basaltmonolith mit dreizehn Fuß Durchmesser - mit mythologischen und astronomischen eingravierten Bildwerken, die die archaische Geschichte der Götter, der Menschen und der Natur in vier früheren Sonnenzyklen darstellen, die alle durch die Elementarkräfte Erde, Luft, Feuer und Wasser zerstört wurden. In der Mitte befindet sich das Gesicht des Sonnengottes, des "Leuchtenden"; er leitet unsere gegenwärtige Zeitperiode. Sein Mund ist geöffnet, die Zunge ist herausgestreckt, als stieße er den in der Hinduphilosophie beschriebenen Großen Schöpfungsatem aus. Mit besonderem Interesse las David von einem Brauch, den diese heidnischen Amerikaner aufrecht erhalten haben. Jeden Sommer, wenn die Sonne den Gipfelpunkt ihrer Macht erreicht hatte, löschten die Leute in ihren Tempeln und in ihren Heimen die Feuer aus. In hellen und anmutigen Gewändern, geschmückt mit Juwelen und seltenen Federn, versammelten sie sich, um in stummem Bangen den Hohepriestern zuzusehen, die langsam einen großen, goldenen Spiegel drehten, und versuchten, einen Strahl der intensiven Mittagssonne einzufangen. Würde die Sonnengottheit sie für würdig befinden und ihnen für ihr Leben den Segen von Wärme und Gedeihen spenden? Wenn ja, dann mußte ein Funke erglimmen und eine Flamme auf dem Altar auflodern. Hatte David nicht von dem druidischen Lichtfest gelesen, an dem die Angelsachsen der Frühzeit auf den Bergspitzen und ganz oben auf ihren runden Türmen Freudenfeuer anzündeten?

Diese Bräuche gaben David zu denken. Er fragte sich, wie es möglich war, daß Kulturen, die durch Jahrhunderte, durch unzugängliche Gebirge und weite Ozeane voneinander getrennt waren, in ihren Vorstellungen solche Ähnlichkeiten aufweisen konnten. Er hatte den Eindruck, daß die Symbole eine geheime Sprache bilden und hatte das Verlangen, ihre Bedeutung zu erfassen. Anscheinend, so schloß er, betete die breite Bevölkerung die sichtbare Sonne als den Schöpfer, Ernährer und Heiler des menschlichen, tierischen und pflanzlichen Lebens an, wohingegen jene, die ein höheres Wissen besaßen, sie als einen Schleier der einen, unendlichen Wirklichkeit ansahen, deren göttliche Strahlen die spirituellen, intellektuellen und materiellen Welten erhält. Wenn dem so wäre, dann könnten die massiven Holzräder von Ur recht gut das Modell für einen Punkt innerhalb eines Kreises darstellen, das, wie er herausfand, ein kabbalistisches Symbol für die Geburt eines Universums ist; und die vierspeichigen Räder des dänischen Wagens könnten ein von einem Kreis umgebenes Kreuz, vielleicht sogar eine Swastika sein, die beide in vielen Kosmologien die Weiterentwicklung des Lebens während endloser Perioden der Manifestation andeuten.

Davids Begeisterung wuchs mit seiner zunehmenden Erkenntnis. Er verweilte stundenlang in Bibliotheken und Buchhandlungen und suchte nach Informationen, die seine Intuitionen klären könnten. Seine Nachforschungen über das Kreuz erbrachten, daß die christliche Kunst bis zum elften Jahrhundert Jesus nicht gekreuzigt darstellte, sondern fürstlich gekleidet, wobei er entweder vor einem Kreuz steht oder mit einem Strahlenkranz gekrönt ist, der einem Kreuz ähnelt. Er fragte sich, ob der hochaufragende Obelisk des Washingtondenkmals oder die Obelisken, die am Nil, an der Themse, am Tiber und am Hudson stehen, und deren Abbildungen er gesehen hatte, auch ein Kreuz sein könnten? Ihre glatte oder beschriftete Oberfläche fängt anscheinend einen Lichtstrahl auf und spiegelt ihn unten im Fluß wider, wodurch mit der Linie des Erdhorizonts ein vollkommenes Kreuz gebildet wird - eine Doktorarbeit in Stein, dachte er, über den Abstieg des Geistes in die Materie, über die Inkarnation der göttlichen Weisheit, den Logos der platonischen Philosophie; oder vielleicht über den Aufstieg des menschlichen Pilgers aus irdischem Materialismus zu spirituellen Höhen?

Die Jahre vergingen und die Verantwortlichkeiten des Lebens nahmen zu, aber David verlor nie dieses Gefühl der Identität mit der Sonne. Ein besonders schöner Tag oder ein ungewöhnlicher Sonnenuntergang brachten ihm Frieden und gaben ihm ein seltsames Heimwehgefühl. Während des Erntedankfestes oder in der Weihnachts- und Neujahrszeit ärgerte und deprimierte es ihn jedoch oft, wenn er so viele Menschen herumhasten sah, zu sehr beschäftigt, um die im klaren, blauen Himmel so majestätisch scheinende Sonne zu beachten. Auf ihrem Heimweg von einem Kirchenfest oder von einer Cocktailparty warfen manche vielleicht einen flüchtigen Blick zu den Sternen hinauf, aber wie wenige schätzen die immerwährende Wohltat der Sonne!

An einem Heiligabend, als er und seine Frau ihren Baum geschmückt hatten und nach oben gegangen waren, um nachzusehen, ob die Kinder schliefen, kehrten seine Gedanken zu der Sonntagsschulklasse zurück, in der er sich als Knabe geweigert hatte, den Kopf zum Gebet zu senken. Jetzt lächelte er über die Kraft jener kindlichen Überzeugung und dachte an den vertrauten Bericht von der Geburt Jesu. Wie sehr glich er den Legenden, die er über andere Welterlöser gelesen hatte! Ungefähr dreitausend Jahre vor Christus wurde in Indien Krishna von Devaki, einer reinen Jungfrau, geboren und in eine Schafhürde gelegt. In China wurde Laotse unter einem Baum, dessen Äste tief herabhingen, ebenfalls von einer Jungfrau geboren, während in Ägypten Horus, der Sohn der Jungfrau Isis, im März empfangen und Ende Dezember geboren wurde. Buddha und der persische Gesetzgeber Zoroaster, bei dessen Geburt der Raum von Glanz erfüllt war, indem der Neugeborene fröhlich lachte, wurden beide zur Wintersonnenwende von einer Jungfrau geboren. Selbst in Mexiko und Peru fanden Cortez und die spanischen Konquistadoren Gemälde, die darstellten, wie Quetzalcoatl von einem Gott und einer unbefleckten Jungfrau geboren wird. Ein anderes Bild zeigte ihn als weisen und geliebten Lehrer und später, mit zur Segnung ausgestreckten Armen vor einem Holzbalken stehend, während zu seinen Füßen eine Schlange die Figur des Todes verschlingt. Diese fast völlige Gleichheit der 'heiligen Ereignisse' ist sicherlich mehr als nur zufällig!

Während David nachdenklich neben dem vielfarbig strahlenden Glanz ihres Weihnachtsbaumes saß und über die Ähnlichkeiten der Legenden und der verschiedenen Symbole nachsann, kam ihm plötzlich der Gedanke, daß sie verschiedene Darstellungen eines allumfassenden Sonnenmythos sind. Er sah in dem Jahreskreis der Sonne ihre Geburt, ihre Schaffenszeit und ihren Tod. Er konnte sich leicht vorstellen, wie sie Mitte Dezember, wenn sie an ihrem südlichsten Punkt steht, in einer Himmelshöhle geboren wird. Im Geiste folgte er ihrer Reise, wie sie, vom Polarstern geleitet, sich auf die Zeit der Frühjahrs-Tagundnachtgleiche zubewegte, in der sich das Leben der, lange Zeit im Winterschlaf gelegenen, Erde als Reaktion auf die Wärme der längeren Tage regt, um in einer wirklichen 'Wiederauferstehung' des Frühlings hervorzusprießen. Die Mitte des Sommers erreichend, erscheint das leuchtende Gestirn, gekrönt mit einer goldenen Aureole, während es weiter dem nördlichsten Punkt zustrebt, wo es wendet und wenn seine vertikale Ekliptik den Himmelsäquator im rechten Winkel kreuzt, ein astronomisches Kreuz bildet - die mystische 'Kreuzigung' der Sonne! Das bedeutet aber keinen Tod, denn wenn der jährliche Kreislauf vollendet ist erhebt sie sich wieder, wie alle Erlöser, in jener längsten Winternacht in einer himmlischen Gesellschaft von Planeten und entfernten Sonnen: um als Sol Invictus, Herr des Lichts, des Lebens und der Erlösung wiedergeboren zu werden!

Parallelen jagen sich in seinem Gemüt: die jungfräuliche Geburt - jener sich zuspitzende Moment am 21.-22. Dezember, an dem sich das Sternbild Virgo, die Jungfrau, am östlichen Himmel erhebt; die Tötung der Unschuldigen - das Drohen von Gefahr und bösen Stürmen, die die Sonne, wie jede Seele bei ihrer Entwicklung zur Reife bestehen muß. Die zwölf Jünger - selbstverständlich die zwölf Monate des Jahres und die zwölf Sternbilder des Tierkreises; der Abstieg in die Hölle - die drei Tage und drei Nächte am Ende des Jahres, wenn die Sonne im niedersten Bereich ihrer Bahn, anscheinend außerhalb der Grenzen unserer Milchstraße, verweilt. Und die Wiederauferstehung - das Anbrechen eines neuen Jahres, so wunderbar für die Sonne wie für den Menschen, der die spirituellen Möglichkeiten dieses Tages erfaßt.

Das ist alles so klar, seufzte David, warum konnte ich das nicht schon lange sehen? Die Menschen haben schon immer die Sonne verehrt. Die Alten und die Menschen der Neuzeit wiederholen eine zeitlose, einfache, aber tiefschürfende Geschichte, - jeden Tag in unserem Leben anschaulich gemacht - daß wir alle Söhne der Sonne sind. Unsere Kreisbahn durch die Konstellationen des Lebens kann so sein wie ihre Schönheit, ihre Stärke und ihre herrliche Wohltätigkeit!

Die Worte der christlichen Hymne hallten in seinem Herzen wider: "O Du wahre Sonne, leuchte für immer, strahlend mit ewigem Licht. Ebenbild des Geistes, erfülle uns." Voller Ehrfurcht beugte David Thompson sein Haupt.