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Der Ethische Instinkt

Vergangenen Sonntag hörte ich die Predigt eines Geistlichen, der jede Silbe in der Bibel für das unveränderliche Wort Gottes hielt, wozu auch die Ethik und Moral als Teile dieser göttlichen Verkündigung gehörten. Er betonte besonders, daß sittliche Gebote nicht von Menschen erdacht oder aufgestellt würden, sondern daß sie Gebote des Allmächtigen seien und wer sie übertrete, würde auf eigene Gefahr handeln. Dabei sprach er auch über den gegenwärtigen "Verfall der Tugend", wie er es nannte.

In gewisser Hinsicht wirkte es anregend, in der heutigen Zeit der gelockerten Normen und Nachgiebigkeiten einem Menschen zu begegnen, der an einem strengen Kodex festhält, ganz gleich auf welcher Grundlage er auch basiert. Im Laufe der Woche habe ich mich deshalb immer wieder damit beschäftigt. Wurden Ethik und Moral vom Menschen geschaffen? Oder hat Gott sie dem Menschen gegeben, etwa so, wie Jehova seine Gebote dem Moses gab? Oder kamen sie vielleicht durch Jesus von Gott? Doch wenn dem so ist, wie steht es dann mit den ebenso edlen Sittengesetzen anderer Religionen? Wo kamen diese her? Und warum sollten wir diese nicht mißachten? Was könnte uns da abhalten? Werden wir dann von Gott bestraft? Oder von der Gesellschaft? Oder von der Natur?

In der Umgangssprache sind die Worte Moral und Ethik beinahe austauschbar geworden. Dabei spreche ich nicht von den Sitten, die überall in der Welt ganz verschieden sind. Es stimmt zwar, daß das Wort Moral von dem lateinischen mores = Sitten stammt, aber ich meine die Eigenschaften, die man ganz allgemein damit verbindet. Begriffe wie Ehrlichkeit, Güte und Tugend, aber auch ethische Prinzipien wie Treue, Selbstlosigkeit, Geduld, Selbstaufopferung und andere. Diese wurden unter zivilisierten Völkern immer hoch geschätzt.

Die von der darwinistischen Entwicklungslehre beeinflußten Menschen nehmen allgemein an, daß Ethik und Moral menschliche Erfindungen sind. Man ist der Meinung, daß der Mensch, als sich die Zivilisation zu entwickeln begann und die Zeit, in der die Macht als einziges Recht galt, vorüber war, es vorteilhaft fand, gewisse Regeln aufzustellen, um damit eine geordnete Gesellschaft aufrecht erhalten zu können. Diese Regeln oder Gesetze sollen dadurch entstanden sein, daß einzelne einen Teil ihrer Vorrechte anderen übertrugen, denen es oblag, darauf zu achten, daß sie die Gemeinschaft zusammenhalten und in Zeiten der Gefahr schützen konnten. Solche Regelungen wurden gewöhnlich von Priestern, Königen oder dafür autorisierten Personen überwacht. Später wurde angenommen, sie hätten religiöse Bedeutung; und wer diese Gebote nicht einhielt, wurde bestraft.

So wird behauptet, daß der Drang nach ethischer Lebensführung in Wahrheit nichts anderes ist als der angeborene Wunsch nach Sicherheit und geordneter Existenz. Da die Gebote von Menschen ausgehen, ließe sich ein Mensch auch nicht davon abhalten, sie zu brechen; wenn er zudem diese Gebote umgehen könnte, ohne entdeckt zu werden, dann gäbe es auch keine Folgen, um die er sich Sorgen machen müßte. Folglich werden die meisten Menschen nicht durch den inneren Impuls, das Rechte zu tun, von dem Unrechttun abgehalten, sondern durch die Furcht vor Entdeckung und Bestrafung. Das ist die Ansicht, die heute vorherrscht und recht materialistisch ist.

Ich glaube, einer der Hauptgründe, warum die "altmodische" Ethik ihren Einfluß auf die moderne Gesellschaft verloren hat, liegt darin, daß der wissenschaftliche Materialismus zunimmt, der die Wurzel allen Lebens in bestimmten physikalisch-chemischen Prozessen sieht. So gesehen gibt es keine Notwendigkeit für einen Gott oder irgendwelche Götter in der Natur oder im Menschen. Nach Abschaffung der überzeugenden Idee eines göttlichen Selbst im Menschen, das die Quelle aller edlen Impulse in uns ist und den Tod des Körpers überdauert, konzentrieren wir uns gezwungenermaßen auf unseren gegenwärtigen materiellen Komfort und Wohlstand, ohne an irgendwelche Konsequenzen hier, im Jenseits oder in einem zukünftigen Dasein zu denken.

Der Zerfall des moralischen Niveaus kann jedoch nicht nur der zunehmenden wissenschaftlichen Erkenntnis zugeschrieben werden, denn in der Wissenschaft an sich gibt es nichts, was den ethischen Prinzipien widerspräche. Wie später dargestellt wird, ist genau das Gegenteil der Fall. Gerade im letzten Jahrhundert hatte die Wissenschaft eine ganz bestimmte Richtung eingeschlagen, die schließlich das herkömmliche Vorbild "christlichen" Verhaltens zerstörte; und an dieser Tendenz sind sowohl die Christen als auch die Wissenschaftler schuld. Viele Jahrhunderte lang war in der westlichen Welt die Religion die alles beherrschende Macht. Sie hatte feste Organisationen, die auf strengen, unbeugsamen Dogmen gründeten, mit großem politischen und kulturellen Einfluß aufgebaut. Diese Dogmen stellten den Menschen als das sündige Geschöpf eines eifersüchtigen Gottes dar. Die einzige Hoffnung auf Erlösung lag für den Menschen in der Befolgung der göttlichen Mandate der Kirche.

Dann kamen die Renaissance, die Reformation, die Wiederbelebung gelehrten Wissens, die die Kirche zersplitterten, die Anfänge der Wissenschaft förderten und die Freiheit der Gedanken und der Forschung und Lehre durchsetzten. Das von der engstirnigen Kirche beherrschte Europa kam mit anderen Zivilisationen in Berührung, mit früheren und auch gegenwärtigen; befreiende 'neue' Ideen flossen in das abendländische Denken ein. In dieser Zeit machte die protestantische und auch die katholische Kirche einen ernsthaften Fehler: sie hatten aus dem Mittelalter eine so fragmentarische und wirklichkeitsfremde Theologie und Kosmologie übernommen, daß sie sich mit dem wachsenden Einfluß der neuen Begriffe und Entdeckungen nicht messen konnten. Ihre Anschauung über das Universum, über die Welt und über den Menschen gründete sich auf eine wortgetreue geozentrische Interpretation einiger unzusammenhängender Kapitel reichlich symbolischer Schriften, die die Stürme der frühen Jahrhunderte des Christentums überlebt hatten.

Es war ein Fehler der Kirchen, daß sie den Tatsachen nicht offen ins Gesicht sahen und ihre Dogmen nicht erweiterten oder neuinterpretierten, wie es dem fortgeschrittenen Wissen entsprochen hätte. Sie haben auch versäumt, in anderen alten und modernen Philosophien und Glaubensbekenntnissen nach umfassenderen spirituellen Erklärungen zu suchen. Doch sie mußten ihre Ansprüche auf Unfehlbarkeit schützen: die Katholiken ihren Heiligen Stuhl, die Protestanten ihre Heilige Schrift. Beide fielen über die eben flügge gewordene Wissenschaft her, schleuderten Anathemen, drohten mit Exkommunikation und bestanden gleichzeitig auf ihrer buchstabengetreuen Schöpfungsgeschichte, auf der Einmaligkeit ihres Erlösers und auf der Notwendigkeit, daß alle Menschen Christen werden oder ewige Verdammnis erleiden müßten. Tatsachen werden jedoch immer über Unwissenheit und Aberglauben obsiegen: man entdeckte, daß die heutige Erde und ihre Bewohner das Resultat jahrmillionenlanger geologischer und organischer Veränderungen sind; daß unser Globus, der tatsächlich rund und keineswegs der Mittelpunkt der Schöpfung ist, ein winziger Punkt ist, der sich um die Sonne bewegt, die eine von Milliarden in unserer Milchstraße ist. Ebenso wurde entdeckt, daß die wichtigsten Lehren des Christentums schon lange vor Christus existierten und daß die Welt viele "gekreuzigte" Erlöser hatte.

Diese Entdeckungen erschütterten die Kirchen und unterminierten ihre Autorität. Aber sie hielten blind an ihren alten Geleisen fest. Jeder Beobachter kennt die Resultate: die Wissenschaftler erforschten weiterhin die Geheimnisse der Natur und nachdem ihre Gesetze immer mehr bekannt wurden, bestand immer weniger Anlaß für religiöse Auslegungen. Der Forschungsdrang der Wissenschaft befaßte sich auch mit der Religion selbst: der Ursprung der Bibel wurde untersucht; ihr fragmentarischer Charakter und ihre oft fehlerhaften Übersetzungen wurden enthüllt; selbst die geschichtliche Existenz von Jesus wurde in Frage gestellt. Stück für Stück übernahm die Philosophie der Wissenschaft das intellektuelle Gebiet. Die vom wissenschaftlichen Standpunkt beeinflußten, heranwachsenden nachfolgenden Generationen nahmen unbewußt allmählich an, daß allein die Wissenschaft den einzig wahren Sachverhalt kennt und daß die Religion, obgleich sie bei richtiger Anwendung manche wertvolle psychotherapeutische Wirkung hat, praktisch keine kosmologischen oder anthropologischen Tatsachen bieten kann. Auf diese Weise verlor der Mensch seine "göttliche Abstammung und Bestimmung" und das Universum seine göttlichen Gesetze und seine Seele. Die Theorien der Wissenschaft wurden als ausreichend betrachtet, den gesamten Lebenskomplex auf diesem Planeten zu erklären.

Es gibt natürlich noch viele andere wichtige Faktoren, die zu dem gegenwärtigen sogenannten "Verfall der Tugend" führten. Die industrielle Revolution und der daraus entstandene Hedonismus trugen ebenso dazu bei wie die großen Kriege des zwanzigsten Jahrhunderts und ihre Nachwirkungen; die Atombombe und ihre schrecklichen Begleiterscheinungen; die Ausbreitung der allgemein üblichen Erziehung mit der Betonung ihrer rein materiellen Maßstäbe. Der plötzliche Auftritt von Nationen und Völkern auf der Weltbühne, die selten darauf vorbereitet sind, die Bedeutung und die damit verbundene Verantwortlichkeit von Freiheit und Selbstregierung zu verstehen, die aber dessenungeachtet durch die durch technische Fortschritte erzeugte Einheit der Welt in diese Verantwortung hineingestoßen wurden. Zumindest sollte die Menschheit einig sein, stattdessen ist sie jedoch durch ideologische Streitigkeiten höchst kritischer Natur verhängnisvoll gespalten. Alle diese Einflüsse und noch viele andere haben zu der gegenwärtigen Unruhe beigetragen. Es ist eine regelrechte Gärung entstanden. Gewalt hat die moralischen Schranken durchbrochen und wenn es die internationalen, nationalen oder lokalen Gesetze nicht gäbe, könnte unsere Zivilisation schnellstens in ein Chaos sich bekriegender Familien, Vorstädte, Stämme, Nationen und Rassen verfallen.

Die heutige Auflehnung der jungen Menschen gegen die Gesellschaft, gegen ihre Eltern und gegen die Autorität an sich, gründet sich nach meiner festen Überzeugung auf einen inneren Widerwillen gegen die Vorgänge, die sich um sie herum abspielen: gegen die falschen Werte, gegen die offensichtlichen rassischen Vorurteile, gegen die endlosen Kriege mit ihren sich immer mehr steigernden Grausamkeiten und gegen die manchmal fälschlich Erziehung genannte tyrannische Fütterung mit Tatsachen, die die Menschen zwar oft mit jeder Art Information versorgt, aber nur selten mit einem wohlgesinnten Geist, mit Selbsterkenntnis und dem Wunsch, der ganzen Menschheit zu dienen und sie auf die Wege des Friedens zu führen.

Die Schwäche einer sich nur auf Daten und Fakten stützenden Erziehung liegt darin, daß sie uns zwar mit dem Material versorgt, worüber wir nachdenken sollen, jedoch andere wichtige Gebiete kaum berührt. Dazu gehört unter anderem die Fähigkeit unabhängigen Denkens und der Prüfung bestehender religiöser und wissenschaftlicher Theorien ohne Rücksicht darauf, wie festgewurzelt sie sind. Und vor allem gehört dazu, daß der menschliche Wissensdurst und die daraus entstandenen 'Dinge' mit der großartigen Ökologie der Natur koordiniert werden, damit wir nicht unsere Umwelt ausplündern und uns schließlich selbst vernichten, nur wegen einer kurzsichtigen und rücksichtslosen Vermehrung von Zahlen, technischen Dingen und Maschinen. Wir sind Gefangene unserer eigenen Schöpfungen und müssen den uns umschließenden eisernen Ring sprengen. Nachdenkliche junge Menschen empfinden das stärker.

Gewiß gibt es unter der neuen Generation berufsmäßige Anarchisten, Fanatiker, die nicht nur ihre Rechte, sondern auch fast alle Rechte, die uns gehören, fordern. Doch sie bilden trotz alledem eine, wenn auch lärmende Minorität. Hinter diesen Schlagzeilenjägern stehen, wie ein großer fester Wall, Millionen, die verzweifelt sind über die Bahn, die unsere vielgerühmte Zivilisation hinabzugleiten scheint, die absolut das Rechte tun möchten und die von uns, von anderen, von irgendwo oder von sich selbst Antworten erwarten, die sinnvoll sind; sie wollen keine Binsenweisheiten, Plattheiten oder aufgebauschte Zahlen und Berichte.

Der Unwille der neuen Generation, alte Bräuche, Gesetze, Regeln, Lehrpläne und Anstandsformen zu befolgen, wenn sie keinen Sinn darin sieht, ist ein starker Beweis für die Existenz der spirituellen Natur der Menschen. Wir haben uns jedoch von der spirituellen Lebensessenz abgewandt und die jungen Leute haben oft keinen Ersatz für Dinge, die für sie bedeutungslos und niederdrückend sind. Einerseits lehnen die Wissenschaftler jede Verantwortung ab: "Wir befassen uns mit Fakten und behaupten nicht, wir hätten mit Ethik zu tun." Dabei unterstützen sie die ganze Zeit über eine Einstellung, die durch Mißachtung der Ethik die Grundlage ethischen Verhaltens unmerklich unterminiert. Auf der anderen Seite sagt der größte Teil der Geistlichen immer noch: "Ihr seid in Sünde geboren, und wenn ihr nicht unseren Erlöser annehmt oder unserer Kirche beitretet, seid ihr verdammt." Keine dieser Einstellungen hat Aussicht, die kommende Generation zu fesseln, die, wenn es notwendig sein sollte, alle alten Gefüge zerstören und neue schaffen wird, die mehr übereinstimmen mit den Forderungen jener mutigen und mitleidsvollen Seele, die im Innern drängt und keine Landesgrenzen und keine religiösen oder rassischen Schranken kennt.

Dieses innewohnende spirituelle Zentrum ist die wahre Quelle der Ethik. Es gibt keine Erklärung für den unauslöschlichen menschlichen Drang nach etwas Höherem, nach einem besseren Leben und, wenn es notwendig ist, für sein Land, für eine Sache oder für einen Mitmenschen sein Leben einzusetzen - es gibt keine Erklärung für diese Handlungen, die frei von Selbstinteresse sind, welches der Darwinismus voraussetzt, wenn man nicht annimmt, daß er von einem vollkommeneren Selbst im Inneren angetrieben wird. Und weiter müssen wir annehmen, daß wir irrenden Menschen einen göttlichen Funken in uns tragen, der in heroischen Momenten, in Augenblicken der Großmut oder in Lebensperioden stiller Selbstverleugnung erstrahlt. Die spirituelle Natur des Menschen ist daher die Quelle des Altruismus; diese Tatsache wurde aus eigenartigen Gründen in unserer westlichen Kultur mißachtet. Erstens, weil man uns zu sündhaften Geschöpfen eines eifersüchtigen Gottes macht, ohne spirituelle Selbständigkeit, ohne Vergangenheit, aber mit einer endlosen Zukunft voll zweifelhafter Seligkeit, wenn wir uns in den Schoß der Kirche flüchten. Und zweitens, weil wir als Überlebende einer gänzlich seelenlosen Entwicklung angesehen werden, die für das Individuum weder eine Vergangenheit noch eine Zukunft kennt, denn der Materialismus lehrt, daß nichts den Tod des Körpers überlebt. Durch Kriege, Krankheiten, Hungersnöte, Luft- und Wasserverschmutzung und wegen der allgemeinen Zerstörung der Natur, die von unserer habgierigen und gedankenlosen Zivilisation so rasch herbeigeführt wird, hätte die menschliche Rasse nur noch ein ungewisses Schicksal.

Unsere bewundernswerten jungen Leute wollen uns nur sagen, sie hätten das Gefühl, daß die Richtung, in die wir anscheinend steuern, verkehrt und gefährlich ist, und daß es sicherlich einfachere, praktischere und glücklichere Lösungen für unsere Probleme geben muß als in einem Teil der Welt immer mehr und immer bessere Apparate herzustellen, während anderswo Millionen Mitmenschen hungern. Sie fragen, warum verquicken wir uns derart mit Politik, Berechnung, mit Organisationen und unfähigen internationalen, nationalen und lokalen Systemen, so daß verhältnismäßig wenig für die Milderung des menschlichen Leids getan werden kann. Hier stehen wir, die menschliche Familie, auf dieser unserer kleinen Erde: sind wir nicht reif genug, eine brauchbare, tätige Bruderschaft aller Menschen zu bilden?

Dr. René Maheu, Generaldirektor der UNESCO, sagte einmal, daß "jede Gemeinschaft, die von ihrer Jugend abgelehnt wird, dem Untergang geweiht ist." Er erläutert diese Behauptung ausführlicher und erinnert uns daran, daß 54 % der Weltbevölkerung unter 24 Jahre alt ist. (Ich konnte diese Zahl nicht nachprüfen, aber ich habe keinen Grund, sie anzuzweifeln.) Junge Männer und Frauen von heute sind schnell in der Lage, sich sozial, in der Geschichte und intellektuell besser zu informieren als ihre Eltern, besonders weil diese in der Mehrzahl den Assimilationsprozeß beenden, wenn sie ins harte Geschäfts- und Berufsleben eintreten. Maheu sagt, die Jungen sollten deshalb mehr an der Berichtigung unserer veralteten Erziehungs- und Regierungssysteme beteiligt werden, die sich gänzlich in den Händen einer älteren Generation befinden. Der Lernprozeß muß überprüft werden; es sollten weniger Zeit und Anstrengung auf Objekte verschwendet werden, die mit dem modernen Leben nichts zu tun haben. Das Leben selbst verlangt vom Menschen einen größeren Überblick und die Erziehung sollte dahingehend ausgerichtet sein. Die nationale Geschichte und die nationalen Errungenschaften sind wichtig und sollten ausführlich behandelt werden, aber unsere Jugend sollte auch in rechter Weise mit anderen Kulturen und deren Hintergrund und Zielen vertraut gemacht werden. Schließlich wird die Jugend den Hauptteil der Welt bilden, in die sie bald eintreten muß; eine Welt, die sehr schnell "kleiner" wird, weil die Probleme auch weit entfernter Völker jetzt unumgänglich alle berühren.

Das Lehrer-Schüler-Verhältnis müßte ebenfalls geändert werden. Es muß eine Verbindung hergestellt werden, die mehr auf Vertrauen aufgebaut ist; weniger auf Einpauken von Wissen, mehr auf Herausforderung und Anregung. Schon bei Sokrates und noch früher erschien es wichtiger, den Menschen zu lehren wie man denkt als ihn zu unterrichten über was er nachdenken soll.

Ich führe diese Gedanken an, um zu zeigen, daß hinter der gegenwärtigen Unruhe an den Universitäten und Schulen viel mehr steckt als das heisere Geschrei rebellischer Minderheiten und deren Anhänger. Dahinter steht die tiefe Besorgnis der jungen Generation über den Weg, den unsere Zivilisation einschlägt und auch ihre hartnäckige Weigerung, sich in die alten Schablonen des Denkens und Handelns zwingen zu lassen, von denen sie glaubt, daß sie für unser gegenwärtiges Dilemma verantwortlich sind, das uns anscheinend in der Tat fast an den Rand der Vernichtung gebracht hat.

Ich möchte behaupten, daß in unserer jüngeren Generation der ethische Instinkt lebendiger ist als in uns, ungeachtet der zeitweise gegenteiligen Erscheinungen: zumindest hat sie den Mut, sich aufzulehnen und Themen anzuschlagen, die die Sinnlosigkeit des Krieges, die Unrichtigkeit vieler geltender Normen und das dringende Bedürfnis nach einer Bruderschaft der Menschen, ohne Unterschiede von Rasse, Nationalität, Politik, Religion oder sozialem Rang, behandeln. Wir dagegen, die wir stabiler im gewohnten Alltagsleben stehen, fürchten oft den Spott unserer Nachbarn oder Freunde, wenn wir über unsere wahren Gefühle sprechen. Doch die edelsten Menschen, die je gelebt haben, ermahnten uns, wie Brüder zu leben. Sie sagten alle (so wie Jesus): Wisset ihr nicht, daß "ihr Götter seid" und daß der Geist des Höchsten in euch wohnt? Oder wie Paulus sagte: "Täuschet euch nicht; Gott läßt sich nicht spotten: denn was der Mensch säet, das wird er auch ernten." Das ist eine prägnante Formulierung des fundamentalen wissenschaftlichen Axioms - Ursache und Wirkung - und liefert eine wissenschaftliche Grundlage für die Ethik. Die Art unseres Denkens und Tuns stärkt, schwächt, oder verändert irgendwie unsere ganze Natur. Wir werden schließlich die Geschöpfe unserer Gedanken und Wünsche, wobei unser Charakter der Qualität unserer Gedanken und Wünsche entsprechend zum Guten oder Schlechten hin beeinflußt wird.

Die orientalischen Religionen erweitern diese Idee, indem sie die Reinkarnationslehre hinzufügten: "Säe einen Gedanken, und du wirst eine Tat ernten; säe eine Handlung, und du wirst eine Gewohnheit ernten; säe eine Gewohnheit, und du wirst einen Charakter ernten; säe einen Charakter, und du wirst ein Schicksal (die Bedingungen in späteren Leben) ernten." Dieses Prinzip wird von ihnen auch auf Familien, Gruppen, Nationen und Rassen angewandt und wird gewöhnlich als Karman bezeichnet.

Somit ist oder sollte die Wissenschaft ein Freund der Ethik sein, denn sie zeigt unausweichbar, wie durch Ursache und Wirkung das ethische Leben edlere Menschen und harmonischere Umweltsbedingungen hervorbringen wird. Die Ethik unterrichtet uns über die Art, wie wir handeln und denken müssen, wenn wir in Übereinstimmung mit dem Wirken der Natur leben wollen. Sie zeigt uns auch, was sich ereignet, wenn wir nicht so leben. Echte Religion ist ebenfalls ein Verbündeter der Ethik, wenn sie sich von Dogmen und Sektierertum frei machen kann, denn sie zeigt uns den Weg, auf dem wir, wenn wir ihm nachstreben, gottähnlicher werden. Die wichtigste Quelle des ethischen Instinkts des Menschen ist dieses gottähnliche Potential. Er wird zu höheren Dingen gedrängt, weil er, trotz Darwinismus und Kirche, im Keim ein erhabeneres Wesen ist als der irrende Mensch, den wir sehen. Er ist "auf dem Weg" und wählt von Leben zu Leben unentrinnbar mit jedem Gedanken, jeder Handlung und jedem Wunsch seinen eigenen Weg, der aufwärts oder abwärts führt. Diese größere Möglichkeit, das Herz und die Seele der archaischen Überlieferung in aller Welt, sind heute vergessen.

So liegt in der gegenwärtigen Gärung eine wirkliche Hoffnung. Vielleicht reißen die jetzt wehenden umstürzlerischen Winde nieder, was zwischen Mensch und Mensch und zwischen Nation und Nation steht und entfachen in uns allen die Flame des ethischen Instinkts. Dann begreifen wir vielleicht die Tatsache der Bruderschaft und leben und arbeiten zusammen und gestalten dieses Zeitalter neu zu einem an Errungenschaften und Mitempfinden reichen Zeitalter; nur das ist möglich oder Chaos. Ich für meinen Teil habe genügend Vertrauen in die spirituellen Kräfte, die allen Menschen innewohnen und in der Natur vorherrschend sind, um überzeugt zu sein, daß aus dieser ganzen Unruhe am Ende doch Gutes entstehen wird.