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Der Weg, den er ging

Wir in unserer geschäftigen modernen Welt haben größtenteils vergessen, daß Apollo einmal an das Tor des Königs Admetus klopfte und in dessen Dienste trat. Und doch ist jene alte griechische Erzählung ein Symbol für eine Begebenheit, die sich mehr als einmal in der Geschichte des Menschen auf Erden zugetragen haben muß. Apollo - so erzählt die Geschichte - hatte die Zyklopen erschlagen und wurde für diese Tat von seinem Vater Zeus dazu verdammt auf die Erde hinabzusteigen, um für den Zeitraum eines Jahres bei den Sterblichen niedrigen Dienst anzunehmen. So sammelte er seine leuchtende Pracht unter seinen Mantel, stieg herab, klopfte an die Tore, ward eingelassen und wurde Schäfer bei König Admetus von Thessalien.

Er muß in den Augen der anderen Bediensteten ein seltsamer Arbeiter gewesen sein, wenn er auf seiner Leier stundenlang wunderbare Melodien spielte oder unzählige Stunden damit verbrachte, sie Musik und Dichtkunst zu lehren oder sie in der Kunst des Heilens zu unterrichten. Unter seiner Fürsorge gediehen und vermehrten sich jedoch die Herden des Königs Admetus. Die Getreidefelder und Weingärten trugen reichere Ernten. Alles, was er mit seiner Gegenwart beglückte, gedieh und war von Schönheit und Glanz erfüllt. Als aber das Jahr zu Ende war, verschwand der neue Schäfer ebenso geheimnisvoll wie er gekommen war. Die Arbeiter verließen die Felder und sahen sich verwundert an, sie wußten, daß ein Gott ihren Weg gekreuzt hatte.

Diese alte Erzählung enthält Dinge, die andeuten, auf welche Weise der Menschheit spirituelle Lehren gegeben werden. Das Erscheinen Jesu, sein kurzer Aufenthalt auf Erden, sein Segen für alles, das ihn umgab, liegt auf der gleichen Linie. Auch die bekannten Verse aus dem Johannes Evangelium deuten auf eine Parallele hin: "Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns"; "Ich bin gekommen, damit sie Leben haben möchten, und daß sie es in größerer Fülle haben möchten"; "Ich bin der gute Hirte, der gute Hirte läßt sein Leben für die Schafe."

Wenn wir verständnisvoll auf das religiöse Leben anderer Zeiten und Völker zurückblicken, so erkennen wir, daß das Göttliche, den zyklischen Zeiten entsprechend, die Erde in der Person eines großen Lehrers berührte, dessen Lehren grundlegend für die gesamte Menschenfamilie waren, die aber für die Gruppe herausgegeben und bestimmt waren, zu der er gekommen war. War er ihren Augen dann wieder entschwunden, so hatte er seine Anhänger unendlich reicher an Hoffnung zurückgelassen und mit der erneuten Bestätigung, daß mit Hilfe der Lehren, die reiche Gelegenheit für Wachstum und Erleuchtung boten, alles wohl bestellt ist. Alle großen Zeugen der Geschichte, die Literatur, Religionen und Volkstraditionen behüten einige dieser Wahrheiten, die durch die Heilande aus der hinter und in allem bestehende Wirklichkeit hervorgekommen waren. Der Geist der Religion in Essenz übersteigt die Grenzen der Glaubensbekenntnisse und örtlichen Glaubensformen und sieht die allen Völkern eigene Annäherung an das Göttliche, eine Annäherung, die ihrem Charakter entspricht und die für sie richtig ist. Aber die Göttlichkeit, die sie meinen, und die Gottheit, die uns veranlaßt, unser Bestes zu tun, sind ein und dasselbe.

Was unsere westlichen Völker anbetrifft, so hat Jesus der Christus in den drei gewichtigen Jahren seiner Mission eine Kettenreaktion ausgelöst, die uns noch heute veranlaßt zu versuchen, einander zu lieben, zu vergeben und für andere das zu tun, wovon wir wünschten, daß sie es für uns tun möchten. Aber wir haben, wie es scheint, seiner anderen Botschaft: "Ihr seid Götter!" wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Auch beachteten wir nicht, daß er denen, die zu ihm kamen, die Kraft verlieh, Söhne Gottes zu werden, wie er selbst ein Sohn Gottes war. Vielleicht haben wir noch nicht gewagt, ihn beim Wort zu nehmen und haben die Bedeutung in den herrlichen Gleichnissen noch nicht enträtselt. Aber laßt uns Zeit... Es gibt gewisse Jahreszeiten, von denen eine zu Weihnachten und eine andere zu Ostern ihren Höhepunkt haben und an denen wir wieder dem Glanz, den Jesus für uns hinterlassen hat, näher kommen und aufs Neue erkennen, daß das Göttliche unseren Weg kreuzte. Daher hört die spirituelle Belebung, die den Völkern überbracht wurde und die hinterlassen wurde, um unter ihnen zu arbeiten, nicht auf, sondern sie fängt an, sich in dem Maße zu offenbaren, in dem die Menschheit in ihrem Wachstum fähig wird, ihren Einfluß zu empfinden.

Gautama der Buddha brachte die Menschen zum Nachdenken - über die Vergänglichkeit aller sichtbaren Dinge und über die Vergänglichkeit menschlicher Einrichtungen, ja sogar über die Vergänglichkeit des Menschen selber in irgendeiner Phase oder Beschaffenheit - und sie denken so noch bis auf den heutigen Tag. Aber gleichzeitig lehrte er Ehrerbietung vor allem Leben und rechte Lebensführung. Der Westen hat in den vergangenen Jahren mit Aversion auf die Idee der Vergänglichkeit als eine traurige, niederdrückende und freudlose Lehre geblickt. Doch in diesem Zeitalter schnellen Wandels und schneller Veränderung ist die wechselhafte Qualität der Dinge und Einrichtungen so offensichtlich, daß jener Teil der Philosophie Buddhas gerechtfertigt erscheint. Christus selbst lehrte das Gleiche, als er in der Bergpredigt sagte: "Ihr sollt euch nicht Schätze sammeln auf Erden, da sie die Motten und der Rost fressen und da die Diebe nachgraben und stehlen. Sammelt euch aber Schätze im Himmel..."

Diese Idee erscheint in einem anderen Licht, wenn wir uns vergegenwärtigen, daß die Lehre von der Vergänglichkeit nicht das Herz und der Kern von Buddhas Lehre, sondern eine Art Nebengedanke ist, der zu dem erweiterten Begriff über das Universum und den Verpflichtungen gehört, die der Mensch ihm gegenüber und in ihm hat. Wie Sir S. Radhakrishnan in seiner Abhandlung über "The Teaching of Buddha by Speech and by Silence" (Die Lehre Buddhas vom Reden und Schweigen) ausführt, wonach alles ein Werden und Vergehen ist, findet diese Lehre ihre Parallele in einer kürzlichen Entdeckung der modernen Wissenschaft, nach der das gesamte Universum nur eine Aufeinanderfolge von Ereignissen ist. Er selbst tat den denkwürdigen Ausspruch: "ein beständiger Wechsel."

Der wahre Kern der Lehre Buddhas ließe sich als die Lehre von Dharma bezeichnen, das sich als das Wahre in allen Dingen und in der Menschheit als höchste Pflichterfüllung offenbart. Denn, indem wir unsere natürliche und einfache Pflicht erfüllen und nicht den Befehlen halsstarriger Wünsche folgen, bringen wir tatsächlich die höchste Realität auf Erden zum Ausdruck. Wenn wir in diesem Teil des Denkens nachforschen, der für uns von den großen Wohltätern aller Zeiten aufgebaut wurde und nach einer für das Alltagsleben wirklich passenden Regel suchen, werden wir kaum einen Gedanken finden, der inspirierender wäre oder eine größere Bedeutung für rechtes Handeln hätte.

Ein anderer alter Begriff, der noch heute lebendig ist, ist der, der von den Zoroastern der prähistorischen persischen Rassen zu uns gekommen ist: die umfassende Philosophie der Zweiheit in Natur und Mensch, das Positive und Negative, Licht und Finsternis, das Aufbauende und Zerstörende, das heute so leicht sowohl in unserer Weltlage als auch in uns selbst wiederzuerkennen ist. Aber diese Philosophie hinterläßt keinen Zweifel in bezug auf den Endsieg des Aufbauenden über das Zerstörende, denn das Böse enthält in sich nicht die Substanz der Dauer.

Die Anhänger Zoroasters halten das heilige Feuer noch am Leben, das sie als Symbol der Göttlichkeit und des göttlichen Strahles im Menschen kennen und das nur durch Liebe, Glaube und "den willigen Gehorsam eines verständnisvollen Gemütes brennend erhalten werden kann." Ebenso wichtig sind gute Gedanken, gute Worte und gute Taten, denn wenn die Bestrebungen letzten Endes nicht im Handeln ihren Ausdruck finden, wird die heilige Flamme nicht richtig genährt. Hinsichtlich der zwei Pfade, die Ahura-Mazda, der Erhabene, für die Nachfolge der Menschen gezeigt hat, muß jeder Mensch vor allem vollkommene Freiheit der Wahl haben, um zu bestimmen, welchen Weg er gehen will, denn nur so allein kann er wahre Seelenstärke gewinnen. Dieses letztere wird, dem gelehrten Schüler Zoroasters, Irach J. S. Taraporewala, entsprechend, als die edelste Lehre Zarathustras betrachtet.

Weitere Ströme quollen der prähistorischen Reihenfolge nach aus dem unerschöpflichen Urquell des Göttlichen von Hermes und von Orpheus und in China durch den geheimnisvollen Lao-Tse, der als alter Mann nach Westen verschwand und als sein Vermächtnis der Menschheit das hinterließ, was die Chinesen "die blaue Perle der Unsterblichkeit" nennen, die im Begriff des Tao universale Übereinstimmung und Harmonie bedeutet, und was den Menschen anbetrifft Weisheit und Tugend darstellt; im rechten Verständnis der Regel: "Der Pfad des Himmels ist, sich nicht zu sträuben."

Wo immer wir in den Lehren, denen alle großen religiösen Gruppen innerhalb der menschlichen Familie folgen, forschen mögen, finden wir, daß jede Gruppe in irgendeiner Epoche ihrer Geschichte eine Inkarnation des Göttlichen erfahren hat. Die zusammengesetzte Natur des menschlichen Lebens auf dieser Erde, die unendliche Verschiedenheit der Charaktere, sowohl physisch wie mental und temperamentmäßig - sie alle können niemals zu einem einzigen Schema verschmolzen werden. Aber je tiefer wir hinter die äußere Erscheinung eindringen, desto näher kommen wir zu jener Einheit, die so sehr ersehnt, aber so wenig verstanden wird. Wir haben jedoch kaum den Saum der Forschung berührt, die eines Tages die verschiedenen Philosophien vereinen und außerdem zur Offenbarung bringen wird, daß sie in ihrer ursprünglichen Reinheit einer gemeinsamen Quelle entspringen und von verschiedenen Boten überbracht worden sind. Denn wir dürfen sicher glauben, daß die schützenden Gottheiten niemals irgendeinen Teil der Menschlichen Rasse vergessen noch vernachlässigt haben.

Bei uns nimmt die Erkenntnis überhand, daß dem ganzen Leben ein universales göttliches Gesetz äußerster Liebe und Harmonie zugrunde liegt, an dem ein Teil unserer eigenen Natur aktiv teilnimmt. Die Führer der Menschen, die von Zeit zu Zeit aufgetreten sind, um die Strömungen des religiösen Lebens zu reinigen und den Geist und die Lehren der Erlöser zu verewigen, müssen sicherlich ihre Inspiration aus dieser schöpferischen Quelle empfangen haben und alle großmütigen Handlungen bis herab zu den allergeringsten müssen gewiß den gleichen Ursprung haben. Daher wird kein Mensch außerhalb des göttlichen Kreises stehen gelassen. Die Geschichte ist von Berichten über Männer und Frauen erfüllt, deren Existenz ihre eigene Generation und zuweilen auch künftige Generationen erleuchtet und beglückt hat, ähnlich wie Apollos flüchtiges Verweilen unter den Menschen eine leuchtende Spur hinterlassen hat. Wir sind noch immer entzückt über Musik, Kunst, Bildhauerei, Poesie und Prosa, die von Händen und Köpfen stammen, die längst vergangen sind. Die großen Gesetzgeber, zu denen noch die Wissenschaftler und die Erfinder auf allen Gebieten kommen, haben die Welt durch ihre Anwesenheit bereichert hinterlassen.

Und so kommen wir schließlich bis zu uns selbst, dem Durchschnitts-Individuum, denn wo sollen wir die Linie ziehen? Jeder von uns, wie bescheiden wir uns auch zu einer künftigen Großtat verhalten mögen, kann zu seinem eigenen Lebenskreis etwas von seinem ihm eigenen besonderen Genius beitragen und die Welt um einen Grad reicher zurücklassen, so daß selbst von dem Durchschnitts-Menschen, wenn er dahingegangen ist, gesagt werden kann: "Er hat diesen Weg beschritten."