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Ein Weg zurück in die Gesellschaft

Das Schönste an Mrs. Elizabeth Morins Schreibklasse ist, daß sie viele Schüler wieder verliert. In den vergangenen sechs Jahren ist Mrs. Morin jeden Mittwoch nach dem Patton State Hospital gefahren, um mit Patienten, die in einer Klasse zusammengefaßt waren, Aufsätze zu schreiben. Für eine Frau, die keinerlei Erfahrung im Schreiben hat - "ich kann wohl Geschichten erzählen, aber ich kann sie nicht schreiben" - und ohne irgendwelche Erfahrung im Umgang mit Geisteskranken, leistet sie Ausgezeichnetes.

In den Krankensälen von Patton sagt man, "wenn Du Dich einer solchen Schreibgruppe anschließt, bist Du auf dem Wege nach draußen" - aus der Anstalt heraus und wieder in der Gesellschaft. Die Patienten haben nicht nur irgend etwas geschrieben. Ihre Arbeiten enthalten so viele gute Ideen, daß ihre 13. Aufsatzsammlung soeben herausgegeben wurde. Die vervielfältigte Broschüre war vor ihrem Erscheinen von Mitgliedern des Vereins zur Unterstützung Geisteskranker in San Diego durchgesehen worden. Dr. Claude Shouse, der Leiter der englischen Abteilung am San Diego State College, hatte zu einem Essen im Yacht Club von San Diego eingeladen. Dabei wurden die Arbeiten nochmals vorgelesen und kritisch geprüft.

Es war Mrs. Morins Idee, die Schreiber der Artikel nicht mit ihrem vollen Namen unterschreiben zu lassen, "weil dadurch mitunter nur Unannehmlichkeiten entstehen könnten." Sie wurden deshalb in einer Kartei als - P. K., L. S., J. L. L., A. H. H. - geführt. Dabei gab es zwanzig verschiedene Buchstabengruppen.

Für manche Gäste des Essens war es ein ganz besonderes Ereignis. P. K. und L. S. und noch andere der 25 Patienten, die mit dem Bus von Patton gekommen waren, schienen vor Freude wie vom Blitz getroffen zu sein, als sie hörten, daß Shouse aus ihren Arbeiten vorlas.

Was für Menschen verbergen sich hinter diesen Initialien? In Patton sind es Patienten, die mit dem Leben nicht fertig geworden sind. Manche von ihnen sind schizophren, manche Alkoholiker, manche Rauschgiftsüchtige und einige hatten Nervenzusammenbrüche gehabt. Es sind die geistig Kranken. Als Mrs. Morin in ihr Leben trat, waren einige "als unheilbar aufgenommen" worden - sie waren es zufrieden, für immer in Patton bleiben zu müssen. Andere befanden sich in einem Zustand, in dem sie teilnahmslos dasaßen. Es bestand für sie kein Anlaß irgendwo hinzugehen, sie hatten nichts zu tun, warum also sollten sie irgendeine Anstrengung machen?

Mrs. Morin gibt wohl zu, daß ihr Erscheinen in Patton nicht allgemein begrüßt wurde. "Einige der Männer wurden rebellisch", erinnert sie sich. Sie nörgelten, weil sie aus ihrem Dämmerzustand plötzlich aufgerüttelt wurden, um aus sich heraus etwas zu schreiben.

An dieses Schreiben eigener Ideen hatte Mrs. Morin aber am allerwenigsten gedacht, als sie vor sechs Jahren nach Patton fuhr, um tuberkulösen Geisteskranken Geschichten zu erzählen und Gedichte vorzulesen. "Mein Hobby ist, Kindern Geschichten zu erzählen", erklärt sie, "und das tat ich auch, mehr oder weniger." Die Idee mit dem Schreiben hat sich erst später entwickelt.

Mrs. Morin, eine Witwe mit weißem Haar, ist 79 Jahre alt und war früher Hauptlehrerin (sie unterrichtete 35 Jahre lang an Frau Katherine Tingleys Schule der Theosophischen Gesellschaft in Point Loma). Diese Aufgabe hier führte sie jedoch "nicht als Lehrer aus, sondern als Freund."

In ganz Patton sprach man bald von Mrs. Morin und ihrer Klasse. Heute hat sie 43 Schüler in drei Klassen. Die Arbeit in den Klassen ist vollkommen freiwillig und zwanglos. Sie beruht hauptsächlich darin, die Arbeiten der Schüler zu lesen und zu besprechen. Es gibt nur eine Regel, nach der sich alle richten müssen: Die Schüler müssen etwas schreiben, was sie innerlich frei macht.

"Ich hatte nie einen Wärter in meiner Klasse", sagt Mrs. Morin. "Die Schüler sind sehr stolz auf ihre Klasse und treten dafür ein." Wenn etwas wäre, was Mrs. Morin sicher nicht gefallen würde, so würden sie sich untereinander darauf aufmerksam machen und einer wohl zum anderen sagen: "Lies das nicht vor, denn das wird Mrs. Morin nicht gefallen."

Themen werden nicht gestellt, doch wenn Mrs. Morin den einen oder anderen sieht, der "gar nichts zu schreiben weiß", so wird sie ihm eine Anregung geben, wie: "Schreibe über die nichtigste Sache, die Du je erlebt hast!" Geschrieben wird jedoch nicht in der Klasse, sondern nur in der Freizeit der Schüler. "Da haben sie die ganze Woche Zeit, etwas Konstruktives zu denken," sagt Mrs. Morin.

Worüber schreiben nun die Geisteskranken? Über genau dieselben Dinge, über die jeder andere auch schreibt. - Über Dummheiten, die in der zweiten Schulklasse gemacht wurden, über Angeln gehen oder wie gut heiße Biskuits oder Schinken und Hirse im Nachbarhaus schmecken. Vielleicht aber auch über eine Katze mit Namen "Sir Thomas Cat", die gerne Tomaten, Melone und Kohl frißt.

In dem Büchlein findet man natürlich auch eingebildete Erinnerungen. Man hat zum Beispiel Indianer gesehen, die ohne Sattel quer durch eine Reservation in Süd-Dakota geritten sind, man erinnert sich an einen Lieblingspapagei, der "Pretty Boy" hieß, oder man kennt ein Kind, das einen Regenbogen gesehen hat.

C. P. schreibt über Weihnachten:

Manchmal glauben wir, wir seien zu alt.

Dem Äußeren nach sind wir auch groß,

Doch in unserem Herzen können wir jedes Jahr spüren,

Daß wir überhaupt nicht erwachsen sind.

Manche sind philosophisch und manche unbeholfen realistisch. Ein Mann schreibt über sein Leben, wie es war "bis mir die Äußerlichkeiten nichts mehr geben konnten und ich dadurch das Gefühl für Werte verlor. Schließlich mußte ich ins Krankenhaus gebracht werden." Ein anderer beschreibt das Leben in Patton als einen Prozeß ständigen Lernens - einer vom anderen - ... Hier in diesem Krankenhaus wird der Wert eines Menschen danach bemessen, wieviel er für seine Mitmenschen tut.

Eine besondere Abteilung ist "ehemaligen Schülern" vorbehalten, die früher einmal die Klasse besucht hatten. Vier ehemalige Schüler, ein paar von denen, die durch diese Schreibklasse ihren Weg in die Gesellschaft zurückgefunden haben, waren gestern anwesend.

Es ist ein beglückendes Buch. Wie Shouse sagte: "Auf jeder Seite kann man dankbare Anerkennung wiederfinden."

 

Aus der Tageszeitung San Diego Union vom 30. September 1967