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Das Phänomen der Stille

Wir wollen unsere schweigenden Heiligtümer bewahren, denn in ihnen erhalten wir uns das ewig Gültige. - Griechischer Philosoph

 

 

 

Wade Van Dore, der ein Freund und Gefährte des verstorbenen Robert Frost war, und über vierzig Jahre dessen drei Farmen als Hausmeister besorgte, war gleichzeitig der Hauspoet für das Marlboro College in Vermont.

 

In der Wildnis des Nordens, wo Felsen wie festgehaltene Kolosse der Ewigkeit als sichtbare Einsamkeit dastehen, kann sich die Stille, die manchmal als Gegenteil des Lärms bezeichnet wird, im Bewußtsein zu einem Abenteuer ausweiten, das beinahe überwältigende Gestalt annimmt. Das Ohr vernimmt dann nichts und man zerbricht beinahe an der Anstrengung, nur einen Laut zu hören. Das Gemüt muß sich einschalten. Das Denken muß der Stille entgegentreten und den paradoxen, "nicht vorhandenen" Status rationalisieren - und logisch schlußfolgern, daß auch die Stille ein untergeordnetes Element sein muß, wenigstens gegenüber den bekannten Elementen wie Wasser, Luft und Feuer, wenn darüber auch noch nichts bekannt ist. Sobald sich das alles miteinander vermischt und zu einem einzigen funkelnden Juwel der Wirklichkeit wird, werden die Begleiterscheinungen der Stille für den Menschen gelöst sein.

In einem Wald, der voller Stille ist, kann man im Zelt den Eindruck erhalten, daß jeder Baum das Gesetz der Natur ausstrahlt, das alles Wachstum der Pflanzen regiert. In der grünen Ausgeglichenheit seines Daseins muß jeder Baum so erscheinen, als pulsiere durch ihn mehr als nur die Freude, Blätter zu besitzen. Blumen und Farne scheinen die Grenzen, die ihnen gesetzt wurden, zu überschreiten. Alles scheint andächtig und aufmerksam zu lauschen - weniger nach einer Schwingung des Schalls, sondern mehr auf irgendeine Äußerung aus dem Reich der Stille, wo all die ungesehenen und ungehörten Wesen wohnen. Wenn auch diese Mitteilung nicht im menschlichen Bereich des Hörens und Verstehens liegt, so können wir doch sehr wohl die Tragweite ihrer Botschaft ahnen. Ich glaube, schon das allein könnte für jedes empfindende Wesen eine Ermahnung sein, dem Ursprung allen Seins Hochachtung entgegen zu bringen.

Für jene, die mit unverbildetem Wissen an die Physik herangehen, ist diese eine faszinierende Wissenschaft. Für Einstein war "Reines Denken" (so zart wie die Stille) ein wunderbares Instrument, und er sagte: "In gewissem Sinne halte ich es für wahr, daß reines Denken alles Reale begreifen kann, so wie die Alten es sich erträumten." Er sagte auch: "In den Bereichen des Denkens gibt es eine erhabene Harmonie." Denken geschieht schweigend - es scheint eine Form der Stille zu sein.

Ist aber Stille Denken? Ich könnte mir vorstellen, wenn Masse gleich Energie ist, so kann Stille gleich Denken sein. Wie aufregend wäre es, wenn ein Physiker mit Hilfe einer Gleichung das zuerst feststellen und dann durch Demonstration beweisen könnte.

All die Jahrhunderte zuvor, ehe Einstein seine Enthüllungen gemacht hatte, blieb für uns die nahe Beziehung zwischen Stoff und Energie unbekannt. Beständig standen wir auf Stofflichem, schliefen darauf, aßen es, ohne die latente Kraft der Atome zu kennen, die hinter der irdischen Erscheinung eines Klumpen Erde, eines Felsens, eines Brettes, hinter einem Leib Brot verborgen liegt. Und auch heute noch schlagen wir überwiegend Unbekanntes in Trümmer, das doch aus Partikeln bestehen kann, die tief im Innern, unvorstellbar klein, jenseits der Erfassungsgrenze unserer Instrumente liegen können.

Wer weiß, ob nicht die Stille oder irgendeine andere, unbeachtete Erscheinung, wie die Dunkelheit, der Schlüssel zum absolut Kleinsten oder zum maximal Größten sein kann? Wissenschaftliches Denken und Forschen ist verfeinert worden, und unsere Möglichkeiten zu lernen, liegen teilweise darin, daß wir fähig geworden sind, Hinweise, die zu zart sind, um einen Eindruck auf unsere physischen Sinne zu hinterlassen, zu denken oder zu träumen.

Früher hieß es: "Schweigen ist Gold", aber jetzt ist es in unseren Städten und darum herum zu etwas geworden, das beinahe zu kostspielig ist, um es bezahlen zu können. Im Lärm können wir uns an einer Unterhaltung, einem Bild oder der Zartheit einer Blume nicht wahrhaft erfreuen. Selbst weit entfernt von den Städten, wo es ländlich sein sollte, gibt es kaum noch Stille oder Ruhe, um zarte Weisen erklingen lassen zu können. Verkehrslärm aus der Ferne stört das harmonische Summen der Bienen, das Rauschen der Blätter oder das Rascheln des Grases, das durch einen springenden oder fliegenden Grashüpfer entsteht. In dem Maße, wie uns diese Laute allmählich verloren gehen, so werden unsere Gedanken durch den Lärm abgelenkt, gehen verloren oder werden beeinträchtigt und vereitelt.

Jeden Herbst werden in New-England Exkursionen ins Grüne durchgeführt. Jetzt haben wir sogar Aussicht auf die Möglichkeit, stille Wanderungen durch unberührte Wälder zu unternehmen. Menschenlärm wird dort verboten sein, und ruheliebende Wanderer werden, nur von Natur umgeben, die Stille erleben und vielleicht ein paar der wunderbaren kleinen Laute hören können, die jenen verlorengegangen sind, die in dichtbevölkerten Gebieten wohnen.

Wir haben bereits im nördlichen Minnesota eine Reservation mit Lärmbeschränkungen, die für diesen Zweck sehr geeignet sein würde. Da sie hauptsächlich für Kanu-Fahrer gedacht ist, die die Ruhe sehr lieben, wenn sie durch die Wildnis paddeln und zelten, so könnte es auch gerade der richtige Platz für jene sein, die Ruhe und Stille um ihrer selbst willen lieben. Es handelt sich dabei um das Boundary Waters Canoe-Gebiet, das nach Norden zu an den Quetico-Park in Kanada grenzt. Ich habe gerade nördlich von diesem Gebiet gezeltet und gelebt. Die Seen mit ihrem klaren Wasser sind dort beinahe so ausgedehnt, wie die grünen Wälder. Sie sind von felsigem Terrain umgeben und bekommen von dort her ihr Wasser.

In diesem Landstrich ist es so ruhig, daß die Stille für alle dort lebenden Tiere wie eine Mutter erscheinen muß. Wird der Wind vom Blasen müde, kehrt die Stille zurück, um Wasser, Bäume und das ganze Land mit all seinem Reichtum wie mit einer sanften Decke zuzudecken. In die ganze Atmosphäre dieses Gebietes der Provinz Ontario ist das Schweigen oder die Stille als charakteristische Eigenschaft eingebettet.

Obgleich die Stille hier ein gütiges Geschenk ist, kann sie doch wie ein dunkler Spalt in einem Gesteinsriff nachgewiesen werden. Sie ist eindringlicher als irgendein Ton. Irgendwo mag ein Indianer die Trommel schlagen oder ein Gewehr abfeuern, aber nachdem der Widerhall von den formenreichen und herrlich gelegenen See-Inseln verklungen ist, ist das Glas der Stille so klar und tief wie zuvor.

Die Stille ist demnach etwas Vorhandenes, das im Grunde genommen so beständig ist wie die Schwerkraft, eine vom Kosmos beeinflußte Kraft, die in alle Ewigkeit imstande ist, sich selbst zu regulieren, sich selbst auszugleichen, nachdem sie vom Ton sehr stark in Anspruch genommen worden war. Ein verbindendes Agens, das, dessen sind wir sicher, uns mit allen Welten und Sternen verbindet. Die Stille wird nie eine Frage beantworten, die von einem Menschen gestellt wurde, und dennnoch enthält sie ein verlockenderes Angebot als es uns jemals durch eine Stimme zum Ausdruck gebracht wurde.

 

- Aus The Living Wilderness, Winter 1967-1968