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Das offene Tor

Abgesehen von mündlichen Überlieferungen und den sogenannten Offenbarungen, wissen wir sehr wenig über den Tod. Wir sehen in ihm einen universalen Vorgang, da ihm alles, was ins Dasein tritt, unterworfen ist. Selbst die Gezeiten und die Jahreszeiten gleichen mit ihrem beständigen Wechsel dem Leben und dem Tod. Wenn man auch der Meinung ist, daß sich die beim Tod verschwindenden Bewußtseinsenergien einfach auflösen und nicht mehr bestehen, so wissen wir doch wirklich wenig über diese Bewußtseinsenergien. Wie entstanden sie überhaupt? Bevor wir etwas Genaues über den Tod aussagen können, müssen wir zuerst das Leben erklären können, und das hat bis jetzt noch niemand getan.

Diesem Geheimnis am nächsten kommen wahrscheinlich in erster Linie die Menschen, die schon an der Schwelle des Todes gewesen sind, zurückkehrten, und ihre Erfahrungen mitteilen konnten. Ein Artikel von Professor Kaj Lindberg, Anatom an der pathologischen Abteilung des Karolinska Sjukhuset in Stockholm,1 umreißt kurz einige dieser Erfahrungen. Professor Lindberg scheint ebenfalls zu dem einfachen Schluß gekommen zu sein, daß "Tod und Schlaf Brüder sind", wie es schon in einem alten griechischen Sprichwort zum Ausdruck kommt. Er beobachtete, daß sterbende Menschen manchmal bewußtlos werden, andere dagegen haben Träume oder Visionen, oder "blitzschnelle Erinnerungen an ihre Vergangenheit." Mit dem Ausspruch "Schlaf ist ein unvollkommener Tod und Tod ist ein vollkommener Schlaf" erweitert die alte Überlieferung den Gedanken noch dahingehend, daß genauso wie der Schlaf den Zeitraum zwischen zwei wachen Tagen ausfüllt, so füllt der Tod die Periode zwischen zwei Erdenleben aus. Mit anderen Worten, wir sind in der Vergangenheit unzählige Male geboren worden und sind gestorben und werden in Zukunft viele, viele Male auf dieser Erde sterben und wiedergeboren werden.

Wir können diese Zwischenzeit nach dem Tode den "Himmel" nennen oder das tibetische Wort "devachan" dafür gebrauchen, das "Ort der Götter" bedeutet, denn beide Ausdrücke bedeuten das gleiche: daß wir, soweit unsere innere Natur in Betracht kommt, gottgleich sind. Lukas sagt, "das Reich Gottes ist in euch", und Paulus äußert den gleichen Gedanken im 1. Brief an die Korinther. Im Westen nehmen natürlich viele Menschen die Idee der Reinkarnation nicht an, obwohl sie nicht nur der Seele, sondern allen Eigenschaften, die die menschliche Konstitution bilden, die Evolution gestattet. Wenn wir, wie alle Religionen kundtun, im Innersten gottgleich sind, dann sind wir gegenwärtig nur halb erwachte Götter. Unbestreitbar haben wir lange Zeit gebraucht, bis wir aus einem Zeitalter, von dem man sagt, daß wir damals "Gottesfunken ohne Selbstbewußtsein" waren, unsere gegenwärtige Stufe erreichten, und wir werden sicherlich noch eine lange, lange Zeit brauchen, ehe wir vollkommen selbstbewußte "Götter" werden.

Die Psychologen sprechen vom Libido, als jenem Teil des Menschen, dem die tierischen Leidenschaften und Begierden entspringen. Manche von ihnen sagen, daß dieses Zentrum des Bewußtseins den wirklichen Menschen beherrscht und daß die Zivilisation nur eine Tünche, eine Art Kruste darüber bildet. Es ist wahr, daß die meisten von uns etwas Egoistisches haben, eine Art Schmutzfleck, den die anderen sehen (und auf den sie uns aufmerksam machen sollten, wenn sie unsere Freunde sind). Auf der anderen Seite gibt es kaum jemanden, der nicht einige gute Charaktereigenschaften hat. Gibt es einen Menschen, der niemals eine kleine selbstlose Tat vollbracht hat - irgend etwas, das jemand anderem und nicht ihm selbst nützte, und das er einfach tat, weil er es tun wollte? Woher kommt die Anregung dazu? Sicherlich nicht aus dem Libido.

So erhebt sich die Frage: "Wenn überhaupt etwas nach dem Tode weiterlebt, welcher Teil von uns ist es dann?" Der Körper kann es ganz offensichtlich nicht sein, denn dieser verfällt bekanntlich. Auch das Gehirn kann es nicht sein, denn dieses stirbt mit dem Körper und nimmt unsere Erinnerungen an das Leben auf Erden mit. Anscheinend haben wir außer unserer tierischen Natur - oder unserer Tierseele, wenn man will - eine zu unserem Wesen gehörende spirituelle Seite, eine spirituelle Seele. Zwischen diesen beiden, einmal auf die eine, dann auf die andere Seite gezogen, steuert unser gewöhnliches menschliches Bewußtsein seinen eigenen Weg durch das Leben. Wenn die Worte "sterblich" und "unsterblich" irgendeine Bedeutung haben, dann ist damit gemeint, daß die tierische Seele sterblich ist und die spirituelle Seele unsterblich. Die menschliche Seele aber scheint bis zu dem Grade sterblich zu sein, als sie sich mit der Tierseele identifiziert. Andererseits scheint die menschliche Seele in dem Maße, in dem sie sich mit der spirituellen Seele identifiziert, unsterblich zu sein.

Nehmen wir einmal einen ganz außergewöhnlichen Fall an, - den seltensten der seltenen, dessen bin ich sicher - den Fall eines durch und durch schlechten Menschen, einen Menschen, der den niederen Begierden viele Leben hindurch erlaubte, seine menschliche Seele zu beherrschen und der völlig selbstsüchtig geworden ist. Nur dann wäre es vorstellbar, daß ein solcher Mensch, wenn er stirbt, eine vollkommene Auflösung seiner Menschlichkeit erleiden würde, einfach aus dem Grunde, weil nichts vom ihm übrig bleibt, das imstande wäre das "Gewand der Unsterblichkeit" zu tragen. Was aber geschieht mit den gewöhnlichen Menschen, wie Ihnen und mir? Ich nehme an, wir sind alle halb gut und halb schlecht. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Jener Teil unserer Persönlichkeit, der von der Erde kommt, also irdisch ist, kann sich nicht mit der spirituellen Seele vereinen; jedoch die höheren Eigenschaften in uns - und wir haben solche höheren Eigenschaften - gehören zu ihr. Daher muß beim Tod eine Spaltung stattfinden, ein Abstreifen der niederen Teile, bevor sich der aufwärtsstrebende Teil erheben kann, bildlich gesprochen, in die Arme seines spirituellen Vaters begeben und sich seiner Ruhe, seiner Erholung und seines Glückes erfreuen kann.

Eine weitere Frage ist: Was verstehen wir unter "himmlischer Glückseligkeit"? Eines ist offensichtlich: Sie und ich, wir würden wahrscheinlich zwei verschiedene Anschauungen darüber haben. Ich bin der Meinung, daß die jeweilige Ansicht des einzelnen ausschließlich maßgebend für ihn ist, denn "in meines Vaters Hause sind viele Wohnungen." Für den einen könnte das reine Glück in der Rückkehr in den Schoß seiner Familien bestehen - vielleicht einer idealisierten Familie, deren Bestrebungen nicht voneinander abweichen. Ein Musiker könnte sich vorstellen, daß er an der Musik der Sphären teilnimmt, während sich ein nordamerikanischer Indianer aus der alten Zeit einen Glücklichen Jagdgrund wünschen könnte. Wer weiß, vielleicht könnte sich jemand sogar eine Harfe und eine Marmortafel wünschen! Was macht das schon, wenn der Himmel oder devachan sich mehr als ein relatives Glück, denn als ein absolutes erweisen? Wir sollten den Himmel nicht als einen Ort "da draussen" betrachten, sondern als einen Bewußtseinszustand, in dem und durch den unsere spirituellen Aspirationen, ganz gleich welcher Art sie auch sein mögen, zur Reife gelangen.

Der Schlüsselgedanke ist, daß wir den Tod so wenig fürchten sollten wie den Schlaf. Wir sollten ihn jedoch auch nicht suchen, denn in gewissem Sinne ist diese Zeitspanne der Assimilation zwischen den Leben eine Zeit, die nicht aktiv für unsere evolutionäre Reise genützt wird, obgleich wir sie so wenig entbehren können wie den Schlaf. Man sagt, "der Tod ist eine Befreiung, das Öffnen eines neuen Tores zu den unsichtbaren Kammern und Wohnungen der Natur." Wir sind befreit vom ermüdeten physischen Körper; unser verbrauchtes Herz und unser erschöpftes Gehirn fallen von uns ab und das Beste in unserer Natur beginnt wenigstens bis zu einem gewissen Grade jenen Frieden zu erfahren, der jegliche Vorstellung übersteigt.

Fußnoten

1. Siehe "They Returned to Life", Sunrise, engl. Aus., Aug. 1967 [back]