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Der unparteiische Buchhalter

In Elisabeth Gaskells unverwüstlichem englischen Klassiker Cranford erinnert sich Miss Matty, daß ihr Vater sie einst ein Tagebuch mit zwei Spalten führen ließ, in der einen sollte sie die Ereignisse eintragen, von denen sie meinte, daß sie sich tagsüber ereignen würden, und am Abend sollte sie dann in der anderen eintragen, was sich wirklich ereignet hatte.

Miss Matty kommt dabei zu dem Schluß, "daß es für manche Menschen ziemlich traurig wäre, wenn sie auf diese Weise ihr Leben überblicken würden" und fügt hinzu, "ihr eigenes sei so ganz anders verlaufen, als sie es erwartet hatte". Wie oft entspricht das Leben nicht unseren Erwartungen! Aber kann unser Leben wirklich so unterschiedlich von dem sein, was wir sind und was wir gewünscht haben? Maeterlinck schrieb:

Laßt uns nicht vergessen, daß nichts über uns kommt, das nicht unserer Natur entspricht. Wenn Judas am Abend hinausgeht, werden seine Schritte zu Judas hinführen; laßt Sokrates seine Türe öffnen, und er wird Sokrates auf der Schwelle schlafend finden.

Es ist ein allgemein verbreiteter Fehler, daß wir nicht begreifen, daß jeder selbst für die Gestaltung seines Schicksals verantwortlich ist; aber mit Hilfe unserer Gedanken und Handlungen bauen wir beständig Stein um Stein ein Charaktergebäude, das die 'Art' der Ereignisse bestimmt, die auf uns zukommen werden. Zuweilen achten wir zu wenig darauf, wie die Steine beschaffen sind, die wir aufnehmen und verwenden, ebenso machen wir uns wenig Gedanken darüber, was für ein Gebäude es ist, das wir so geschäftig aufbauen. Wenn uns dann die Ereignisse später zwingen schärfer hinzusehen, erkennen wir das von uns Geschaffene nicht, so "verschieden und unerwartet" ist es geworden, so verschieden und unerwartet, wie die Wirklichkeit des Tages der armen Miss Matty. Oft sind wir über die unangenehmen Resultate unseres Bauens entsetzt und denken sicherlich, daß wir nicht die Urheber dieses Mißgeschicks, dieses Unglücks sind. Wir starren bestürzt auf das schreckliche Gebäude, haben schon lange vergessen, mit welch schlecht gewählten "Bausteinen" aus Gedanken, Worten und Handlungen es errichtet wurde und weigern uns zu glauben, daß es vom Entwurf bis zur endgültigen Fertigstellung ganz unsere eigene Schöpfung ist.

Wir sagen, nicht wir, sondern etwas von uns getrenntes hat das getan - vielleicht die Vererbung oder die Umgebung, ein schlimmes Geschick, Entbehrung. Diese waren die wirklichen Bauleute und Verursacher! Oder wir nehmen an, daß, wenn wir der Schöpfer wären, wir dann nicht freiwillig, nicht nach unserem eigenen freien Willen gebaut haben. Etwas außerhalb liegendes hielt und führte unsere Hände, und in der Gewalt dieses 'Etwas' wurden wir nichts weiter als bloße Werkzeuge. Das "Schicksal" ist uns entgegengetreten, und deshalb sind wir nicht verantwortlich, sondern auch nur Opfer der Katastrophe, die wir heraufbeschworen haben. Einerseits ist das natürlich wahr, denn wir können nichts Unrechtes tun, ohne uns und anderen weh zu tun, aber unsere Verantwortlichkeit für den Schaden, den wir und andere erleiden, anzuerkennen, scheint schwieriger zu sein, als in Abrede zu stellen, daß wir selbst verantwortlich sind.

Verantwortlich, Verantwortlichkeit, diese Worte benützen wir häufig und glauben, ihre Bedeutung zu verstehen. "Verantwortliche Person; ... nicht verantwortlich für seine Handlungen ..." Wir wissen auch, was diese Redewendungen bedeuten, und sie scheinen sich widersprechende Feststellungen zu sein, die nicht in einem Satz auf ein und dieselbe Person angewandt werden können. Wer hat je von einer "verantwortlichen Person, die für ihre Handlungen nicht verantwortlich gemacht werden kann" gehört? Ein absurder Widerspruch, es sei denn, die verantwortliche Person hätte ihre unverantwortlichen Handlungen im Schlafe oder unter hypnotischem Einfluß ausgeführt! Doch das Absurde liegt gerade darin, daß wir, wenn schreckliche Ereignisse eintreten, das Gefühl haben, daß diese nie über uns hätten kommen dürfen.

Wir fragen, "was habe ich getan, um das zu verdienen"? Das ist eine rhetorische Frage, die eine glatte Zurückweisung enthält und nur die Antwort verlangt: "Natürlich nichts." Gleichzeitig enthält sie jedoch eine stillschweigende Annahme einer Verantwortlichkeit für die gegenwärtige unglückliche Sachlage. "Was habe ich getan, um das zu verdienen?" deutet entschieden auf die Wahrscheinlichkeit hin, daß irgendeine Handlung in der Vergangenheit die gegenwärtige unerwünschte Wirkung ergab. Individuelle Verantwortung, denn jede Ursache muß eine Wirkung hervorbringen, so kann man die buddhistische Lehre von Karma auch beschreiben. Es ist das, was uns täglich tatsächlich widerfährt, statt dessen, was wir annahmen, was sich ereignen sollte, worüber Miss Matty von Cranford so traurig war und was sie so verwirrte. Jeden Tag in unserem Leben wird das, was wir am Morgen erwarten und erhoffen, durch Karma zu dem werden, was "sich wirklich ereignete", ehe wir unser müdes Haupt auf die Kissen legen.

Wenn die tatsächlichen Ereignisse des Tages mißlich oder unerwünscht waren, so können wir sie von zwei Gesichtspunkten aus betrachten und wählen, denn kein launenhafter Gott des Schicksals waltet über uns, um uns zu diesem oder jenem anzutreiben, wie tröstend ein solcher Glaube auch sein mag! Wir können wählen und das vor uns liegende ganz bestimmte Problem anpacken oder ihm ausweichen. So betrachtet wird jedes eintretende Unglück zu einer besonderen Gelegenheit und zu einer persönlichen Prüfung. Entweder umgehen wir die Verantwortlichkeit durch Lügen und indem wir uns und andere täuschen, oder wir folgen dem heroischen und anstrengenderen Pfad unser Leben in jeder Hinsicht mutig und mit Würde zu ertragen, angespornt durch den Wunsch, ohne Rücksicht auf das Resultat, das wirklich Rechte zu tun. Anfangs kann uns das wohl mehr Leid bringen. Es kann uns Entbehrung, die Kritik anderer, persönliche Demütigung und persönlichen Verlust oder möglicherweise sogar den Tod bringen. Wenn wir aber wissen, daß es der rechte Weg ist und an der Wahrheit festhalten, dann kann uns noch so viel Kummer letzten Endes nichts anderes als Gutes bringen. Unsere Leiden dienen dazu, uns jetzt und in der Zukunft zu stärken, genau wie Stahl durch Feuer gehärtet wird.

Das erste was, zu tun ist, ist festzustehen und der Lage ins Gesicht zu sehen, ganz gleich worum es sich handelt ... "zuerst muß man Herr des Ärgers werden." Die Ärgernisse im Leben sind von Fall zu Fall verschieden. Es gibt jeden Tag eine ganze Menge Ärgernisse, die jeder von uns besser überwinden sollte, wie zum Beispiel die "schwierige" Angelegenheit des täglichen Umgangs mit unseren Mitmenschen zu Hause, im Geschäft und auf der Straße. Wir sehen nicht immer ein, daß wir durch unser beständiges Beschäftigen mit den "Fehlern" und Kritisieren anderer wie Weber sind, die die fremden Fäden der Irrtümer des anderen zu ihren eigenen machen, so daß die Fäden seiner Fehler unsere eigenen werden, die dann auch uns verstricken. Der erste Fehler, den wir sehen müssen, ist wohl unser eigener; der Fehler, der beginnt mit "ich denke, ich sage, ich tue", denn "ich denke" wird zum "ich sage", das wiederum zum "ich tue" wird. Das ist eine einleuchtende Wahrheit, die wir nicht immer anerkennen. Wir hätten es lieber so ausgedrückt: "Ich dachte nur, ich sagte nur, er trieb mich dazu." Zu einem verderblichen, Schaden stiftenden, ja grausamen Gedanken? Das hat nichts zu sagen! "Ich dachte es mir." Damit entschuldigen wir uns, indem wir erklären, "in Wirklichkeit habe ich es nicht so gemeint." Und damit ist die Sache erledigt. Aber ist sie das wirklich? Waren der verletzende Gedanke und die verletzende Rede so schwach und harmlos? Unser Denken macht uns zu Schöpfern, und wir tun jenen großes Unrecht, die wir "nur in Gedanken, nur in Worten" angreifen. Das meinte Jesus, wenn er sagte: "Wer ein Weib ansieht, ihrer zu begehren, der hat schon die Ehe mit ihr gebrochen in seinem Herzen."

Die Tatsache unserer Gedankenentwicklung und die Kraft zum Guten und zum Bösen kann nicht geleugnet werden, denn der Gedanke ist der Entwurf für die Handlung. Indem wir ihn aussprechen, kleiden wir den Gedanken in Worte, so daß er sichtbar wird, genauso wie sich die Wirkung der Elektrizität zeigt, wenn wir eine Glühbirne in die Fassung stecken. Und da der Gipfelpunkt allen Denkens und aller Worte die Tat ist, müssen wir sehr sorgfältig darauf achten, was wir denken und sagen. Manchmal werden unsere Worte bei einem anderen zur Tat. Wer kann dann sagen, "Ich habe es nur gedacht" und jede Verantwortung für die sich daraus ergebende Handlung zurückweisen? In allem, was wir denken, sagen und tun, sind wir Schöpfer, und wir können niemals einen Gedanken, ein Wort oder eine Handlung auslöschen. Wir können in Gedanken, Worten oder Taten ein großes Unrecht begehen, es als ein solches erkennen und dann wünschen nichts weiter damit zu tun zu haben. Das ist der Akt der Reue, der Anfang vom 'Freispruch'. Nachdem wir bereuten, verlangen wir nach der Schere der Absolution, damit sie uns von unseren nun bereuten Taten befreit. Das nennen wir dann Vergebung, den vollendeten 'Freispruch'. Aber diese 'Schere' kann uns ebensowenig befreien, wie eine aus Butter gemachte Schere ein Drahtseil durchschneiden könnte! Was wir an Gutem oder Bösem vollbrachten, ist so wirklich wie wir selbst und kann so wenig in irgendeine entfernte Ecke geschafft, und geräuschlos werden, wie irgend etwas anderes im Universum.

Es ist wie "der Zeiger, der sich bewegt und schreibt; und nachdem er aufgezeichnet hat weiterläuft" - und alle unsere Tränen löschen kein Wort davon aus. Es ist kein prädestinierter Finger des Schicksals, der uns die Niederschrift unseres Lebens aufzwingt. Wir sind selbst unsere Finger und schreiben unser Schicksal selbst. Wenn das, was wir schreiben, nicht gut ist und die große Harmonie des universalen Gesetzes stört, dann müssen wir die Auswirkungen des Gesetzes erdulden, bis das harmonische Gleichgewicht durch uns wieder hergestellt wurde. Diese Verantwortlichkeit besteht für immer und ist für uns alle das Letztgültige. Es gibt keine Günstlinge, kein Lob und keinen Tadel, sondern vollkommene Gerechtigkeit bis ins kleinste, bis zu dem Gewicht einer Feder in den Waagschalen von Karma, dem perfekten Buchhalter.

Als Ahnherr unseres eigenen Gedankens und unserer Handlung können wir diese nicht in einem uns selbst schützenden leeren Raum ins Leben rufen oder sie, wenn uns ihr Anblick nicht mehr gefällt, zurückrufen und gewaltsam vernichten. Wenn wir das könnten, würde, wie schon erwähnt, so etwas wie Buße und Vergebung Wirklichkeit werden. Aber das Leben ist ein Ganzes, und wir sind alle tatsächlich nur miteinander verbundene Glieder, oder wie es die Bibel ausdrückt: "Die ganze Schöpfung stöhnt und windet sich noch bis zum heutigen Tag in Schmerzen." Die Gedanken und Handlungen eines jeden beeinflussen augenscheinlich alle.

Karma, das nach unseren eigenen Angaben mit und durch uns wirkt, bringt nur das Gute oder Böse, das wir selbst hinaussandten, zu uns zurück. Es wirkt 'uns gegenüber' nicht so, wie wir oft denken, wenn wir mit dem Psalmisten von ehedem ausrufen, daß der Zorn des Herrn über uns kommt. Karma ist vielmehr "immer noch unser Stecken und Stab und unser Trost." Es gibt uns zweierlei Trost. Den 'Trost' des Guten, das wir getan haben und den strengen 'Trost' der Zeiten, in denen wir mutig und ohne zu klagen von uns begangenes Unrecht ausgleichen oder wieder gut machen. Wir wollen dieses universale Gesetz nicht zu einem System herabwürdigen, nach dem Belohnung und Bestrafung zugemessen wird. Die Liebe des Guten und Wahren zur Tugend und Wahrheit wird uns automatisch nicht nach Lohn suchen lassen, doch paradoxerweise wird die Freude an der Verwirklichung darüber hinaus in der Harmonie, die zu suchen unsere Lebensaufgabe ist, Lohn bringen. Die für uns 'heilsamen Schläge' sollten große Lektionen in dieser unserer Schule des Lebens sein - und wir können lernen, sie so aufzufassen.