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Die Altäre des Glaubens

Was ist Religion wirklich? Warum gibt es überall Kirchen? Zu jeder Zeit haben organisierte Körperschaften von Menschen mit sittlichen und höhergeistigen Absichten bestanden. Die Zeit selbst ist jedoch die große Feindin solcher Einrichtungen. Sie werden mit Begeisterung und Enthusiasmus begonnen, die mit der Zeit immer mehr abnehmen, bis der Tag kommt, wo nur noch wenig wirksame Kraft in ihnen zurückbleibt. Die alten Ziele müssen wieder deutlich zum Ausdruck gebracht werden und neuen Antrieb erhalten.

Eine solche Neuformierung kam durch Jesus. Heute wissen wir, daß alle Lehren, die er so eindrucksvoll vorbrachte, von vielen vor ihm schon gepredigt worden waren - in China, Indien, Persien und auch in Griechenland. Nur seine Sprache war neu; die Ideen, die sie enthielt, waren uralt und universal. Er sprach von einem Weg zum Leben, einem Pfad der Erlösung - darin gipfelte alles. Das bedeutete Wachsamkeit gegen die Gedanken und Handlungen, die wir übel nennen, eine Unterwerfung des persönlichen Selbstes, seine Überwindung. Es gab ein ewiges, spirituelles Element im Menschen. Menschen waren Götter, ihre Körper die Tempel Gottes; sie waren Kinder eines gemeinsamen Vaters, jener großen inneren Wirklichkeit, dem Ursprung unseres Seins, den nur die sehen werden, die "reinen Herzens" sind. Suchet zuerst nach dem Reiche Gottes und alles andere wird euch zufallen.

Jesus war absolut allgemeinverständlich, unkompliziert und undogmatisch. Betraf es jedoch die Ethik, dann sprach er mit einem ihm eigenen Nachdruck. Vielleicht war die Zeit nicht reif, um mehr tun zu können, als die Grundsätze seines Wissens darzulegen. Obgleich das Leben größtenteils metaphysisch ist, schwieg er über Metaphysik (so wie vor ihm Konfuzius). Er sagte nur, wenn ihr im rechten Geiste lebt, dann fällt euch alles Wissen zu. "Wer nach dem Willen handelt, wird die Lehre erkennen." Von diesem "Willen" war in der Bergpredigt die Rede; lebe diesen Weg, und die Ursachen der Dinge, der Ursprung und die Bestimmung des Lebens werden offenbar werden.

Stellt man diesem Ausspruch die Ansichten des Hl. Athanasius (293?-375) gegenüber, die er in seinem Glaubensbekenntnis niedergelegt hat, so kann man erkennen, welche Wandlung in wenigen Jahrhunderten vor sich ging: "Das also ist der katholische Glaube, und jeder Mensch wird mit Sicherheit verdammt werden, der nicht daran glaubt." Der Plan für die Erlösung bestand nach der Lehre Jesu darin, sein Herz zu reinigen, sich selbst aufzugeben. Doch das zu tun bedeutet harte Arbeit, während es unendlich einfacher ist, ein Glaubensbekenntnis zu wiederholen, solange man nicht darüber nachdenken muß, um es zu glauben. Etwas völlig anderes war an die Stelle der ursprünglichen Absicht gesetzt worden, und dieses andere ist in den Glaubensbekenntnissen der Kirche zu finden.

Der Prüfstein für jede Erlösungslehre ist vor allem, erlöst sie auch wirklich? Wenn ja, dann ist sie vertretbar; wenn nicht, dann muß etwas an ihr nicht stimmen. Bis zur Zeit Konstantins trat die Auswirkung dieses neuen Ersatzglaubens nicht klar zu Tage, denn die Leiden der Welt konnten dem Heidentum zugeschrieben werden. In den folgenden Jahrhunderten war das Ergebnis wieder nicht allzu offensichtlich, weil sich alles in Bewegung befand. Zivilisationen stürzten zusammen und wurden hinweggeschwemmt. Außerdem mußte gegen so viel Ketzerei angekämpft werden, daß sehr wenig Zeit übrig blieb. Die Menschen gewöhnten sich recht bald an die Glaubenskrämerei und an die Verdammungen im Namen des Glaubens und waren es gar nicht gewohnt, die Tatsachen zu sehen, so daß niemals jemand auf die Idee kam zu fragen, ob ihr Heilsplan die Welt wirklich erlöste oder nicht.

Doch nichts dauert ewig, und nicht einmal die morastige Straße des Mittelalters konnte die Räder des Wagens der Zeit hindern, sich zu drehen. Zuerst begannen Menschen in der Provence, in England und in Böhmen irgendwo einen Widerspruch zu empfinden. Wycliff und Huß stellten Fragen und wurden zum Schweigen gebracht. Dann ließ Luther kühn seine Herausforderung erschallen, und der logisch arbeitende Verstand Calvins zerschnitt ebenfalls den Stoff kirchlichen Denkens. Ihre Worte konnten nicht ausgelöscht werden. Die Reformation war geboren.

Nun, die einfachen Worte Jesu, wie die aller Lehrer vor ihm, lauteten, daß Gott oder die Eine Wirklichkeit sich dem reinen Herzen entschleiert. Das ist alles. Er deutete niemals an, daß die Offenbarung vorenthalten würde, wenn der Mensch mit dem reinen Herzen zufällig ein Konfuzianer oder ein Brahmane oder ein Heide sein sollte. Er sprach als Verkünder eines Naturgesetzes, universal in seiner Reichweite und auf die ganze Menschheit anwendbar. Doch der Plan, der an die Stelle seiner Lehre gesetzt worden war, kann in groben Zügen und ohne auf die Theologie einzugehen, folgendermaßen dargelegt werden: Gott enthüllte sich der Menschheit ununterbrochen über eine bestimmte religiöse Organisation. Man war dadurch immer durch die Hierarchie in Berührung mit Gott - solange man zur Kirche gehörte. Das war vollkommen logisch, wenn die Voraussetzung stimmte, aber wie so viele rein logische Begriffe hatte diese Lehre das Herz restlos unbeachtet gelassen. Die Voraussetzung hierfür war ein überlieferter Ausspruch Jesu: "Du bist Petrus, und auf diesem Fels will ich meine Kirche bauen." Petrus war dadurch sozusagen zum apostolischen Nachfolger Jesu geworden, und die Nachfolger Petri waren die lebenden Bindeglieder zwischen Gott und Mensch.

Mit gutem Grund hatte Nordwest-Europa entschieden, daß diese Lehre, die die Kirche jahrtausendelang vertreten hatte nicht erlöste, wie logisch sie auch klingen mochte. Sie war erfolglos und deshalb irgendwie unwahr. Eine neue Formel mußte gefunden werden - und sie wurde gefunden. Gott, sagten die "reformierten" Christen, zeigte sich nicht immer durch eine Kirche; er hatte sich ein für alle Mal durch ein Buch geoffenbart. Ein einziger Band der Weltliteratur war auf wunderbare Weise Wort für Wort, Buchstabe für Buchstabe von der Gottheit diktiert. Die Bibel war damals nicht allzu bekannt, und diese Idee überkam die Menschen mit der Gewalt der Neuheit. Zweifellos war der Protestantismus ein Befreier. Er befreite die Menschen von der Einengung einer veralteten Gedankenschablone, brachte das Einzelwesen wieder zum Vorschein und ermöglichte dadurch, daß wieder etwas Licht die Welt erhellte. Zwischen dem ersten Sprung in der alten Schablone - der tatsächlich schon im 13. Jahrhundert seinen Anfang nahm - und dem Ende, das in der Erstarrung protestantischer Ansichten bei der Errichtung der Landeskirchen lag, wurde das neuzeitliche Europa, zugleich mit der Renaissance und der Wiederbelebung der Gelehrsamkeit geboren. Der westliche Mensch begann nach Jahrhunderten des Schlafes zu erwachen.

Die Worte Jesu sind tiefgründig; wenn man sie liest, glaubt man in eine große Kathedrale einzutreten, in welcher, sobald sich die Augen daran gewöhnt haben, das Licht Perspektiven, Möglichkeiten und Werke von unaufdringlicher Schönheit enthüllt. Hier kann man das Herz und den Geist des Menschen finden: den Teil von ihm, der, gereinigt von Egoismus und Leidenschaft, den edleren Trieben der Liebe folgt und den Teil, der die Voraussetzung schafft, auf dem Beweise, Theorien, Formen und Dogmen aufgebaut und allzuoft sogar die einfachsten Wahrheiten verdunkelt werden. Baut man auf die Lehren Jesu, so baut man auf einen Fels, denn sie bereiten die menschliche Natur vor, sich Schritt um Schritt der Wahrheit zu nähern. Baut man aber auf Lehrsätze, auf Ideen über Jesus, auf Formeln oder Glaubenssätze, so sieht man, was die Stürme im Laufe der Zeit mit dieser Struktur machen werden. - "Wer da glaubt und gereinigt ist, der soll erlöst werden; wer aber nicht glaubt, der soll verdammt werden!" Was ist damit angerichtet worden!

So schuf der Protestantismus eine neue Formel und ein Buch nahm nun den Platz der Kirche ein. Die reformierten Kirchen bauten jedoch auch nicht auf den starken Fels jener Gottheit im Herzen der ganzen Menschheit: das Herz wurde wiederum außer acht gelassen. So kam es, daß nicht der Reine Gott schauen sollte, sondern der Leser der Bibel, in der jedes Wort durch göttliche Eingebung buchstäblich wahr sein sollte.

Die Zeit floß dahin, und die Stürme der Veränderung setzten ein. Das 18. und dann das 19. Jahrhundert brachten die Wissenschaft und neue Vorstellungen über das Universum. Kritischere Untersuchungen zeigten, daß die Bibel etwas anderes war als man vermutete. Überall sahen sich die Kirchen bedroht und verloren an Boden. Überall nahm der Unglaube überhand, seit der Materialismus leugnete, daß es irgendeine höhergeistige Natur gäbe, die man mit einbeziehen müsse. Um die Arbeitsweise des Alls und die Existenz des Menschen zu erklären, brauchte man keinen Gott.

Unser eigenes Jahrhundert mit seinen aufeinanderfolgenden Weltkriegen und seiner wachsenden Unruhe scheint immer mehr Zweifel an dem üblichen Erlösungsschema aufzuwerfen. Anscheinend kann weder der Glaube an eine Kirche noch der Glaube an ein Buch helfen. Wenn, wie man behauptet, Jesus starb, um die Menschheit zu erlösen, hat er dann sein Leben weggeworfen? Denn offensichtlich ist die Menschheit nicht erlöst!

Wie sieht das Problem in den Augen der Kirchen aus? Sehen sie ihre Aufgabe einfach nur darin, den status quo der Religion festzuhalten - ihre Gebäude, ihre Einnahmen und ihr Ansehen in einer Art des Glaubens, der offensichtlich der dynamischen höhergeistigen Macht entbehrt? Dieses ganze Drum und Dran, diese verstandesmäßigen Dogmen, diese Spaltungen, die keine Rettung bringen, sie sind Formen der Zeitalter, die abgetan wurden. Jene, die in der Gegenwart und in der Zukunft leben möchten, müssen auch wirklich in der Gegenwart und in der Zukunft leben. Es ist die Aufgabe der Kirchen, ein Licht für die Menschen zu sein, die freie und ungehinderte Suche nach der Wahrheit zu verteidigen und erneut auf den "Fels der Zeiten" zu bauen - die Göttliche Natur des Universums und des Menschen. Es ist sicherlich nicht die Aufgabe religiöser Organisationen, die Heiligkeit des individuellen Bewußtseins zu verletzen, zu bedrohen, zu zwingen, zu beschwatzen oder dort mit Wahrheit einzudringen, wo sie nicht gesucht wird.

Die Geschichte des Christentums ist eine Serie schmerzlichen Erwachens. Seine Einzigartigkeit hat es verloren, wissen wir doch, daß zu allen Zeiten und in allen Ländern den Menschen die Wahrheit gegeben wurde, die erlösen kann. Wir beginnen endlich nur zu deutlich zu erkennen, daß keine Einrichtung, kein Buch und nicht einmal ein Erlöser das für uns tun können, was wir für uns selbst tun müssen, denn die wahren Altäre des Glaubens sind im Innern des Herzens jedes Menschen.