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Das Ziel des Altruismus

Wenn wir die Mannigfaltigkeit des Lebens, die unermeßliche Vielfalt, die im gesamten Bereich der Natur ausgedrückt ist, und den Umfang des Wissens, den jede denkbare Wissenschaft, von der Astronomie bis zur Kernphysik, in sich einschließt, betrachten, so wundern wir uns darüber, wie der Mensch je beginnen kann, die Welt, in der er lebt, zu verstehen. Wenn wir außerdem das Mysterium sehen, das im Menschen selbst liegt, und die zahlreichen Facetten, die er aufzuzeigen fähig ist, so stehen wir in Ehrfurcht vor dem riesenhaften Zwerg, der sich anmaßt, die Herrschaft über das Leben der Erde zu besitzen.

Die Konstitution des Menschen ist so wunderbar eingerichtet, daß sich viele gewundert haben wie es kommt, daß wir zu gleicher Zeit in verschiedenen "Welten" tätig sein können. Es ist für einen Menschen nichts außergewöhnliches z. B. seinen Wagen zu lenken, dabei auf Radiomusik zu hören und ein intelligentes Gespräch zu führen, wobei jede Tätigkeit gleichzeitig die ihr gebührende Aufmerksamkeit erfährt. Wenn wir diesen Tätigkeiten noch automatische Vorgänge wie Atmen und Verdauen hinzufügen, dann sehen wir in einem menschlichen Wesen nicht nur eine, sondern mehrere tätige Wesenheiten, von denen jede für ihren Zweck geeignet ist.

Welcher Teil von uns ist es nun, der diese vielen Selbste umfassen kann? Sicherlich gibt es ein dauerndes Bewußtsein, das inmitten all der Veränderungen unverändert bleibt, etwas Tiefes im Menschen, das bestimmt ist, auf den vielen Facetten des Bewußtseins zur Geburt gebracht zu werden, das diese verschmelzt und alle Naturkräfte veranlaßt, dem einen zu Grunde liegenden Antrieb zu gehorchen, der uns ins Dasein rief und der im Verlauf der Zeit die Energien von der physischen Welt zurückziehen wird. Im Menschen ist ein führendes Prinzip vorhanden, und ein wachsendes Verständnis dieses Prinzips macht aus ihm einen starken und willigen Agenten des natürlichen Gesetzes seines Wesens.

Aus einer Erkenntnis dessen sind viele Gedankensysteme hervorgegangen, die in den Bereich der Religion und Philosophie gehören. Jedes System ist auf seine Weise bestrebt, die Entwicklung in ihrem Streben zur zentralen Quelle der Natur zu unterstützen, und die dabei angewendeten Mittel sind so unterschiedlich wie die Sekten, die sie anwenden. Es besteht kein Zweifel darüber, "daß das wirkliche Studium der Menschheit dem Menschen gilt." Die für dieses Studium empfohlenen Methoden sind zahlreich und kompliziert. Allgemein gesprochen fallen diese Systeme in gewisse Kategorien, die vor langer Zeit als "Erlösung durch Glauben", "Erlösung durch Werke", "Erlösung durch Erkenntnis" bezeichnet wurden, zu denen einige noch "Den Pfad der königlichen Vereinigung" hinzugefügt haben, der durch eine natürliche Zusammenfassung der drei erwähnten Formen die "Erlösung" darstellt.

Jedes Religionssystem legt also Nachdruck auf den einen oder anderen "Pfad", um sich das seiner Meinung nach angenehmste Resultat rechten Lebens zu sichern. Ob nun dieses Resultat Nirvana ist oder der Himmel, Befreiung von dem sich ewig drehenden Rad des Lebens, oder Ruhe im Schoße Abrahams oder in Tat, alle stimmen in einem Punkt überein: Die Wesenheit, welche bis zur Vereinigung mit dem Göttlichen entsprechend ihrer Wahl entwickelt ist, wird auf immer von den Banden des irdischen Lebens befreit sein und in den ewigen Frieden eingehen.

Was auch immer die Gründe für diese erhoffte Vereinigung sein mögen, es gibt doch einen stets kleinen Keim der Unzufriedenheit innerhalb des wahren Zieles. Vollkommenheit ist ein entferntes und schönes Ziel, und derjenige, welchem es glückt wenigstens in seine Nähe zu gelangen, muß nach dem Naturgesetz eng mit dem Göttlichen, das im Herzen der Universalnatur liegt, verbunden sein. Er muß gottgleich oder doch nahezu ein Gott sein und muß daher, was seine weniger glücklichen Mitmenschen betrifft, wie das Göttliche sein, das alle Wesen belebt. Wie kann dann ein solches Wesen für sich selbst allein mit ewiger Seligkeit zufrieden sein, wenn die ganze Welt nach Güte und Tugend schreit? Das ist ein unvereinbarer Widerspruch. Der natürliche Ausdruck der Liebe ist das Opfer, und nur durch das Opfer der persönlichen Selbstheit kann eine Seele ihre universale Selbstheit erlangen.

Das Opfer Jesu liegt nicht in seinem Tode für die Menschheit, sondern in seinem Leben. Sein Tod war eine Rückkehr zu seinem Vater, sein Leben eine lange, mühevolle Anstrengung, das Licht seiner Lehren und sein Beispiel der Welt zu übermitteln. Dies schließt eine kühne Anstrengung in sich ein, die blinde Anhänglichkeit an die Formen und Rituale, die längst ihre Bedeutung verloren haben, abzuschütteln und den Dogmatikern seiner Zeit das Licht des Verstehens zu bringen - das alles bedingt die Inkarnation eines Menschen auf Erden, der durch das physische Leben nichts zu gewinnen hatte.

Der Buddha verblieb auch nach seiner Erleuchtung, als er hier nichts mehr zu lernen hatte, auf Erden, um seinen Anhängern das Gute Gesetz zu lehren. Unter den Völkern des Ostens werden, so hoch auch die Buddhas verehrt werden, noch höher jene geachtet, die in reinstem Altruismus innerhalb der Erdensphäre verbleiben, auch wenn ihre vervollkommnete individuelle Evolution sie zu ewigem Frieden berechtigt. Das sind die Bodhisattvas, deren Essenz Weisheit, und deren Natur Mitleid ist. Ihr erhabenes Beispiel findet zu wenig Beachtung, denn es liegt in ihrer Natur, die Verborgenheit und Zurückgezogenheit zu suchen und die Arbeit für die Erleuchtung der Menschheit hinter einem Schleier der Verschwiegenheit zu vollbringen.

Gemäß der alten Lehre kann das Ziel des göttlichen Altruismus nicht erlangt werden, da die Menschheit noch nicht soweit ist, auf die Früchte großer Anstrengung zu verzichten, nachdem die ganze Natur ungezählte Zeitalter lang auf das selbstsüchtige Erlangen spirituellen Wissens gerichtet war. Selbstaufopferung ist das edelste Ziel eines Menschen, der sich zum Mitarbeiter des Lebenszweckes gemacht hat, nachdem er selbst einen gewissen Grad von Kenntnis des evolutionären Planes der Natur erlangt hat. Es gibt daher nur einen Pfad der Erleuchtung, der jedoch am Ende zweifach ist. Der erste ist Befreiung, während der zweite Entsagung ist - jener erhabene Pfad der Christusse in jedem Zeitalter.

Was in uns ist es, das uns instinktiv in Liebe und Bewunderung zu dem Ideal der Selbstaufopferung hinzieht? Es würde großsprecherisch sein anzunehmen, daß unsere gegenwärtige unvollkommene menschliche Natur für einen solchen Schritt vorbereitet sei. Es gibt jedoch Augenblicke, wenn das Gemüt still ist, in denen das Herz spricht und wir schwach einen leisen Wink über den letzten Zweck des Lebens empfangen. Zu solchen Zeiten erkennen wir das Zwingende des göttlichen Kernes unseres tiefsten Bewußtseins, den Drang, willige Agenten des inneren Gottes zu werden. In solchen Augenblicken werden unsere persönlichen Leben in ihrem genauen Verhältnis zu dem kosmischen Hintergrund der Ewigkeit und unsere kleinen Selbste als von der Unendlichkeit abhängende Tröpfchen gesehen. In folgendem liegt mehr als ein intellektueller Beweis: wir empfinden in unserem tiefsten Innern, daß wir in unserem Aufbau essentielle Teile des tiefen göttlichen Selbstes sind und seine Absicht als Freiwillige in den Armeen des göttlichen Lebens erfüllen.