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Labyrinthe des Gemüts

Da ich zu einer Verabredung etwas zu früh eingetroffen war, blätterte ich in einer Zeitschrift und stieß dabei auf einen etwas zynischen Artikel über moderne Psychiatrie. Der Sinn des Artikels war der, daß die Psychoanalyse zu einem Glaubensbekenntnis, zu einem sozialen Spielzeug, und zu einem beneidenswert symbolischen Zustand geworden sei. Bei ihren verdrehten Parties wetteiferten die Freunde miteinander, um ihre Einfälle und Couchsitzungen zu erklären, oder um tiefsitzende Hemmungen zu beschreiben, die kürzlich durch ihre allesverstehenden, mitfühlenden Analytiker ans Licht gebracht wurden. Es war eine humorvolle, aber beißende Erdichtung, in welcher der Verfasser einen aktuellen Zustand nur übertrieben hat. Denn es besteht wenig Zweifel darüber, daß jene wohlhabenden, aber außergewöhnlich unreifen Personen, die sich der Analyse zuwandten, weil sie nichts Besseres zu tun hatten, hauptsächlich aber, weil es hochmodern ist, dem Ansehen dieser Wissenschaft äußerst geschadet haben.

Welche Gründe es auch immer sein mögen, immer mehr Menschen suchen nach psychischem Rat. Warum können sie sich nicht selbst helfen? Eine Antwort könnte die sein, daß sich diejenigen, die zu sehr im Trubel des Lebens stehen, keine Zeit nehmen in stiller Einsamkeit für sich selbst zu denken, aber doch Zeit für die Analyse haben. Ein weiteres Hindernis bildet die Neigung, sich zu rechtfertigen - denn es ist äußerst schwierig, sich ein wahres Bild von den eigenen persönlichen Schwächen oder niederen Wünschen zu machen; und überdies ist es sehr unangenehm einen ehrlichen Blick darauf zu werfen. Deshalb finden Menschen, die fühlen, daß sie äußeren Beistand brauchen und sich ihn leisten können, die Psychoanalyse verlockend.

Ich glaube jedoch, daß die alte Freud'sche Ideologie im Abnehmen begriffen ist, und daß fortschrittliche Menschen auf diesem Gebiet mehr und mehr gewillt sind, mit Charaktereigenschaften aufzuwarten, die für das innere Gleichgewicht von Bedeutung sind - z. B. die Fähigkeit zu geben, zu opfern und zu lieben. Je einfühlender der Analytiker ist, desto lieber wird er versuchen herauszufinden, daß reines Selbstinteresse die Heilquellen der schöpferischen Kraft verstopft, daß allzuvieles Beschäftigen mit sich selbst zu einem geschlossenen Kreis wird, der Ausdehnung verhindert. Wenn eine Person dahin geführt werden kann, daß sie für einen andern Menschen Opfer bringt, werden die Schranken starker Selbstisolierung gelockert sein. Hier findet die Psychiatrie eine gemeinsame Grundlage für philosophisches und religiöses Denken; denn wir erkennen wieder den vertrauten selbstlosen Pfad der Religion, und das Prinzip, das hinter der Legende vom Stein der Weisen steht.

Bei Menschen, die eine psychiatrische Behandlung dringend nötig haben, waren natürlich schon lange vorher Anzeichen dafür vorhanden, daß die Lücke zwischen dem, was sie hatten und dem, was sie wünschten - zwischen Wirklichkeit und Traum - so groß geworden war, daß sie versuchten ins Reich der Phantasie zu entfliehen oder zu Gewalttaten zu greifen, oder sie verfielen in unnatürliche Trägheit. Stets sind solche verwirrten Gemüter rätselhafte Naturen. In der Hoffnung, durch irgendeinen neuen Zugang diese entstellten Gemüter zu erreichen und in Ordnung zu bringen, sind mentale Therapeuten fortgesetzt bemüht zu experimentieren, um eine falsche Vorstellung ins rechte Licht zu rücken. Aber sie müssen eine Person vor sich haben, die mittut; Menschen, die aus eigenem freien Willen Psychiater konsultieren, bitten offen um Beistand, aber ernsthaftere Fälle mögen verzweifelt nach Hilfe verlangen, doch können oder wollen sie nicht irgend jemandem erlauben in ihre schützenden Hüllen einzudringen. Nun, man kann Drogen geben, damit diese eine zeitweilige, synthetische Beziehung hervorrufen. Der Arzt bemüht sich, indem er die gekrümmten Wege des Gemüts verfolgt, die inneren Zustände die das Licht der Vernunft verdunkeln, zu verändern; er überzeugt den Patienten, daß ein Absondern von der übrigen Welt nicht die richtige Lösung seiner Probleme ist. Paradoxerweise jedoch ist es am Ende der Patient, der sich entscheiden muß, wie er sich heilt.

Der Wunsch, irgendwie aus der Hülle herauszukommen, muß erweckt werden. Wenn einem Kinde zu beten gelehrt wurde: "Mach mich gut", so weist das Gebet auf ein Ziel hin; aber wie nutzlos sind jedoch die Worte, wenn darin keine weitere Anstrengung gemacht wird und der Wunsch gut zu sein nicht vorhanden ist. Der Wunsch drängt den Gedanken zur Handlung, bestimmt unseren Lebenslauf und hilft Entscheidungen zu fällen, die jene Richtung ändern, die wir einschlagen. Das menschliche Gemüt mit seiner Fähigkeit, sich zu glänzenden Höhen zu erheben, verbunden mit einem starken Zug nach Selbstbefriedigung, macht den Menschen zu der rätselhaften, widerspruchsvollen Kombination, die er ist. Aber die Erkenntnis, daß wir unsere Wünsche und dabei - wenn wir wollen - unsere Gedanken und Handlungen kontrollieren können, kann in schlimmen Zeiten ein stützender Stab, eine stets gegenwärtige Hoffnung auf Besserung sein.

Oft denken die Menschen, daß der physische Körper der niederste Aspekt des Menschen sei. Wir sehen, wie diese falsche Idee in östlichen Ländern am Werke ist, wo die Gläubigen alle Arten von physischer Erniedrigung und Selbstfolter ausüben, um zu versuchen damit spirituelle Seeligkeit und Freiheit zu gewinnen. Doch der Körper ist nur ein Instrument und ist an sich nichts Böses. Allgemein ist es der Wunsch, der das Schlüsselprinzip bildet, weil er zu einem Gipfel der Inspiration werden oder zum Verderben führen kann. Auch die Wichtigkeit des Willens, der den Wunsch unterstützt, können wir nicht verkleinern. Der Wille scheint eine farblose, universale Kraft zu sein, die wir auf dieselbe Weise benützen, wie man die Elektrizität praktisch anwendet, obwohl ihre Sonnenquelle nicht hinreichend bekannt ist. Anders jedoch wie bei der Elektrizität, ist der Wille nicht der Diener des Durchschnittsmenschen; denn es ist so, wie ein alter kabbalistischer Grundsatz sagt: "Hinter dem Willen steht der Wunsch."

Es gibt viele verschiedene Seiten im Menschen, und mannigfaltige Kräfte wirken auf ihn ein. Weil der Mensch auf Schönheit so lebhaft reagiert, erforscht die Psychiatrie auch die ästhetischen Bereiche. Zuweilen besitzt bloße wahrnehmbare Liebenswürdigkeit die Kraft, eine verworrene Gedankenwelt zu klären. Ich erinnere mich an einen Schutzmann, der jahrelang in meiner Vaterstadt eine allgemein bekannte "Selbstmörderbrücke" bewachte. Jeden Morgen pflückte er in seinem Garten einen Blumenstrauß und nahm ihn mit zu seinem Posten. Dort hatte er sich so aufgestellt, daß es ihm möglich war, falls jemand die Brücke in der Absicht hinabzuspringen betreten sollte, diesem unmittelbar die Blumen zu übergeben. Er erklärte, daß er im Lauf der Jahre und durch eigene Erfahrung beobachtet habe, daß die meisten Lebensmüden, als sie die schönen Blüten erblickten, den ganzen Schauder ihrer Absicht erkannten und ihr krankhafter Wunsch, sich zu töten, dahingeschwunden sei.

Ich habe das Gefühl, daß sich die Psychiatrie bereits einer neuen Forschungsmethode zuwendet. In der Vergangenheit betonte sie die unedlen menschlichen Neigungen und hat die Schuld an der Unausgeglichenheit hauptsächlich auf unterdrückte Wünsche, Enttäuschungen, möglichen Mangel an Liebe, zuviel an Liebe oder auf eine falsche Art von Liebe zurückgeführt. Die gesamte Wissenschaft hat eine erstaunlich aussichtsreiche Zukunft vor sich, wenn es ihr gelingt, ihr Forschungsgebiet umfassender zu gestalten, und wenn eher die feinere Seite der menschlichen Natur berührt wird als gerade die niedere. Wenn die Psychiater erst einmal zugeben, daß das Spirituelle im Kern des menschlichen Herzens existiert, kann ihr Tätigkeitsfeld nicht länger mehr auf die Nebenwege menschlicher Entwicklung begrenzt bleiben. Weise Eltern stärken die edle Natur eines Kindes, nicht dessen Schwäche. Wir wissen, unsere Kinder haben Fehler, aber wir richten unser Augenmerk auf die wundervolle Stärke und Möglichkeit, die wir ebenfalls kennen. Durch Ermutigung alles dessen, was gut und schön ist im Kinde, und durch Förderung der Selbstdisziplin hoffen wir, die negativen Aspekte zu überwinden. Diese positive Annäherung ist es, der, wie wir hoffen, die Psychiater folgen. In diesem Sinne schreibt Aldous Huxley:

Ist das Haus der Seele nur ein Bungalow mit einem Keller? Oder hat es sowohl ein Stockwerk über dem Hausflur des Bewußtseins als auch einen Müllschlucker unten im Kellergeschoß?

Sicherlich sind mit mentaler Krankheit schwierige Probleme verbunden; es ist ermutigend zu erkennen, daß viele aufrichtige Ärzte versuchen, ihren Weg durch das Dunkel zu finden, um es zu zerstreuen. Moderne Drogen haben den Vorhang, der den Zusammenhang verdeckt, zeitweilig zurückgezogen, warum aber der vor allem befindliche Vorhang fiel, blieb unbekannt. Ebenso ließen diese Drogen erkennen, daß ein bestimmter Teil des menschlichen Bewußtseins zu allen Zeiten von Ereignissen, die sich zutragen und von Gesprächen, die stattfinden, unterrichtet ist, und daß dieser Teil auf liebevolle Pflege warm reagiert. Das schließt jene, die äußerlich reagieren durchaus nicht ein. Plötzliche Heilungen kann es nicht geben, obwohl es schnellwirkende Heilmethoden geben mag, weil die Psychiater Mittel anwenden, die nicht greifbar sind. Ihr Patient ist der Mensch, rätselhaft beschaffen und mit einer bisher nicht beachteten Wachstumsmöglichkeit ausgestattet. Die Alten nahmen an, daß ein Aspekt der menschlichen Natur im universalen Sein lebt, während ein anderer gemeinsame Elemente mit der Erde teilt. Alte Hinduschriften über Philosophie betrachten das Leben als einen beständigen Kampf zwischen der niederen und der höheren Natur des Menschen, mit der Notwendigkeit fortgesetzter irdischer Existenzen, bis das Höhere das Niedere beherrscht. Der mythische Herkules wurde von dem Gott Zeus väterlich überwacht, aber bemuttert von der sterblichen Jo. Das Christentum lehrt, daß der Mensch ein Kind Gottes ist. Den Begriff der menschlichen Dualität findet man in der Religion wie in der Philosophie - die Wissenschaft muß ihn erst noch übernehmen.

Bei bewölktem Himmel sieht man des nachts weder Fixsterne noch Planeten, obwohl sie am Firmament stehen. Ebenso verhält es sich bei dem Menschen, jenseits des Labyrinthes des Gemüts befindet sich seine spirituelle Essenz, der Schlüssel zur Erkenntnis, die Quelle des Verstehens.