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Echte und falsche Selbstentfaltung

Viel Eigenartiges wird von denen unternommen, die aus einem Gefühl persönlicher Begrenzung heraus versuchen, ihre Entwicklung auf diese oder jene Weise zu beschleunigen. Die Entfaltung des Selbstes wirkt auf die Menschen in verschiedenster Weise anziehend und wird von einigen als eine Pflicht angesehen, und dennoch weichen auch deren Wege weit voneinander ab. Das alte Sprichwort "alle Wege führen nach Rom" trügt, da jeder Weg in zwei Richtungen verläuft; und der Wanderer wird seinen Bestimmungsort nicht erreichen, selbst auf dem richtigen Wege, wenn er in der falschen Richtung geht. So muß es auch mit dem Wege, der zur Weisheit führt, sein: es mag zwar zutreffen, daß man auf allen Wegen Erfahrungen sammelt, aber diese Erfahrungen können sich verheerend auswirken, wenn sie dem, was die Seele wirklich benötigt, entgegenstehen. Deshalb lohnt sich der Versuch, eine vernünftige und sichere Grundlage zu finden, auf der man stehen kann, ehe man es unternimmt, eine der zahlreichen Methoden physischen, mentalen oder spirituellen Wachstums zu beurteilen oder gar auszuüben.

Jede echte Selbstentfaltung oder jeder Fortschritt ist eine innere Angelegenheit, und es ist gesagt worden, daß derjenige, der den "uralten Pfad" beschreiten will, erst damit eins werden muß. Das ist fürwahr kein Leichtes, denn sobald wir uns ernsthaft mit diesem Gegenstand befassen, kommt uns die Frage: "Was verstehen wir unter Selbst?" Die Schwierigkeit der Antwort liegt darin, daß wir selbstverständlich überzeugt sind, alles von uns zu wissen, denn wir zweifeln keinen Augenblick an unserer eigenen Identität. Doch der weise alte Sokrates warnte immer wieder: "Mensch, erkenne dich selbst!" Dieses Selbst, über das wir uns so sicher sind, erweist sich, sucht man es zu begreifen, als eines der am schwersten zu fassenden Dinge der Welt. Trotzdem wurde es von den fähigsten Geistern aller Zeiten studiert, und die Erkenntnisse, die sie daraus gewonnen haben, zeigen deutlich zwei Wege des Verstehens; der eine ist universal und gehört zu dem spirituellen Selbst, das mit allem eins ist; der andere ist begrenzt, weil er das persönliche Selbst betrifft, das sich vom anderen unterscheidet.

Zum besseren Verstehen wird manchmal die Sonne angeführt, die in alle Richtungen scheint und deren Bild mit größerer oder geringerer Klarheit von zahlreichen Gegenständen reflektiert wird. Diese Reflektionen haben einen gemeinsamen Ursprung, aber jede ist von allen anderen getrennt und verschieden. Um den Ursprung des Lichtes zu sehen, muß der Betrachter den reflektierten Bildern den Rücken zukehren und sich zur Sonne wenden, von der sie stammen. Genauso ist es mit dem Selbst. Wir müssen uns vom Verlangen des persönlichen Selbstes abwenden, wenn wir den Pfad suchen wollen, der zur Selbst-Erleuchtung führt. So wie die Sonnenstrahlen in der einen allerhöchsten Quelle solarer Energie entstehen und doch in jede Richtung hinaus strahlen, um sich in zahllosen Spiegelflächen zu reflektieren, so befinden auch wir Menschen uns auf vielen und verschiedenen Wegen der Entwicklung. Wenn wir lediglich die reflektierten Abbilder entlang dem Wege suchen, werden diese uns nicht nur verwirren, sondern auch unweigerlich weiter und weiter von der Quelle des Lichtes wegführen. Wenn wir aber auf unserem Wege umkehren und der "wahren Sonne" in uns entgegensehen, dann werden wir entdecken, daß der "Pfad eins ist", wie differenziert auch jeder von uns ihn beschreiten mag.

Bedauerlicherweise gibt es zu jeder Zeit einige, die gern Führer sein möchten, deren Rat jedoch nicht immer richtig oder nützlich ist, während die echten Lehrer rar sind. Doch die Wahrheit über die Menschen ist in der Welt nie ganz verloren gegangen, weil von alters her bis zur Gegenwart große Seelen erschienen sind, Buddhas, Christusse, die verpflichtet waren fortwährend dahin zu wirken, die Fackel der spirituellen Weisheit emporzuhalten. Wenn wir uns damit beschäftigen, können wir deutliche Hinweise von der Existenz dieser beiden sich entgegengesetzten Systeme erkennen. Das eine stellt die Erlangung persönlicher Kräfte und Erkenntnisse an erste Stelle und den Dienst an der Menschheit an die zweite (wenn diesem überhaupt ein Platz zugestanden wird); das andere macht das Mitleid zum Grundton seiner Bemühungen und hält das "Leben zum Wohle der Menschheit" für den ersten Schritt.

Genauso mag es im Herzen eines jeden, der nach Selbsterkenntnis strebt, zwei Arten der Aspiration geben. Die eine entsteht aus dem Wunsch, sich über andere zu erheben, Kräfte oder Fähigkeiten zu erlangen, die ihn von der Allgemeinheit unterscheiden; die andere entspringt dem mitleidsvollen Bestreben, der Menschheit zu helfen, sich von den Fesseln der selbstauferlegten Unwissenheit und Disharmonie zu befreien. Wenn diese beiden begründeten Energien nebeneinander im Gemüt vorhanden sind, verursachen sie eine Verwirrung der Ideale, aber früher oder später müssen wir zwischen beiden wählen. Keiner kann gleichzeitig zwei Wegen folgen, und wenn wir zu lange hin und her schwanken, können wir unseren Weg sogar ganz verlieren.

Auf beiden Wegen ist Selbstdisziplin notwendig, aber das gesamte Leben wird von der Wahl, die wir zwischen den beiden Idealen treffen, beeinflußt werden - eine Wahl, die in einer beständigen Auslese der Gedanken, Motive und Handlungen besteht. Man kann auch sagen, daß Wissen und Kräfte auf jedem der beiden Wege erworben werden, aber auf dem einen ist das Verlangen nach ihnen von persönlicher Art und hat die Tendenz, den einzelnen zu verherrlichen, was ihn aus dem sympathischen Zusammensein mit seinen Mitmenschen absondert, während auf dem anderen die aus der Selbstüberwindung stammende Kraft ihn vielleicht "als nichts in den Augen der Menschen" erscheinen läßt, sie es ihm aber dennoch ermöglicht, ihre Herzen zu bewegen. Wenn jemand den zuletzt genannten Weg wählt, fordert er seine eigene Seele auf, ihn auf die Probe zu stellen. Er wird aufgefordert, seine Ernsthaftigkeit zu beweisen, zu zeigen, was er mehr liebt, die Menschheit oder sich selbst.

Unglücklicherweise wird das edle Ideal der Selbstlosigkeit manchmal in einer Weise betont, die den ernsthaften Sucher beunruhigt und ihn veranlaßt, an den von ihm erlangten Fähigkeiten zu zweifeln. Er wird zu der Ansicht verleitet, daß man, wenn man den Weg der Dienstleistung wählt, eine Art melancholischer Asket werden müsse. Nichts könnte von der Wahrheit weiter entfernt sein, denn es kann in einem sogenannten Asketen eine ebenso starke Selbstsucht sein wie in einem, der den irdischen Genüssen zugetan ist. Die eigenen Interessen und Vorurteile zu vergessen ist in Wahrheit ein Pfad der Befreiung und Freude. Wer könnte so beschwingt sein wie ein Mensch, der seine eigenen Sorgen vergessen hat? Der Impuls, sich zu unseren höchsten Möglichkeiten zu erheben, sich von unseren eigenen unruhigen Wünschen zu befreien und den Ehrgeiz unserer niederen Natur zu beherrschen, wird in dem, dessen Herz von Mitleid beflügelt wird, mit der Zeit zu einer unbewußten Gewohnheit. Dann gibt es keine extreme Anstrengung, keine Kasteiung, denn er wird durch die Erkenntnis seines wahren Selbstes und durch seine wachsende Fähigkeit, mit anderen mitzufühlen, gestärkt. Die großen Lehrer aller Zeiten haben gelehrt, daß die Erhebung der Menschheit ein Vorgang der gradweisen Erleuchtung durch das Höhere Selbst ist, das das niedere mit einer größeren Einsicht und mit einer umfassenderen Anteilnahme erfüllt.

Der Wunsch, die Realitäten des Lebens zu erkennen, ist für den Menschen natürlich und richtig; der Wert einer solchen Erlangung wird jedoch von dem zugrundeliegenden Motiv des Suchers abhängen: denn das Motiv, das die Suche veranlaßt, geht der Frage voraus und färbt das Gemüt, so daß das ganze erlangte Wissen den Farbton jener Absicht trägt. Ist sie selbstsüchtig, dann ist es klar, daß nur eine begrenzte Auffassung von der Realität erlangt wird. Wenn der Sucher jedoch von einer alles umfassenden Sympathie angetrieben wird, dann wird sein Gemüt mit dem weiten Bereich universaler Prinzipien in Einklang stehen.

In der heutigen Zeit ist die Zahl der echten Sucher, verglichen mit der Menge neugieriger Interessenten für die verborgene Seite der Natur, klein. Das Ergebnis ist, daß der Wunsch zur Nachforschung den niedrigen Ansprüchen entsprechend, zahlreiche Lehrmeister für Selbst-Entfaltung hervorgebracht hat, von denen viele nur wenig mehr als Betrüger sind. Viele verdienen Geld, indem sie einer gefährlichen Neugier Vorschub leisten, anstatt einen gesunden Rat zu geben und vor den schädlichen Wirkungen zu warnen, die bei dem Versuch entstehen, die psychischen Kräfte des Menschen bevor es an der Zeit ist zu aktivieren. In unserer gegenwärtigen Zivilisation ist die Anwendung der Selbstdisziplin nahezu so vollständig verschwunden, daß kein Sucher, der nur nach Kräften strebt, gewillt ist, sich dem dazu notwendigen schweren Training zu unterziehen. So verzichtet der geldgierige Händler in "geheimen Wissenschaften" auf die vorausgehenden und vorbeugenden Maßnahmen und beginnt mit dem unglücklichen Schüler einen Lehrgang mit speziellen Atemübungen und mentaler Schulung, die mit Leichtigkeit Halluzinationen verschiedenster Art zustande bringen - zu der raschen Zufriedenheit des Schülers und später zum Ruin seines Wohls und seiner Gesundheit. Mißbräuche dieser Art werden fälschlicherweise Selbstentwicklung genannt; ein passenderer Ausdruck wäre Selbstzerstörung.

Es mag willkürlich erscheinen, lediglich zu behaupten, daß wahre Selbsterkenntnis für jenen unmöglich ist, dessen Ziel Erhöhung und Verherrlichung ist, aber nach dem Gesagten leuchtet die Behauptung ein. Die Methoden des Scharlatans intensivieren lediglich die psychische und physische Eitelkeit, die das Licht der spirituellen Weisheit ausschließt und den Zerfall der Seele beschleunigt. Bei solchen Leuten, deren Gemüter undiszipliniert sind, die aber trotzdem sowohl hohe Ideale und großmütige Impulse als auch persönlichen Ehrgeiz besitzen, flattert das Bewußtseinszentrum zwischen der niederen und höheren Natur hin und her, identifiziert sich der Reihe nach mit dem jeweiligen Zustand und nimmt die ganze Zeit an "das bin Ich". Daher die Unsicherheit solcher Charaktere, die oft unaufrichtig und falsch erscheinen, was hauptsächlich einem Mangel an Selbstkontrolle und einem mangelnden Verständnis dessen, was der Mensch wirklich ist, zuzuschreiben ist.

Echte Selbstentwicklung muß also durch Erlangung von Erkenntnis über das Höhere Selbst und die Unterordnung des niederen unter seinen natürlichen Herrn erstrebt werden. Wenn das erreicht ist, ist ein Mensch wirklich sein eigener Herr. Die große Fallgrube bei seinem Versuch ist die Selbsttäuschung, denn der Mensch ist gleichzeitig sein eigener Feind und sein eigener Retter. In der Stimme der Stille befindet sich eine bemerkenswerte Stelle, in welcher, während Unwissenheit dem Tode gleichgesetzt wird, gesagt wird "selbst die Unwissenheit ist besser als Verstandeswissen, wenn es nicht von Herzensweisheit erleuchtet und geführt wird". Es muß deshalb klar sein, daß kein Mensch, der nachdenkt, irgend ein System der Selbst-Entwicklung gutheißen kann, das die Persönlichkeit hervorhebt und jenes Sondersein begünstigt, das seit Tausenden von Jahren der Kurs der Menschheit gewesen ist.

Das Erwachen des Intellekts und des Egos ist kennzeichnend für die Aufgeschlossenheit des Menschen im Sinne der Verantwortung, der dem Tierreich fremd ist. Das Erwachen des Höheren Gemütes und das Gewahrwerden "der Identität aller Seelen mit der Überseele" ist der Schritt, durch den der Mensch bewußt in spiritueller Evolution fortschreitet. An diesem kritischen Punkt in unserer Geschichte steht die Menschheit an einer Wegkreuzung, der eine Weg führt zu einem höheren Typ der Menschheit, der andere führt zurück zu einem Zustand elementarer Barbarei. Wir müssen uns jetzt, ob wir wollen oder nicht, für einen der beiden Wege entscheiden: entweder für jene Art der Selbstentwicklung, die zu Absonderung und Degeneration führt, oder für die Straße des Mitleids, die aufwärts und weiter führt zu einer edleren Auffassung des Lebens und der Evolution.