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Ein Sonnenstrahl in einer Kerze eingefangen

bild_sunrise_61961_s195_1Seit Jahrhunderten schon haben sich die Menschen um das Feuer versammelt, um Erzählungen aus den nie alt werdenden Schätzen der Menschheit auszutauschen. Sie haben sich die langen Winternächte in Gesellschaft des in den Kiefern rauschenden Windes, dem Krachen des brennenden Holzes, und dem plötzlichen Geräusch der sich verschiebenden Klötze vertrieben.

Dieser wundervolle Brauch ist sogar bis in unsere moderne Zeit nicht unterbrochen und bringt uns eine Menge Legenden, Mythen, Märchen und Erzählungen angenommener historischer Ereignisse. In allen Nationen und bei allen Völkern werden heute noch Geschichten erzählt, die im Menschen eine kleine leuchtende Kerze anfachen, die begierig darauf gewartet hat, entzündet zu werden. Später wird diese Kerze eine andere, vielleicht nur sehr kleine, in unsicheren Händen eines kleinen Kindes gehaltene Kerze, entzünden, wenn es eine bezaubernde Geschichte aus alter, alter Zeit hört. Während das Kind die Kerze leuchtenden Auges und warmerglühten Herzens in Händen hält, erhält die uralte Erzählung neues Leben und ein ganz anderes Gewand als je vorher. Die Kinder empfinden viel von der in einem Märchen enthaltenen Wahrheit, obwohl sie nicht imstande sind dieses Verstehen zum Ausdruck zu bringen. Mit dem Heranwachsen - einerseits ein Vorgang der Erleuchtung und andererseits eine Trübung des Verständnisses - verlieren sie oft dieses intuitive Erfassen.

Daher waren eine Zeit lang diese Erzählungen ausschließlich Kindern zugedacht und nur in den letzten Jahrzehnten wurden sie wieder mehr beachtet und studiert. Das Interesse kam hauptsächlich deshalb zustande, weil man sich die Frage vorlegte: Warum haftet diesen Erzählungen ein so unvergänglicher Zauber an? Ehe wir dem nachgehen wollen wir uns zunächst den Erzählungen selbst zuwenden: sie sind mit goldenen Fäden der Magie durchwoben, die das Unmögliche möglich machen. Götter und Engel neigen sich herab, Feen und Zwerge schließen sich zusammen, um dem Helden in seinem Kampf gegen Riesen, Drachen, Teufel oder Hexen beizustehen. Jene, deren Intuition nicht durch ein alles in Einzelheiten zergliederndes Gemüt behindert ist, verstehen alles, andere nicht, doch ihnen kommt teilweise ihre Imagination zu Hilfe und bezaubert sie.

Während des vergangenen Jahrhunderts, einer Zeit, in der die Kinder in einen Harnisch moralischer Prinzipien gesteckt wurden, ohne zu verstehen und ohne selbständig denken oder fragen zu können, wurde der Nachdruck auf den moralischen Wert gelegt. Denn tatsächlich enthielten alle diese Erzählungen eine praktische Lehre: Der Bösewicht verlor stets den Kampf, dem guten Prinz wurde geholfen, der selbstlose Helfer wurde belohnt. Somit wurden die Erzählungen meist als in mythische Form gekleidete moralische Lektionen für Kinder angesehen.

In diesem Jahrhundert jedoch entdeckten die Menschen mit wachsendem Interesse, daß die Mythen und Märchen ebensogut eine Botschaft für die Erwachsenen in sich bergen. Die Beseitigung vieler Schranken im Denken und in den Handlungen und der Wegfall lang angenommener allgemeiner Normen bereiteten den Weg für neue Ideen vor. Die Entwicklung der modernen Psychologie in den letzten Jahrzehnten z. B., hat manchen wertvollen Gedanken in den Vordergrund gerückt, wenn dadurch auch auf anderen Gebieten einige Theorien oder Systeme weit aus dem Gleichgewicht geraten sind.

Es ist nicht notwendig in die Details der verschiedenen Strömungen psychologischen Denkens einzugehen. Die Anhänger Freuds und Jungs oder jene, die ihre Theorien größtenteils angenommen haben, begannen die überlieferten Erzählungen zu studieren und entdeckten erstaunlicherweise, daß sie viele Theorien der Psychoanalyse bestätigen (die einzelne interessante Aspekte aufweist, obwohl man nicht mit allen Auslegungen übereinzustimmen braucht). Viele der uralten Märchen erscheinen wie eine Übertragung dieser Theorien in symbolische Sprache, obwohl vielleicht hie und da einige Punkte ein wenig übertrieben sind. In diesen alten Erzählungen können wir eine Darstellung des Kampfes zur Erfüllung oft unbewußter Wünsche des Menschen, sowie das Zwischenspiel seines Ehrgeizes, seiner Befürchtungen und kindlichen Neigungen erblicken.

Aber das ist nicht die endgültige Erklärung für den Wert und das ewige Leben der Legenden, Mythen und Märchen. Sie scheinen eine noch größere Bedeutung zu haben. Eine universalere, spirituellere Wahrheit wurde in sie eingekleidet, die in anderer Form sehr schnell ihre Stärke und ihren Wert verloren haben würde, denn sogar die Kinder können sie sich merken und auch verstehen. Wäre es nicht möglich, daß jene, die die Erzählungen lebendig hielten, ohne es zu wissen in einer goldenen Kette der Wahrheit eingegliedert waren, die die Zeitalter überdauerte?

Es gibt auch noch andere Symbole, die nicht in die Form einer Erzählung gekleidet sind, die zum Teil mit den Menschen als überlieferte Tradition bewahrt wurden: Der Weihnachtsbaum, obgleich nicht christlichen Ursprungs, ist heute noch ein essentieller Teil unserer Weihnachtsfeiern. Wenn auch die Kirche und die vergangenen Jahrhunderte keine befriedigende Erklärung für den geschmückten Baum geben konnten, so blieb das Symbol doch lebendig. Wir dulden nicht nur Sankt Nikolaus, sondern empfangen ihn jedes Jahr mit offenen Armen. Und was wäre Ostern ohne das lustige Schenken der vielfarbigen Eier?

Woher kamen alle diese Symbole? Was erhielt sie lebendig? Und wenn sie den Menschen eine spirituelle Botschaft bringen, welche Beziehung haben sie zu den religiösen Glaubensbekenntnissen? Widersprechen sie jenen Überzeugungen oder bestätigen sie diese?

Wahrscheinlich waren diese Symbole und Überlieferungen als Leuchtfeuer auf dem Wege, den die Menschheit geht, gedacht. Wie sich Mensch von Mensch und Generation von Generation unterscheidet, so gibt es Zeiten, in denen die Wahrheit offener dargeboten werden kann und Zeiten, in denen sie, um weiter bestehen zu können, in vielerlei verschiedene Verkleidungen verborgen werden mußte. Es war notwendig diese Wahrheiten in eine symbolische Form einzukleiden. Steht in den Heiligen Schriften mehr über sie geschrieben?

In allen diesen Schriften finden wir viele Geschichten verschiedenster Art. Die meisten Menschen sind der Meinung, daß sie eine weit tiefere Bedeutung haben, als es den Anschein hat. Obgleich einige die Bhagavad-Gîtâ z. B., nur als einen militärischen und historischen Bericht studieren, sehen sehr viele in ihr einen Ausdruck tiefster Weisheit, die der Mensch je entdecken kann. Aber beide finden viel Wertvolles darin, und man kann nicht sagen, daß einer von beiden unrecht hat: sie blicken nur durch verschiedene Linsen. Gleichermaßen akzeptieren einige die buchstäbliche Auslegung der Bibel, während viele andere es vorziehen die Berichte in einem mehr symbolischen Sinne aufzufassen - und die bitteren Kämpfe, die sich zwischen den verschiedenen Sekten und Gedankenrichtungen ergeben haben, sind schwer zu verstehen.

Jesus selbst erklärte eindeutig, daß die Erzählungen, die er der Öffentlichkeit gab, Gleichnisse und Geschichten waren, mit denen er eine moralische oder spirituelle Wahrheit lehrte. Die Symbolik dieser Gleichnisse ist mehr oder weniger variabel, so daß sie auf verschiedene Weise ausgelegt werden kann. Das Gleichnis vom verlorenen Sohn z. B., könnte uns lehren die Schwächen anderer zu verstehen, es könnte uns sagen, wie der sich abmühende Seelenteil des Menschen endlich in seinem eigenen innersten Selbst ein Heim finden wird. Ebenso könnte es bedeuten, daß ein Mensch oder irgendein Wesen, während es durchs Leben geht und Erfahrung sammelt, immer ein essentieller Teil des Universums, seiner wahren Heimat, bleibt. Dieses Prinzip wird nicht nur bei den Gleichnissen, sondern auch bei den meisten Berichten und Geschichten in der Bibel angewendet. Aller Wahrscheinlichkeit nach wurden die Wiedergaben über das Leben Jesu derart gebracht, daß sie, obgleich sie auch buchstäblich oder historisch ausgelegt werden können, ein Bericht von sehr großer spiritueller Tiefe und von universalerer Bedeutung sein können.

Man darf nicht vergessen, daß es noch viele andere Berichte über "Erlöser" gibt, die der Menschheit ihre Lehren brachten. Es wurde gesagt, daß auch sie um die Wintersonnenwende von einer Jungfrau geboren wurden und am Ende, unter sehr ähnlichen Umständen, die wir so gut vom Neuen Testament her kennen, gekreuzigt worden sind. Viele sind davon überzeugt, daß die Erzählung von der Geburt z. B., symbolisch aufzufassen ist und mit verschleierten Worten eine Initiation, die spirituelle Geburt eines großen Lehrers beschreibt. Es liegt daher in der Tatsache, daß die christlichen Feiern der Wintersonnenwende und der Wiederkehr des Lichtes, die seit langer Zeit die Menschen der ganzen Welt feiern, weder ein Zufall, noch eine von Menschen geschaffene Einrichtung sind, wenn sie jahreszeitlich übereinstimmen. Die "zweite Geburt" jedes Erlösers fand statt - und mußte an einem besonderen Punkt des Jahreszyklus stattfinden - nämlich an dem die Konstitution des Universums für dieses große Ereignis günstig war.

Die Wahrheit in und hinter jeder Religion wurde die ganze Geschichte der Menschheit hindurch nur begrenzt verstanden. Die individuelle spirituelle Entwicklung der Menschen bestimmt die Grenze. Der Wahrheit, mit all ihren Aspekten, kann man sich von vielen verschiedenen Seiten aus nähern, sie kann auf zahlreichen gesonderten Wegen gefunden werden. Der Mensch erklimmt stufenweise die Leiter der Erkenntnis. Von den unteren Sprossen aus sieht er nur die Stelle an der er steht und den Augenblick, in dem er lebt, begrenzt in seinem Horizont durch seine selbstsüchtige Haltung. Wenn er höhere Ebenen erreicht, übersieht er die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Und mit dieser erweiterten Sicht erkennt er die gegenseitigen Beziehungen all dessen, das ihn umgibt, und er beginnt mehr auf andere zu achten als auf sich selbst.

Und von wem könnten wir mehr für die Zukunft der Menschen lernen, als von Jenen, die einige Sprossen 'die Leiter herabstiegen', um uns beim Emporklimmen zu helfen? Sie haben eine Selbstlosigkeit erreicht, die in ihrem Ausmaß unsere Vorstellung weit übersteigt, obgleich wir manchmal einen Schimmer des Lichtblickes erhalten, mit dem sie in ihrer umfassenderen Erkenntnis und Weisheit vollständig vertraut sind, und an dem sie beständig versuchen uns teilhaben zu lassen.

Es scheint als kämen die symbolischen Erzählungen der Heiligen Schriften, die Märchen und Mythen alle aus Quellen längst vergangener Zeiten, aus einem großen und behüteten Reservoir der Weisheit, das auf der ganzen Welt, Zeitalter hindurch mit der Menschheit zusammen bestanden hat. Da die Struktur der Natur aus vielen Ebenen besteht, jede Ebene auf ihre besondere Weise den grundlegenden Aufbau widerspiegelt und jede Ebene dem Wirken derselben universalen Gesetze unterworfen ist, ist es nicht so verwunderlich, daß Symbole auf mancherlei Weise erklärt und auf die mannigfaltigen Ebenen des Daseins und des Bewußtseins angewendet werden können. Selbst der Mensch spiegelt diese grundlegende universale Struktur in gleicher Weise wieder, obwohl er eine bestimmte Individualität ist.

Wenn wir zu Weihnachten unsere Kerzen anzünden, sollten wir uns über den Wandel der Zeit Gedanken machen, über die Sonne, die wieder mehr von ihrer lebenspendenden Kraft zur Erde sendet. Wir sollten anläßlich der Feier der Geburt eines anderen "Lichtes der Welt", der Geburt eines Helfers der Menschheit, die Kerzen anzünden. Und im Geist der Jahreszeit können wir, vielleicht unbewußt, uns dazu entschließen, unsere Verbindung mit den Kräften des Lichtes zu festigen und in der Stille dieser Zueignung einen Strahl der spirituellen Sonne in die Flamme unseres eigenen Herzenslichtes aufnehmen.