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Die Philosophie der Seele

Alles, was ein Mensch zu sein glaubt, das ist er für die entsprechende Zeit. Wenn wir uns als bloße Körper betrachten, werden wir entsprechend handeln: krank sein, wenn der Körper krank ist und sterben, wenn der Körper stirbt. Ebenso werden wir von uns annehmen, daß wir und andere entstanden, als der Körper geboren wurde, was vor einigen Jahren begann und in einigen Jahren vorüber sein wird; Launen des Gemütes und der Umstände. Wenn wir uns jedoch nur mit unserem Gemüt identifizieren, so sind wir ebenfalls im Irrtum, denn obgleich wir den Gedankenstrom bis zu einem gewissen Grad leiten, unterbrechen und hinwenden können wohin wir wollen, können wir nicht mit dem Gemüt identisch sein, denn da wir es beherrschen können, müssen wir etwas sein, das jenseits oder höher als das Gemüt steht. Was sind wir dann? Eine Seele? Aber was ist eine Seele? Gewöhnlich befassen wir uns mit dieser Frage nicht, und zwar hauptsächlich, weil wir keine befriedigende Antwort geben können.

Die Wissenschaftler geben ein Bild von der Evolution jeder Materie. Die Evolution dessen, was in der Materie lebt, wurde noch kaum berührt. Es wird uns gesagt, wie sich unser Körper aus niedrigeren Formen entwickelte, aber die Evolution von uns selbst als Individuen ist eine andere und geheimnisvollere Sache. Jede wahre Philosophie sollte das besser machen: Sie sollte eine Autobiographie bieten, in der die Formen der Materie nur einen Teil des auto bilden. Ohne eine Philosophie der Seele müssen wir daher ruderlos bleiben. Wir können im Verständnis über uns selbst oder das Universum zu keinem Ziel gelangen, wenn wir glauben, daß wir zu sein anfingen, als wir in dieses Leben geboren wurden und entweder zu sein aufhören oder für immer in ein himmlisches "Irgendwo" entrinnen, wenn wir sterben. Solch ein Gesichtspunkt weist auf keine gesetzmäßige Fortdauer hin. Um eine Fortdauer zu erlangen, müssen wir annehmen, daß wir immer existierten, für immer fortschreiten, einen ununterbrochenen Faden bilden.

Wir werden die Seele nicht verstehen, solange wir sie unterschiedlich von uns oder als unser gewöhnliches, aus den Gedanken und Empfindungen bestehendes Selbst betrachten. Sie ist vielmehr die Quintessenz der letzteren. Wenn wir das Beste und Höchste von uns sind, ist die Seele unser Selbst. Zu anderen Zeiten ist ein überwachendes Bewußtsein gegenwärtig, das wir gewahr werden können oder nicht. Denn in jedem von uns ist ein Licht, das von dem Wirbel des Gemütes und der Begierde nicht berührt wird. Darüber hinaus haben wir ein aufgespeichertes Bewußtsein. Wir haben Schätze im Himmel gesammelt. Wenn nicht ein Teil von uns Existenz in der Welt des Geistes erlangt hätte, wären wir ohne Anker.

Wir müssen unsere alten Begriffe über die Geburt als Anfang und den Tod als Ende erneuern. Eine Philosophie des Lebens sollte die Idee beständiger Existenz und beständigen Wachstums einschließen, mit der Seele als dem Behälter unserer Vergangenheit und Garanten unserer Zukunft, denn die selbstbewußte Seele ist es, die den Menschen von den Tieren unterscheidet. Welches Tier kann sein Gemüt überwachen, kann denken wie wir und seine Gedanken hinlenken, wohin es will? Welches Tier kann seine Stimmungen erkennen wie wir und wenn eine falsch oder unfruchtbar ist, in eine bessere umwandeln? Es ist wahr, wir üben diese Kräfte der Kontrolle nicht genügend aus, aber wer seine Seele erkennen will, wird beständig auf diese Weise an sich selbst arbeiten. Weil das wirkliche Selbst in uns lebt, können wir unseren Willen gegen die Begierde einsetzen und den Kampf gewinnen. Wo immer dieser Widerstreit des Willens und der Begierde, der Pflicht und der Neigung besteht, dort erfolgt ein Aufruf der Seele.

Die Seele kann nur in der ihr eigenen Sprache erklärt werden. Wir können niemandem den Willen begreiflich machen, der keinen hat, so wenig wie wir Musik jemandem erklären können, der kein Ohr dafür besitzt. Musik ist eben Musik, der Wille ist einfach Wille. Keines von beiden kann bloß durch Beweisführung erklärt werden. Die Seele muß in ihrer Tätigkeit und in ihrer spirituellen Eigenschaft erfahren werden. Um sie zu erkennen, müssen wir sie in gewolltem Handeln gegen den Widerstand irgendeines Elementes in unserer Natur betätigen, genau wie das Streichholz die Reibung braucht, um sein latentes Feuer zu zeigen. Alle Schwierigkeiten und Schmerzen sind so die Gelegenheiten der Seele, denn sie rufen unseren Willen auf, sie zu überwinden oder mit Mut zu ertragen. Nicht, daß wir diese Dinge suchen sollten, ganz und gar nicht. Das Leben selbst wird uns alles, was wir brauchen, und noch mehr, bringen. Aber wir können versuchen, die spirituellen Möglichkeiten zu erkennen, die in der täglichen Erfahrung liegen.

Wir sind beseelt, aber nur wenn wir versuchen, unerschüttert als Seelen dazustehen, werden wir erfassen, was das bedeutet.