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Eines Menschen Wert

Wie oft hören wir einen Menschen von einem anderen sagen, "den kenne ich recht gut!" Das sind fast immer herabsetzende Worte und bedeuten einfach "ich halte nicht viel von ihm!" Manchmal versuchen wir in einem Satz ein schmeichelhaftes oder auch ein anderes Urteil über uns selbst zu bilden, wie es kürzlich ein Bekannter von mir tat, der bemerkte, "ohne Geld in der Tasche fühle ich mich wie ein Mann aus Pappe."

Heute scheint ein beinahe zwingender Drang zu bestehen, die Leben berühmter Menschen der Vergangenheit biographisch zu erfassen, nicht so sehr um zu entdecken, was sie 'groß' machte, als vielmehr um herauszufinden, warum diese Schöpfer großer Werke auf dem Gebiete der Musik, Malerei und der Literatur manchmal in ihrem Privatleben Züge von Niedrigkeit und Kleinlichkeit zeigten. Mir erscheint es unglaublich, daß ein moderner Biograph, sagen wir einmal durch Beethoven, dessen Musik erhabene Höhen erreicht, veranlaßt werden sollte, mit allen Mitteln zu suchen, einen unleugbaren Beweis zu erbringen, der 'beweist', daß Beethoven in mancher Hinsicht zu den unwürdigsten Menschen zählte.

Den Charakter meines Freundes, dem Mann von Pappe, hätte ich sicherlich nicht richtig eingeschätzt, wenn ich ihn nach seiner eigenen kurzen Erklärung beurteilt hätte. Wie wertlos er sich ohne Geld in der Tasche auch fühlen mag, und er leidet oft unter Geldmangel, so hat ihn das nie gehindert, auf andere Weise an jene Reichtümer auszuteilen, die sie benötigten. Dieser Mensch unterschätzte sich beträchtlich, wie es viele von uns tun. Manche mögen hier lächeln und sagen, sie hätten die entgegengesetzte Erfahrung gemacht: daß, anstatt bescheiden zu sein, die Leute sich und ihre Leistungen mehr herausstreichen als es das Leben tut! Indessen, wenn wir auf alles zurückblicken, was wir zu werden erstrebten und noch nicht sind, wieviele von uns haben sich damit getröstet, daß wir wenigstens strebten? Es ist keine Schande erfolglos zu sein. In der Tat, wenn wir es nicht fertig bringen, uns mit Gleichmut zu betrachten wenn wir versagen, werden wir wahrscheinlich lieber das besondere Gebiet der Inspiration, auf dem wir versagt haben meiden, und sorgsam, wenn auch nicht immer bewußt, die wohlbekannten, gut gebahnten Wege aufsuchen, auf denen uns, wie wir wissen, nichts unerreichbar ist. Sind wir, wenn wir die Niederlage durch diese matte und ziemlich fadenscheinige Ausflucht zugeben, nicht wie das Kind, das beleidigt sagt, "ich war nicht der Erste in meiner Klasse, also will ich mich gar nicht mehr anstrengen!" Sollten wir dann unser Ziel etwas niedriger stecken und denken, "ich zielte zu hoch, aber jetzt weiß ich es besser und werde mein Visier etwas tiefer einstellen?"

Die Wahrheit ist, daß wir oft träge sind und - subjektiv und objektiv - die Bequemlichkeit des Vertrauten lieben. Wir sind uns und anderen als reizbar bekannt, mit "einer spitzen Zunge", oder daß wir zuviel essen oder trinken. Die gewöhnliche Erklärung lautet: "So bin ich eben", und ein sehr starkes Wollen ist notwendig, um überhaupt mit dem Versuch zu beginnen, uns zu ändern. Ebenso haben wir die Gewohnheit, den Versuch eines anderen, sich selbst zu bessern und sein Empfinden für Ideale zu veredeln, herabzusetzen oder darüber zu lachen. Statt Beifall zu zollen, zu ermutigen und die Verbesserung willkommen zu heißen, bringen wir es fertig zu sagen, "wir wollen sehen, wie lange es anhält. ..." Sind wir auf der Stufenleiter etwas 'abgeglitten', dann fühlen wir höchstwahrscheinlich eine gewisse Befriedigung für unser Abwärtsgleiten, wenn sich unsere Skepsis gegenüber dem Versuch der Selbstveredelung eines andern als richtig erweist.

Was ist dann der wahre Wert eines Menschen, und wer unter uns ist berechtigt, ihn zu bestimmen? Man sagt, daß wir einen anderen nicht verstehen können, wenn nicht etwas von seinem Charakter auch in dem unsrigen vorhanden ist, so daß die Eigenschaften, die wir loben oder tadeln, in Wirklichkeit auch eng in unserer eigenen Natur verwoben sind. Diese Idee kann ein hilfreicher Schritt sein, um zu begreifen, daß der allgemeine Einfluß unserer Handlungen - ob wir unseren Charakter erniedrigen oder erheben - von der ganzen Menschheit verspürt wird.

Wenn ein Mensch verhört wird, so wird vom Gericht gefragt, ob er ein "bekannter" Verbrecher, das heißt, ob er schon vorbestraft ist. Traurig genug, wenn auch wir im gewöhnlichen Leben zu Archivaren der von uns oder von anderen begangenen 'Frevel' werden, und wir sie benützen, um den Wert eines Menschen festzustellen, selbst wenn er schon lange über die Missetat hinausgewachsen ist. Wir sollten lernen, uns nicht dauernd Bilder von eingebildetem oder uns tatsächlich angetanem Unrecht zu schaffen, denn das verleiht ihm eine profane Art zweiten Lebens und gereicht niemand zum Vorteil. Sind wir nicht alle schon Leuten begegnet, die sich beinahe buchstäblich an die Erinnerung der vielfältigen Leiden klammern, von denen sie das Gefühl haben, sie seien ihnen von anderen zugefügt worden? Sie erzählen jedem, der es hören will, diese Kränkungen immer und immer wieder, mit dem gleichen altgewohnten Gefühl der Bitterkeit. Es erfordert eine gewaltige Anstrengung, ihnen zu einer neuen Einstellung zu verhelfen.

Was ist das wirkliche Motiv hinter solch quälenden Erinnerungen, wenn es nicht der Wunsch ist, auf der einen Seite andere für das, was sie getan haben, zu strafen, und auf der anderen Seite sich selbst gerechtfertigt und öffentlich als den anerkannt zu sehen, dem "Unrecht getan wurde." Aber setzen sich solche Leute jemals ruhig hin, um über ihre eigenen Missetaten nachzudenken, und möchten sie, daß diese in ähnlicher Weise öffentlich bekannt gemacht werden? Ich glaube nicht. Es erfordert einen tapferen und starken Menschen, der es ruhig hinnimmt, wenn er für Handlungen beschuldigt wird, deren er sich schämt - besonders wenn nur er weiß, daß sie begangen wurden. Wir verschwenden sehr viel Zeit und Energie, wenn wir uns bemühen, nach Schwächen zu suchen und unsere Mitmenschen danach zu beurteilen. Auch können wir nicht sagen, wieviel Leid (durch Zerknirschung) sich unter einem gleichgültig scheinenden Gesicht verbergen mag.

Vielleicht ist es eine wirkliche Bemühung den ganzen Menschen darzustellen, wenn irgendein Autor zu dem Versuch verleitet wird, zu beweisen, daß ein geehrter Künstler oder Komponist tatsächlich auch ein kleiner Taugenichts war. Oder wird der sorgfältige Biograph von dem Wunsch getrieben das Kolossale auf das gewöhnliche Maßverhältnis herabzumindern - einen geringeren Maßstab als des Künstlers Werk oder des Komponisten Musik zu finden - der mehr des Biographen eigener Natur entspricht? Wenn wir je zuhörten, wie eine Person gelobt wurde und dabei für uns selbst dachten, daß weit weniger würdige Züge dabei ebenfalls erwähnt werden könnten, machten wir uns des gleichen Vergehens schuldig. Zu versuchen, mit dem Höchsten in anderen Menschen in Berührung zu kommen, ist schwierig, aber die Anstrengung lohnt sich. Wir könnten dabei entdecken, wie lohnend es ist, wenn wir uns an jene aus unserem Bekanntenkreis erinnern, die, indem sie immer das beste von uns hielten, tatsächlich unser Allerbestes erweckten! Sie glauben, wir sind gut, und so strömt in ihrer Gegenwart wirkliche Güte aus uns. Ähnlich ist es, wenn ein Musiker unsere Herzen, wenn auch nur vorübergehend, zu erhabenen Höhen erheben kann, wie taktlos von uns, seinem Geschenk an die Menschheit eine Aufzählung seiner 'Sünden' gegenüber zu stellen.

Wahrscheinlich haben wir alle, wie der Dichter sagt, ein wenig "besser an uns gearbeitet, als wir denken" und das Konto unseres Charakters weist auf der Habenseite auf Gebiete, von denen wir uns wenig träumen lassen. Wir werden auf diese Wahrheit hingewiesen, wenn uns ein Mann oder eine Frau in unserer Nachbarschaft, die ganz alltägliche Menschen und tatsächlich weit davon entfernt zu sein scheinen, heldenmütig zu sein, mit einer mutigen, selbstlosen und hochherzigen Tat überrascht. Wir sagen, "das hätte ich von ihm oder ihr nicht erwartet!" Aber ist es nicht so, daß auch wir so gut wie sie, es auf Grund unserer gemeinsamen Quelle in uns haben - auf Grund eines unsterblichen Selbstes, das uns auf Höhen altruistischen Handelns führen kann?

Wir neigen dazu, uns auf dem Gebiet unserer spirituellen Fähigkeiten zu unterschätzen, weil wir zum größten Teil von Dingen mehr weltlicher Art in Anspruch genommen sind. Aber das wissende Selbst im Innern ist ein Führer, der unsere Augen im Leben nach aufwärts gerichtet hält, wenn wir uns bemühen, auf ihn zu hören und ihm zu folgen. Dann beginnt unser mitleidvolles Verständnis für die Schwierigkeiten, Prüfungen und Irrtümer anderer zu wachsen, und wir verstehen unsere wirkliche Verwandtschaft mit allem. Dann kommt ein Verurteilen nicht in Frage. Jeder von uns ist das Werkzeug eines Schicksals, das wir beständig weben und ändern; und wir sind verantwortlich in dem ungeheuren Evolutionsprozeß positive Einheiten innerhalb der menschlichen Familie zu werden. Wenn wir einmal beginnen, diese Verantwortlichkeit auf uns zu nehmen, dann werden wir in der Lage sein, den wahren Wert eines Menschen zu erkennen.